Freitag, 28. August 2009

Gefängnis

Titel: Gefängnis
Autor: callisto24
* * *

Carmens Magen knurrte. Und das war gut so. Er sollte knurren. Er sollte schmerzen, sollte sich zusammenziehen, kleiner werden als eine vertrocknete Pflaume, klein genug, um den Ort, an dem er saß, in eine pervers nach innen gerichtete Wölbung zu verwandeln.
Carmen wusste, dass der Magen schrumpfen konnte. Und sie wusste auch, dass mit dem Schrumpfen der Hunger verschwand. Zu dumm nur, dass der ihrem Willen nicht gehorchte, nicht so gehorchte wie sie es sich erträumte. Denn der Hunger verschwand nicht. Die ekelhafte Gier nach Essen verblieb in ihrem Körper, verharrte in ihren Gedanken, so sehr sie sich auch bemühte, diese mit anderen, mit vernünftigen Wünschen zu ersetzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Hände sich um ihre Taille schlossen. Sie wusste, dass es möglich war. Andere aus der Gruppe hatten es ihr gezeigt. So wie sie ihr auch weitere Tricks gezeigt hatten. Wie man Essen in der Serviette verschwinden ließ, oder in der Hosentasche. Wie man nach der unentschuldbaren Sünde des nachgegebenen Heißhungers, die unerwünschte Nahrung wieder aus dem Körper bekam. Oder wie die eigene, hagere Gestalt versteckt werden konnte, verborgen unter weiter und warmer Kleidung. Denn weit musste sie sein, um den lästigen Fragen der gelegentlich auftauchenden Bekannten zu entgehen, die sich noch daran erinnern konnten, wie unförmig, wie schwabbelig sie einst gewesen war.
Warm musste sie sein, weil Mädchen wie sie ständig froren. Aber auch das war gut so. Frieren lieferte den Beweis, dass der Körper unnötige Fette verbrannte, dass er das Wenige, wohl Durchdachte an Nahrung, das sie sich gönnte, wieder loswurde. Nur eines konnte ihr die Gruppe nicht beibringen. Eine Lösung fand auch sie nicht. Eine Lösung für das, womit Carmen sich am meisten quälte. Der Gedanke daran. An das Essen. Die ständige zwanghafte Fixierung auf Nahrung, auf Speisen, roh oder zubereitet. Auf verbotene Speisen, auf Eiscreme und Schokolade. Auf Kuchen und Pommes, auf Frittiertes und mit Sahne Bestrichenes. Es waren Gedanken wie diese, die Carmen in den Wahnsinn trieben.
Sie konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr daran denken, sich nicht pausenlos, in jeder Minute, in jeder Sekunde den Geschmack auf der Zunge schmelzender Schokolade ausmalen. Das Gefühl der Zähne, die sich durch ein knackendes Gebäckstück bissen, die genüsslich kauten. Die nicht winzige Stückchen abbrachen, um die Zeit der Nahrungsaufnahme auszudehnen. Die nicht öfter kauten, als notwendig war, nur damit der Speichel floss, damit mehr Bestandteile der Speisen bereits im Mund zersetzt wurden, und damit die irrationale Hoffnung vermittelten, dass sie nicht in der verhassten Wölbung des Bauches landeten. Des Leibes, der, sobald er sich nach vorne wölbte zu einem Gegenstand des Schreckens wurde, zu einem widerlichen Anblick unter dem Carmen Höllenqualen litt. Und um den zu vermeiden, sie sich der selbstauferlegten Tortur der Essensverweigerung aussetzte, darauf verzichtete auch nur das Notwendigste, das Geringste, sogar das Kalorienärmste aller Lebensmittel zu sich zu nehmen.
Selbst ein solches wäre zu viel, blähte ihren Bauch unnötig auf, verwandelte sie in eine wandelnde Tonne, einen Schandfleck im Angesicht der Erde. Denn nicht nur der Bauch sprang jedermann wie eine Beleidigung ins Auge. Auch ihr Gesicht quoll an mit jeder Speise, die sie durch ihren Schlund rutschen ließ.
Als teigiges Mondgesicht quoll es ihr aus dem Spiegel entgegen, füllte zugleich ihre Arme und Beine mit unerwünschten Rundungen, ersetzte jedes mühsam verlorene Kilo mit hässlicher Widerwärtigkeit. Es half auch nicht, den Blick in den Spiegel zu vermeiden. Es half ihr auch nicht, den Versuch zu wagen, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Nein, so fett und ekelhaft sie sich auch fühlte, nach dem verabscheuungswürdigen Gefühl der Fülle stellte sich nur allzu rasch die Sucht nach mehr, nach viel mehr Essen ein. Sie wollte essen, essen, und das Gefühl des Hungers war willkommen, solange ihr der Anblick der Kugel vor ihrem Leib erspart blieb.
Von wegen Magersucht. Die Sucht nach Essen war es, unter der sie litt, immer leiden werde, denn mittlerweile glaubte Carmen nicht mehr daran, dass die sie ständig heimsuchenden Gedanken jemals ein anderes Thema finden könnten. Sie schwankten lediglich zwischen den Extremen, zwischen dem nagenden Hunger, und den peinlichen Selbstvorwürfen, dem Selbsthass, der mit einem schwachen Willen einher ging. Wäre sie weniger schwach, wäre sie stärker, so bliebe ihr Bauch flach, so zöge er sich nach innen, gäbe den Blick frei auf Rippen und Knochen, die noch erlaubt waren, vorzustehen. Der flache Bauch war den Hunger wert, die Besessenheit, die Besetzung der Gedanken. Er war es wert, für immer eingesperrt zu bleiben inmitten der Wände, die sie um sich selbst gebaut hatte, und die sie schützten vor den Einblicken anderer, schützten vor der Notwendigkeit sich selbst zu verlassen, über sich hinauszuwachsen. Wände, die sie sorgfältig in ihren Gedanken eingeschlossen hielten, die wie ein Gefängnis waren, kein Entkommen gewährten, keine Flucht, nicht einmal die vage Vorstellung einer Flucht zuließen. Und deshalb war es gut so. Deshalb war Carmen froh zu sein, wie sie war. Denn schließlich blieb dies die einzige Art für sie zu existieren. Zu mehr war sie nicht imstande. Mehr war sie nicht wert. Mehr hatte sie nicht verdient.
Sie wünschte nur, dass die Gedanken eines Tages ein Ende hätten.

Dienstag, 25. August 2009

Klassentreffen

Titel: Klassentreffen
Autor: callisto24


Alice hatte nie vorgehabt, ihre kostbare Lebenszeit mit einem Klassentreffen zu verschwenden. Bereits während ihrer Schulzeit war ihr klar gewesen, dass ein Klassentreffen so ungefähr das Letzte war, das sie in ihrer Zukunft sah.
Natürlich hatte sie ohnehin niemals viel in ihrer Zukunft gesehen. Die Erwartungen, die ihre Klassenkameraden still oder laut äußerten, die Pläne und Vorstellungen schienen Alice stets aus einer anderen Welt zu stammen, einer Welt, in die sie nicht eingelassen wurde. Selten spürte sie ihre Andersartigkeit derartig stark wie in den Momenten, in denen andere mit einer felsenfesten Sicherheit, von der Alice nur träumen konnte, ihren Lebensentwurf festlegten. Als ließe sich das Leben, die Entwicklung der Geschehnisse tatsächlich planen. Als habe man Einfluss auf die Dinge, die in der Zukunft warteten.
Wenn Alice daran dachte, dann nur in den negativsten aller Kategorien. Sie zweifelte nicht, dass ihre Mitschüler es schaffen konnten, ihre Pläne verwirklichten, aber sie blieb sich ebenso sicher, dass ihr eigenes Leben einem Trauerspiel gliche, dass ihre Zukunft nichts beinhalte, und vor allem nichts, das sich lohnte, guten Gewissens weiterzuerzählen.
Warum Alice also auf diesem ersten aller Treffen, nach mehr als 20 Jahren Schulabschluss auftauchte, war ihr selbst nicht klar. Nur, dass sie auf einmal dort war, zu ihrer eigenen Verwunderung und zu ihrer eigenen, spontan auftretenden Freude.
Es sollte kein Zufall sein, dass ein ausgedehnter Zeitraum wie dieser verstrichen war, bevor sich die Abschlussklasse zu einem Treffen bequemte.
Sicher gab es hin und wieder Anstrengungen, Aufrufe, doch scheiterten diese meist an dem vorherrschenden Desinteresse der potentiellen Teilnehmer.
Und nun, da Nägel mit Köpfen gemacht worden waren, nun, da sogar Alice, die Unauffällige, die Stille, mit deren Auftreten wohl kaum einer gerechnet hatte, das Gebäude betrat, wirkte alles vollkommen anders, als es jeder von ihnen wohl erwartet hatte.
Sie alle standen in der Mitte ihres Lebens, hatten diese vielleicht sogar bereits überschritten. Angabe, Illusionen und Träume verloren mit jedem Lebensjahr an Bedeutung, wurden je nach Charakter ersetzt mit Resignation oder der Hingabe an eine Karriere, ein Ziel, das alles bedeuten musste, sogar wenn es nichts bedeutete.
Alice sah sich um. Ihre übliche, eher unauffällige, wenn nicht gar schlampige Kleidung hatte sie durch eine Auswahl ersetzt, die ihr nicht ähnlich sah, an die sie seit ihrer Jugend nicht mehr gedacht hatte.
Sie trug einen Rock, einen leichten, hellblauen Sommerrock, der obwohl untypisch für ihre burschikose Art, ihr doch ein lange vermisstes, kaum noch in ihrem Gedächtnis vorhandenes Gefühl von Leichtigkeit vermittelte. Auf merkwürdige Weise fühlte sie sich beschwingt, losgelöst von ihrem trüben Alltag, und zu ihrer eigenen Verwunderung auch zurückversetzt in Zeiten, die wenngleich nicht viel zu bieten gehabt hatten, doch wenigstens den Anschein der Hoffnung in sich trugen.
Und zu ihrem Schrecken spürte sie auch die Begleiterscheinung in sich aufwallen, das niedrige Bedürfnis, sich zu verstellen, ein Bild ihrer Selbst zu erzeugen, das nicht der Wahrheit entsprach.
Lange schon war sie nicht mehr auf diese Versuchung hereingefallen. Schwer genug war es ihr gefallen, die Folgen und Auswüchse dieser tiefsitzenden Tendenz zu erkennen, abzuwägen und schließlich als des Dramas nicht würdig, dass sie unweigerlich hervorriefen, einzuordnen.
Alice war einen langen Weg gegangen, einen schwierigen Weg, der sie immer wieder gezwungen hatte innezuhalten, ihre Richtung zu überdenken und zu ändern, ihre Pläne auf den Müll zu verwerfen, und ihre Entscheidungen tief zu bereuen.
Nicht dass dieses unerwartet kam. Alice wusste immer, dass sie schwach war, wusste immer, dass der Zweifel als ihr ständiger Begleiter Hindernisse in den Weg warf, denen andere Menschen ohne sie überhaupt wahrzunehmen, geradezu spielerisch, auswichen.
Doch vielleicht und nur vielleicht behielten die Stimmen recht, die ihr erzählten, dass sie auch gewänne. Dass jede Schwierigkeit, die sie überbrücken konnte, Alice einen Schritt weiterbrachte in der Ausbildung ihrer Persönlichkeit.
Und warum sollte diese so falsch sein?
Alice hatte gehört von Klassentreffen. Sie kannte die Geschichten derer, die unglücklich zurückgekehrt waren, die ihr Leben von einer anderen Warte betrachteten, nachdem es den Vergleich mit dem Leben jener aushalten musste, die einen Ausgangspunkt für sich beanspruchten, der nicht allzu weit von ihrem entfernt war.
Und von diesem Vergleich enttäuscht zu sein, fiel nicht schwer. Selbst unter der Voraussetzung, dass jeder bestrebt war, sich das eigene Leben so perfekt als möglich zu reden.
Es war nicht schwer die Defizite zu erkennen, wenn sie wieder und wieder unter die Nase gerieben wurden. Glückliche Familien, zahlreiche gesunde Kinder, große Häuser, Erfolg im Beruf und im Privatleben beanspruchte jeder einzelne für sich. Vielleicht wurden Scheidungen verschwiegen, vielleicht Reisen aufgebauscht, Karrieren zu ballonartiger Größe gedehnt, doch für jemanden, dessen Leben dem Durchschnitt näherkam, als er es je erwünscht hatte, bedeutete die Betrachtung der Lebenswege einstiger Gleichgestellter, nur den Beginn einer andauernden Depression. Ging es doch von diesem Abend an nur noch bergab, zurück in ein Leben, das weder Erwartungen, noch hochfliegende Träume erfüllte. In ein Leben, das sich von Alltagsdrama zu Alltagsdrama hinzog, gespickt mit all den kleinen, unauffälligen und doch so zeit- und nervenraubenden Ärgernissen, die damit einher gingen.
Alice seufzte auf. Vielleicht lag genau darin ihr Vorteil. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie diese Träume nie gehegt hatte, die es ihr unmöglich machten, selbst im Angesicht eines Vergleiches enttäuscht zu sein.
Jede Karriere, jede noch so schöne Villa, jedes perfekte Kind, passte nicht zu ihr, hatte nie zu ihr gepasst und würde niemals zu ihr passen. Sie war nicht der Mensch, der sein Leben mit Zielen anfüllte. Ebenso wenig wie sie der Mensch war, der jemals erwarten konnte, auch nur eines dieser Ziele zu erreichen. Sie blendete dergleichen aus, die Vorstellung, den Traum, den bloßen Gedanken daran.
Und es funktionierte, wusste sie doch, dass jede Realität sich anders gestaltete, als das Bild von ihr.
Sie wusste, dass sie in einer Villa nicht glücklich werden konnte, wusste, dass eine Karriere, die nichts bedeutete, sie erschöpft und leer zurückließe. Und sie wusste, dass das perfekte Kind durchaus in der Lage war, sie in den Wahnsinn zu treiben.
Das war nicht ihre Welt, nie gewesen. Und so war auch die Schule nie ihre Welt gewesen, die Zukunft nicht für sie, das Leben ein Leben, das sie nicht führte.


Alice blickte sich in dem engen, dunklen Gang um, der weder einladend wirkte, noch darauf schließen ließ, dass er zu einem Ort führte, der auch nur annähernd als das passende Umfeld einer Festivität wie der geplanten durchging.
Als Alice in den Raum trat, lüftete sich das Geheimnis, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Denn zu ihrem Erstaunen erkannte Alice, dass der ebenso dunkle, als auch enge Raum, in den sie gelangte, definitiv nicht zu weitläufig bemessen war für die geringe Anzahl an Besuchern, die sich in den provisorisch aufgebauten Sitzgelegenheiten lümmelten.
Alice fühlte sich einmal mehr zurückversetzt in ihre Jugendzeit, als sie die Polster und Matratzen erkannte, die ähnlich einer lockeren Party-Ausstattung locker an die Wände stießen.
„Alice!“ Die Angesprochene drehte sich um und erkannte Birgit, die ihr eifrig zuwinkte. Sie nickte pflichtschuldig, fragte sich einmal mehr, warum dieses Mädchen… diese Frau… korrigierte sie sich, einen derartigen Narren an ihr gefressen hatte. Seit zwanzig Jahren waren sie sich nicht mehr begegnet, und doch erschien ihr die Frau um keinen Tag gealtert, zudem enthusiastischer denn je zuvor.
Die kleine Brille mit den runden Gläsern wippte auf ihre Nasenspitze, als sie zu Alice hinüberlief. Nicht einmal ihre Kleidung hatte sich geändert, doch mit einem kurzen Blick auf ihren Rock entschied Alice sich in Erwägung zu ziehen, dass auch bei der anderen nostalgische Gründe den Ausschlag gegeben haben konnten.
„Ist ja toll, dass du gekommen bist“, platzte Birgit heraus. „Das waren noch Zeiten damals, nicht wahr. Wir haben uns ja…“ Sie runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, räusperte sich dann. „Wir haben uns wohl nur einmal gesehen seit damals.“
Alice senkte den Blick und versuchte ein Erröten zu vermeiden. Es war keiner ihrer besten Momente gewesen, in dem Birgit ihr damals über den Weg gelaufen war, sie mit der ihr eigenen Direktheit und der positiven Erwartungshaltung, die sie jedem gegenüber stets zur Schau trug, nach ihrem Werdegang befragt hatte.
Alice war ehrlich gewesen, wenngleich vielleicht sogar negativer, als sie sich selbst gefühlt hatte. Andererseits, ausgestattet mit dem ausreichenden Pegel Alkohols im Blut kam einem die eigene Lage nie so übel vor, wie sie anderen gegenüber vielleicht erschien.
Birgits Augen hatten sich geweitet, und doch bemerkte Alice den inneren Schritt, den diese zurückwich, auch wenn ihr Körper diesen nicht in die Tat umsetzte.
„Wie tief kann frau sinken?“, hatte Alice mehr im Spaß gemurmelt, und doch von Birgit nichts als den Versuch einer Ermunterung erhalten.
Umso erstaunlicher, dass die andere ihr so freimütig gegenübertrat, und ohne zu zögern einen Kontakt wieder aufnahm, den Alice für endgültig abgebrochen gehalten hatte, ebenso wie alle anderen Kontakte aus dieser Zeit, an die sie sich noch erinnerte.
„Schön, dich zu sehen“, wiederholte Birgit erneut und strahlte über ihr freundliches Gesicht.
„Ist auch schön, dich zu sehen“, erwiderte Alice wärmer als sie sich verpflichtet fühlen wollte, konnte jedoch nicht umhin ihre Aufmerksamkeit von der anderen weg und auf die übrigen Gäste zu richten.
Und wie Alice zu ihrem Schrecken, ebenso wie zu ihrer Erleichterung erkennen konnte, blieben ihr die Gestalten, die sich auf den unüblichen und definitiv kaum altersgemäßen Sitzgelegenheiten tummelten, fremd. Weitestgehend fremd. Hin und wieder sprang sie eine Erinnerung an, jedoch verschwommen genug und ohne Bezug zu einem Wort, geschweige denn einem Namen, als dass Alice diese ernst nehmen konnte.
Bis sie ihn sah, Helmut. Ihr Sitznachbar über lange Jahre hinweg, ihr Freund. Und ebenso wie Birgit hatte auch er sich kaum verändert. Selbst wenn es unter dem dämmrigen Licht schwer auszumachen war, so konnte Alice doch weder graue Strähnen noch schwindenden Haarwuchs ausfindig machen.
Selbst der Drei-Tage-Bart, den er während seiner Schulzeit gewohnt gewesen war zu tragen, war geblieben. Ebenso wie seine Lässigkeit. Die langen Glieder beiläufig ausgestreckt, lehnte er gegen die Wand, vertieft in genau der Art von Scherzen aus einer anderen Zeit, an die Alice sich weigerte zu denken. Die Frauen neben ihm lachten, und Alice wand sich ab. Jedoch nur für einen Moment. Unsichtbare Fäden zogen sie zurück zu ihm, zu der Betrachtung seines Verhaltens, seiner Bewegungen, seinem Wesen, das sich in zwanzig Jahren nicht um einen Deut geändert hatte.
Und dann erblickte er sie, erkannte sie, lächelte. Alice starrte zurück, als Helmut ihr winkte, und mit wenigen, für Alice unverständlichen Bemerkungen zu seinen Sitznachbarn einen Platz für sie freischaufelte.
„Hallo.“ Ihre Stimme klang belegt und sie verfluchte sich für das Zittern in ihren Knien, über das sie sich seit Jahrzehnten erhaben geglaubt hatte.
Er nickte und reichte ihr seine Hand um sie neben sich zu ziehen. Und Alice fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als eine Berührung ihr Herz zum Flattern gebracht hatte.
Unsicher tappte sie vorwärts, ließ sich dankbar auf die Kissen sinken, zog ihre Beine an, wurde sich des ungewohnten Gefühls bewusst, dass sie einen Rock trug, dass sie ihre Beine schließen und nicht jeden Blick erlauben sollte.
„Wie geht es?“, fragte er kurz, und lächelte bereits jemanden an, der hinter ihrer Schulter auftauchte.
Alice nickte, wusste, dass Worte nicht notwendig waren, dass diese vermutlich nicht einmal wahrgenommen wurden, so wie ihre Worte selten wahrgenommen worden waren. Nicht, wenn es darauf ankam. Nicht von ihm.
Neben ihm, leise und unbeweglich, stumm lächelnd fühlte Alice sich einmal mehr zurückversetzt, zurückversetzt in ihren Albtraum, in die Zeit, das Leben, das sie überwunden, hinter sich gelassen hatte.
Sie wollte nicht, konnte nicht noch einmal dorthin. Und gleichzeitig stiegen Blasen der Albernheit in ihr auf, tanzten durch ihr Blut, erreichten ihren Kopf und erweckten in ihr das Bedürfnis zu kichern, nein, zu lachen, sich lustig zu machen über alles dies. Über die lächerliche Ansammlung mittelalterlicher Gestalten, die versuchten ihre Jugend zurückzuholen, oder – und bei weitem schlimmer – die versuchten, sich selbst und ihr Leben zu erhöhen, indem sie darauf warteten, dass andere sie bewunderten, mit leeren und bedeutungslosen Floskeln die Anstrengungen anerkannten, mit denen sie die vergangenen Jahre verbracht hatten.
Nicht notwendig. Dies war nicht notwendig. Alice brauchte das nicht, brauchte sie nicht. Sie wusste genug über sich, über ihr Leben, über die Wahrheit, um zu sehen, dass sie weiter war, als all diese Menschen, mit denen sie einst ein Klassenzimmer geteilt hatte, die Angst vor den Prüfungen, die Unsicherheit im Hinblick auf das was geschehen würde.
Kinder einer Zeit, die noch die unmittelbaren Folgen des Atomkrieges gefürchtet, die noch geglaubt hatten, dass sich die Ungerechtigkeit und der Hunger in der Weld bekämpfen ließ. Kinder für die Aids ein unbekannte Größe und der Klimawandel noch kein Begriff war.
Alice schüttelte den Kopf. Es war nicht leichter gewesen, aber vielleicht auch nicht schwerer.
Sie fand sich wieder mit den Fotos in der Hand, die sie bei sich trug. Zur Vorsicht, falls ihr die Gesprächsthemen ausgingen, falls sie selbst eine Erinnerung daran benötigte, dass es noch eine Welt außerhalb eines Klassentreffens gab, außerhalb von Erinnerung und Selbstdarstellung.
Und sie sah, dass er sie bemerkte, dass Helmuts Blicke wie von ungefähr über die Fotos wanderten, über die Savannen Afrikas, über das Elend in den Dörfern und über ihren Sohn, dessen dunkles Gesicht leuchtete in der strahlenden Sonne des Nachmittags. So viele Gesichter, so wenig zu sehen. So viel zu erklären, so wenig Gelegenheit. So wenig Interesse. Interesse ihrerseits.
Alice schüttelte den Kopf, suchte ihre Bilder zusammen. Und in diesem Moment zog Helmut sie hoch, beiläufig, und im Bestreben die Plätze zu wechseln, dem Wink der Clique nachzukommen, die sich in der gegenüberliegenden Ecke verschanzt hatte.
Und Alice hielt sich fest, hielt mit einer Hand Helmuts, mit der anderen ihre Fotos. Vielleicht ein wenig zu fest. Vielleicht ein wenig zu bestrebt, dem Mann zu folgen. Beinahe fühlte sie, wie sich Helmuts Muskeln anspannten. Glaubte zu spüren, wie dieser mit dem Gedanken rang, die unliebsame Gesellschaft, die ihm bereitwillig zu folgen schien, abzuschütteln.
Und wieder lächelte sie, folgte ihm, schmiegte sie an ihn, ein wenig zu nahe, ein wenig zu aufdringlich, bevor sie sich an ihm vorbeidrängte.
Alice nickte Birgit ein letztes Mal zu, die irritiert zu ihr aufsah, und lief beinahe leichtfüßig in Richtung Ausgang. Das hier brauchte sie nicht. Es war vorbei und vergessen. Und so war es gut. Richtig gut.

Montag, 24. August 2009

Seele

Titel: Seele
Autor: callisto24
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Seele


Die Frau zweifelte nicht zum ersten Mal an sich selbst. Der Zweifel war seit jeher ihr ständiger Begleiter. Sie erkannte ihn, sobald auch nur sein Schatten an ihr vorbeihuschte, entfernt und verstohlen, als sollte sie ihn nicht wahrnehmen, als wolle er sich vor ihr verbergen.
Die Frau begrüßte den Zweifel wie einen Freund. Er half ihr, regte sie an, entlockte ihr Geheimnisse, von denen sie nicht wusste, dass sie diese in sich trug. Denn hinter allem, was sie tat, was sie empfand, was sie dachte, standen Geheimnisse, und es blieb ihre Aufgabe diese aufzudecken und zu enthüllen, was in den finsteren Abgründen ihrer Seele schlummerte.
Wer war sie, und wichtiger noch: wollte sie dies auch wirklich wissen? Die Antwort blieb nicht selten aus, wurde fortgeschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Der Mensch war nicht gezwungen alles zu erkennen, konnte nicht in jeden Abgrund steigen, der sich vor ihm auftat.
Nichts und niemand in ihrem Leben hatte ihr je die Frage beantworten können, die eine Frage. Die Frage, auf die es ankam. Und die Chancen standen gut, dass die Antwort nicht existierte, für keinen Menschen auf dieser Welt. Sie war gezwungen, wie jeder andere zu stückeln, kleine Offenbarungen zu sammeln und zusammen zu puzzeln in der Hoffnung, dass sich der Hauch einer Erkenntnis eines Tages vor ihren Augen entfaltete. Denn winzige Erleuchtungen blitzten von Zeit zu Zeit wie Leuchtfeuer vor ihr auf, und wenn sie nach ihnen greifen konnte, bevor sie wieder verschwanden, so blieben diese wie Lichter, die in ihrem Herzen brannten.
Lichter, die sie selbst zeigten, so wie sie wirklich war. Die das Verborgene in ihr an den Tag brachten, so seltsam und so unglaublich ihr dieses im ersten Moment auch erscheinen mochte.
Sie trug all diese Persönlichkeiten in sich, all die Charakterzüge, all die widerstreitenden, sich gar widersprechenden Wesen, die ihr manchmal nicht nur unangenehm, sondern direkt zuwider waren. Es hatte lange gedauert, bis ihr klar geworden war, dass jedes dieser Wesen einen Teil von ihr selbst darstellte, einen manchmal verschütteten, doch stets wahrhaftigen Teil dessen, was andere ihre Seele nannten. Und es gab derer mehr. Unentdeckt schliefen sie ihn ihr. Aufgeweckt durch einen leisen Atemzug oder aufgeschreckt mit Hilfe einer gewaltigen Explosion zeigten sie ihr Gesicht. Manches Mal mit angeberischem Gehabe und manchmal verschämt. Manches Mal wich sie vor diesem Gesicht zurück, verleugnete seine Züge. Und manches Mal dauerte es nur, bis sie seine wahren Inhalte erkannte. Dann brauchte sie Zeit, um darüber nachzudenken, um sich dieselben Fragen wieder und wieder zu stellen, bis sie zu einem Ergebnis gelangte, mit dem es sich anzufreunden lohnte.
So war es damals gewesen, als ihr zum ersten Mal die Augen geöffnet wurden. Damals, als sie feststellte, dass die Bilder, die ihr Herz höher schlagen ließen, nur ein Spiegelbild ihrer Seele waren. Eines der unzähligen Spiegelbilder, die facettengleich eine Unbekannte formten, die sie jeden Tag von Neuem kennenlernte.
Natürlich gab es auch zuvor Gestalten und Formen in ihrem Leben, die ihr halfen, die Schmetterlinge in ihrem Bauch loszulassen, bis sie mit sanftem Kribbeln das Glück hervor kitzelten, das vielleicht nur Bruchteile von Sekunden dauerte. Doch dessen Nachwirkungen im Besten aller Fälle Jahre anhalten konnten, ihr über diese langen Jahre halfen, und ihrem Leben den Hauch an fehlender Würze verliehen, ohne den es nicht lebenswert war.
Sie hatte sie kennengelernt, die nostalgischen Spiegel, die einen Verlust ausglichen, an den sie sich niemals gewöhnen konnte. Die zukunftsweisenden Blitze, die von dem sprachen, was sie sich erhoffte, oder nicht bewusst wagte zu erhoffen.
Und die vagen Bilder einer schwebenden Vorstellung, die weder zu greifen, noch zu deuten war. Damals noch nicht.
Es hatte lange gedauert, doch nun wusste sie es, kannte den Auslöser, der ihre Wahl bestimmte. Oder die Auslöser, die sich abwechselten, die manchmal rasch auf rasch folgten, unbeständig und wenig dauerhaft wie die Schmetterlinge, die sie anzurühren vermochten.
Ein hübsch geschnittenes Gesicht reichte aus, eine glänzende Haarsträhne, die keck in die Stirn fiel. Eine Träne im Augenwinkel oder ein dunkles Geheimnis, das zu ertragen, die Figur, um die es ging, nicht mehr in der Lage war.
Die Frau liebte das Leid. Das Leid, das ihr Schönheit bescherte, das ihre Gedanken in Gang setzte, ihre Phantasie entzündete, bis sie sich von den Zwängen und Bändern der irdischen Existenz lösten, Neues erschufen. Mit viel Glück Neues, das für die kurzen, kribbelnden Momente sorgte, um die es ging.
Doch als sie sich veränderte, wuchs die Irritation. Irritation aufgrund der zufälligen, wenngleich nicht völlig zufälligen Auswahl des Gegenstandes ihrer Konzentration.
Zum ersten Mal sah sie nicht mehr sich im Spiegel. Sie sah nichts, das sie an ihr eigenes Wesen, so wie sie es einschätzte erinnerte. Und nichts, das sie bereit war zu sehen. Keine Erinnerungen, keine Hoffnungen. Weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern grobe, schlichte Wahrheit. Unfreundliche Wahrheit. Nichts, das sie sehen wollte. Denn ihre Gedanken wurden gefesselt von den Äußerlichkeiten, die sie stets verabscheut hatte. Von Gewalt, Wahnsinn und Brutalität. Von Rücksichtslosigkeit und fragwürdiger Moral. Überaus fragwürdiger Moral.
Dieser ins Auge zu sehen, gelang ihr nicht, wollte nicht gelingen, so sehr sie es auch versuchte. Bis sie erkannte und akzeptierte, dass auch was sie ablehnte, zu ihr gehörte, ein Teil ihres Inneren war, ein Teil des Wesens, das sie ausmachte. Und dass es ein Zeichen war, ein Hinweis auf lange Begrabenes, das sie unbewusst verfolgte, beeinflusste, in falsche Richtungen trieb. Bis sie es an der Zeit fand auch diesen Teil ihrer Selbst zu umarmen. Bis sie erkannte, was tief in ihr steckte, und was danach schrie ins Freie zu gelangen.
Es gelangte ins Freie, er gelangte ins Freie, der Teil von ihr, der seine Ungeduld nicht zügeln konnte, der in der Wut die Lösung erkannte, in der Aggressivität eine Tugend, einen Auslöser, Dinge zu bewegen. Ein Leben lang ausgebremste Energie brannte darauf ans Licht zu gelangen. Falsche Ziele, erzwungene Geduld, quälendes Büßertum gehörten der Vergangenheit an. Der Vulkan war entfesselt, zumindest in der Theorie. Vielleicht befand er sich auch nur im Prozess des Ausbruchs, aber es half, befreite, wies einen Weg.
Bis es zu Ende war. Bis die Flatterhaftigkeit ihrer Vorlieben die Konzentration schrumpfen ließ, und weiter schrumpfte, bis sie verschwand. Und sie glaubte ernsthaft, dass sie ihn nicht mehr brauchte, diesen Spiegel, sobald sein Bild freigesetzt war, seine Bedeutung erkannt, nicht mehr vonnöten war.
Und so wanderte sie zum nächsten Spiegel. Und zum nächsten. Kurze Flammen, die rasch wieder erloschen, und die sie verwirrter zurückließen, als sie je zuvor gewesen war.
Da flackerte der Gedanke des Fliegens in ihr auf, der Wunsch nach Befreiung oder nach einer starken Hand, der es gelang, sie von Zwängen zu erlösen, in die Lüfte zu erheben.
Oder der Charakter des Zwielichts, der Unsicherheit, die darauf hoffen ließ, dass die richtige Seite gewählt, den Gefühlen nachgegeben, Emotionen ausreichend Bedeutung eingeräumt wurden. Eine Gradwanderung, die doch trotz des unsicheren Balanceaktes auf der Kante der moralischen Integrität, hin und her gerissen wurde zwischen schmeichlerischer Versuchung, attraktiver Schale, verlockender Süßigkeiten und der Liebe, die zur Integrität wies oder zur bedingungslosen Hingabe an das Gute.
Sie mochte es nicht. So wollte sie nicht sein. Sie suchte den Abgrund, das moralisch Verwerfliche, den Zweifel, der sie über Jahre umgetrieben hatte. Doch die Verlockung, die ihr Spiegelbild in seinen Bann riss, zog auch sie an. Gefangen von Äußerlichkeiten, von Schönheit und offen gezeigter Zuneigung, verlor sie sich in der Vorstellung einer Perfektion, die keine war. Denn trotz aller Illusionen erkannte sie das Dilemma, auf das sie zusteuerte. Es war die zweite Hälfte des Bildes, das noch kein Ganzes ergab, und sich doch von Sekunde zu Sekunde emanzipierte. Und sie verstand nicht warum. Sie verstand nicht, was es war.
Die Optik half, die kleinen Schwächen halfen. Die Freundschaft half. Doch im Weg standen Jugend, standen Scham und eine Einschätzung, die kindliches Verhalten und Naivität als Entschuldigung für vage Sorgen wertete. Womit sie einst gekämpft hatte, mit dem moralischen Dilemma, kämpfte sie nun wieder. Doch diesmal hatte es seinen Weg aus der fiktiven in die reale Welt gefunden, wodurch es schwerer wog, schwerer als sie mit ihren neu erworbenen Erkenntnissen für möglich gehalten hatte. Denn immer noch hing sie, klammerte sie sich an die Ideale, die ihr in die Wege gelegt, die ihr vorgebetet worden waren, und die sie verinnerlicht hatte bis zur Grenze der Selbstzerstörung.
Was hatte es zu bedeuten, wenn sie jetzt an diesen Idealen rüttelte, die sie niemals ins Schwanken bringen wollte? Was hatte es zu bedeuten, dass sie unbewusst nach Akzeptanz in sich selbst suchte. Nach Akzeptanz einer nicht zu akzeptierenden Facette der ohnehin bereits auf schwachen Füßen stehenden Leidenschaft. Jedesmal, wenn sie mit der Nase darauf stieß, erzitterte die Frau innerlich. Übelkeit stieg in ihr auf, tötete die Schmetterlinge, die kaum noch wagten, an die Oberfläche zu gelangen.
Doch es steckte noch mehr dahinter. Was sie zuvor verstanden und für bare Münze gewähnt hatte, entzog sich ihrem Griff in mehr als einer Hinsicht. Die Anziehungskraft erreichte eine neue Ebene, eine andere, eine, die sie nicht verstand und sich nicht erklären konnte.
Und diese wurde genau in dem Moment erreicht, in dem sich zu dem Bild noch eine weitere Facette gesellte, eine sündhafte, geheime Komponente, die sie zwang, Stillschweigen über diese zu bewahren.
Obwohl die Sünde, die sie selbst fürchtete, nicht existierte. Sie war nicht notwendig, und sie fehlte nicht. Alles war anders in dieser Welt des Fiktiven, alles leichter und liebevoller. Keine Gewalt, keine Brutalität, keine Zwänge denen es zu entfliehen galt. Stattdessen nur die frei tänzelnden Phantasien, die sich miteinander verwoben, in zarte Gebilde verwandelten, deren Helligkeit über allem anderen schwebte.
Kleine, schwache und doch so raffinierte Anstöße hielten das Gebilde in Bewegung, hielten sie in Schwung und die Schmetterlinge am Tanzen. Ein vollkommen unerwarteter Effekt, flatterten die unzähligen Flügel in ihrem Inneren doch über ungewohnte Ländereien. Ländereien, die nicht Spielball des animalischen Urtriebes waren, den sie bislang verantwortlich gezeichnet hatte. Eine Spielwiese, die sich loslöste und neue Pfade ging. Auf der sie sich rollte und Purzelbäume schlug, in vager, ungewisser Unschuld. Denn dass dort etwas lauerte, bezweifelte sie nie.
Etwas Drohendes, Dunkles, das in sich zu akzeptieren sie nicht bereit war. Nicht mit dem Bild, das sie von sich selbst malte, nicht nach allem, was sie vor sich selbst zugegeben und gestanden hatte.
Es konnte nicht der Wunsch nach Kindheit sein, oder die Sehnsucht nach einer Jugend, die über der glatten Oberfläche des tiefschwarzen Sees glitzerte. Sie wusste, was sie nicht wollte. Und sie war sich sicher, dass sie dies nicht wollte, nicht wollen durfte.
Denn vielleicht war es zu schmerzhaft die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht wünschte sie sich zurück in eine Zeit, in die eine Geschichte wie diese gepasst hatte. Vielleicht spielte die unbewusst und doch unabänderlich ablaufende Parallele ihres Lebens eine Rolle, die sich nicht mehr leugnen ließ. Vielleicht sah sie diesmal nicht sich, sondern jemand anderen. Vielleicht verlief die Identifikation mit einem gänzlichen unerwarteten Charakter. Vielleicht wünschte sie sich bedingungslose Liebe, die zurückzuweisen ihr offen stand.
Vielleicht brach auch nur ihr Herz im Angesicht der dunklen Stunden, die sie vor ihrem inneren Auge sah, die sie nicht wagte zu erforschen, und die doch ständig präsent waren.
Sie wusste, was sie nicht wollte. Doch was sie wollte, wusste sie nicht.
Wollte sie ihn? Dass er sie umarmte, an sich zog und liebkoste? Wollte sie Seelenverwandtschaft, Unfertiges und die Rückkehr in eine Welt, die sie nie gekannt hatte?
Oder wollte sie nur ihn, nur den Körper, nur das Haar, nur die Augen. Wollte sie getragen und gehoben werden, von ihm? Von einem Jungen, der so gar nicht zu ihr passte, der so anders, so vollkommen anders, so unmöglich zu erreichen war?
Wollte sie ihn, gerade wegen der Frage der Moral. Gerade weil sie an ihm zweifelte und an seinen Motiven? Wollte sie ihn, weil er den Gegenpol darstellte, eine vollkommen andere Auffassung, eine Kindlichkeit, der sie entwachsen war und die sie ablehnte, wenngleich Kindlichkeit doch zu ihrem Wesen gehörte?
Wollte sie ihn, obwohl sie ihm widersprach? Obwohl dieser Streitpunkt existierte, diese naive Aggressivität, die ihr widersprach. Diese Dummheit. Vielleicht wünschte sie von dieser Dummheit zu kosten, von diesem puren, gedankenlosen Idealismus. Sich diesem hinzugeben, die Zweifel beiseite zu werfen, und frei von Schuld ihm die Liebe zu geben, die sie niemandem gab. Nicht wirklich. Die sie aufsparte, die sie nie erwartete, weiterzugeben. Die sie nie erwartet hatte, in die Realität umzusetzen.
So unvorstellbar, so unverständlich es sein mochte, vielleicht lag dort der Haken. Sie fürchtete ihn nicht. Er war zu jung, um ihn zu fürchten. Zu bedürftig, als dass sie ihm anderes bieten konnte als Schutz und Trost. So klein, und doch so dunkel, so schwermütig und traurig. Sich selbst sehnend nach der Liebe. Doch nicht nach ihrer, das wusste sie.
Verboten – und doch existent. Vielleicht erkannte sie es, wenn die Schmetterlinge sie verließen, den Käfig verließen, in dem sie ihre flatterhaften Gefühle bewahrte.
Und es funktionierte wirklich. Sie wollte ihn, mit all seinen Unzulänglichkeiten, Fehlern. Trotz und entgegen aller Widerstände, die sich vor ihr auftürmten, wollte sie ihn. Wollte ihn für sich. Seine Arme, seine Lippen, seine Haut auf ihrer. Wollte ihn ganz und gar. Und indem sie es zugab, flog ihre Seele in den Himmel.

Sonntag, 23. August 2009

Panther

Titel: Panther
Autor: callisto24
* * *
Panther


Doch was war mit ihm, mit dem perfekten Mann? Gutaussehend wäre untertrieben. Eine Schönheit war er, eine Schönheit im klassischen Sinn, sein Erscheinungsbild gewürzt durch die kleinen Unebenheiten, die Narben, die bewiesen, dass er lebte, dass er wagte und kein Risiko scheute. Sie mochte es, ihn anzusehen. Sie bewunderte sein Aussehen, so wie wohl jeder es bewunderte, der ihn zu Gesicht bekam. Bereits in seiner Jugend war er aufgefallen, seine Attraktivität hatte ihm Wege geebnet, die anderen auf immer verbaut geblieben waren. Schön war er, wirklich schön. Dunkles Haar umrahmte die klassischen Züge. Lange Wimpern warfen Schatten über große, seelenvolle Augen. Hohe Wangenknochen charakterisierten einen Ausdruck, der Weichheit und Härte auf bislang unbekannte Art vereinte.
Und doch wusste sie, dass das Äußere nur aus Schall und Rauch bestand, vergänglich war, keine Grundlage bildete für eine Seelenverwandtschaft, hochgegriffen, oder auch nur für eine schwache Anziehung, die manches Mal doch auch ausreichte.
Ein Wort, eine Geste, ein falscher Ton konnte den erweckten Eindruck zerstören und die attraktive Schale als das entlarven, was sie war. Und dann gab es kein Zurück, kein Überdenken, keine Errettung vor der Wahrheit. Eine zerstörte Illusion ließ sich nicht reparieren, der in tausend Scherben zerbrochene Eindruck war unmöglich zusammenzusetzen, unmöglich in die Gestalt zurück zu verwandeln, die einst die Anziehung ausgeübt hatte.
Und doch fiel ihr Blick niemals auf einen Mann, dem die körperlichen Vorzüge abgingen, die sie an ihm so bewunderte. Sie gestand sich ein, der Oberflächlichkeit in ihrem Charakter größere Bedeutung einräumen zu müssen, als ihr Intellekt dieser zugestand. Und sie schämte sich, wenn auch nicht wirklich.
Denn nüchtern betrachtet, und von außen gesehen, so blieb ihr nur dieses eine, nur dieses Leben, und was sie daraus machte, lag in ihren Händen. Warum sollte sie nicht nach den Sternen greifen? Warum nicht dem Auge Gefälligkeiten gönnen, sich an dem leisen Lächeln erfreuen, das ein hübscher Anblick in ihr hervorrief. Warum nicht die Schmetterlinge flattern lassen, die sich regten, wenn sein muskulöser Körper den Weg am Schwimmbecken zurücklegte, wenn kleine Wassertropfen über bronzene Haut perlten, die Haare sich feucht im Nacken ringelten, Muskeln und Sehnen ein Spiel spielten, das zu betrachten, ihr nie langweilig wurde.
Ja, er war schön, wie er mit langen Schritten den Weg zu ihr durchmaß, als teilte er das Meer, wie sein Lächeln blitzende, weiße Zähne entblößte, wie seine dunklen Augen in der Sonne funkelten.
Er war schön, und Schönheit war ein Gut, das seiner Beachtung verdiente. Und doch, tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Schönheit nicht ausreichte, niemals ausreichen konnte.
Doch wenn sie tiefer in ihn hineinsah, so wuchsen die Zweifel. Sie streckten ihr knochige, unheilverkündende Äste entgegen, und so sehr sie auch versuchte, sich an die jungen und grünen Triebe der Hoffnung zu klammern, so sicher war sie doch, dass diese brächen, sollte sie nur ein einziges Mal gezwungen sein, richtig zuzupacken.
Kein Zweifel, es handelte sich bei ihm um einen Karrieremenschen. Und in diesem Paket trug er alles, was mit dieser Kategorie zusammenhing. Die blendende Erscheinung wurde zur Notwendigkeit. Der elegante Kleidungsstil zu einem Markenzeichen.
Jedoch zu einem Markenzeichen, das ihr selbst so vollkommen fremd, so unglaublich fern ihrer eigenen Art war, dass sie niemals auch nur in Erwägung gezogen hatte, sich ihm zu nähern.
Sie mochte keine Anzüge, sie verabscheute Krawatte und Fliege. Und mit Sicherheit verachtete sie jeden Beruf, jede Aufgabe, die deren Verwendung voraussetzte. Ihr Freigeist distanzierte sich von den Zwängen der Modeindustrie und es lag ihr ferner denn je, einen Kompromiss einzugehen.
Bis auf ihn. Sie konnte es ertragen, ihn im Anzug zu sehen. Und sie konnte es ertragen, zuzugeben, dass diese Kleidung ihm schmeichelte. Wenngleich ihr ebenso klar war, dass jede Art von Kleidung seiner Erscheinung schmeicheln musste, nur den Rahmen bildete für die Perfektion, die er verkörperte.
Und weitaus ernster und beunruhigender gestaltete sich ihr die Erkenntnis, dass sie auch seine Tätigkeit ertragen konnte, dass sie vielleicht sogar verstand, was er tat, warum er es tat. Sicher, sie suchte Entschuldigungen für sich, für ihn. Sie forschte nach den Gründen, den Ursachen, die ihn zu dem gemacht hatten, der er nun war.
Den Gründen, die ihm seine Skrupel genommen hatten, und seine moralische Integrität, sollte er denn jemals ein solche besessen haben.
Denn sicher war sie sich diesbezüglich nie. Auf welche Seite er gehörte, konnte sie nie mit Bestimmtheit angeben. Die Fassade, die er um sich errichtet hatte, war zu lückenlos, zu unangreifbar, zu sehr mit seinem Wesen verschmolzen, als dass es klug sei auf ihn zu bauen, ihm auch nur in einer einzigen Beziehung zu vertrauen.
Grau, das war er, bewegte sich in einer Zwischenwelt, und tanzte innerhalb dieser Grenzen von einer Seite zur anderen, nicht fassbar, nicht einschätzbar, unbeständig und doch die Illusion eines unzerstörbaren Selbstvertrauens verbreitend.
Der Mann war moralisch nicht fassbar, und sie wusste nicht, ob sie damit zurecht käme, ob sie mit sich selbst zurecht käme, wenn sie sich auf ihn einließe, sich wirklich auf ihn einließe. Denn im Grunde war sie bereits verloren, hatte sich lange schon verfangen, in dem Netz, das er ausgeworfen und dann enger und enger um sie gewoben hatte.
Sie kreiste um ihn, angezogen und gleichzeitig abgestoßen. Auf einer Bahn, die vorherbestimmt war, keine Erschütterung und keine Fragen kannte.
Und mit ihr kreiste die stetige Unsicherheit. Jede Faser ihres Körpers verriet ihr, dass sie ihm nicht vertrauen konnte, dass sie ihm nicht vertrauen durfte, wollte sie ihr eigenes Seelenheil nicht gefährden.
Und doch schien manches Mal eine Wärme in seinen Augen, die ihr Herz rührte, die es ihr unmöglich machte, ihn zurückzuweisen, die von ihr verlangte, sich ihm hinzugeben, sich auf seine Seite ziehen zu lassen und ihm zu glauben, welch abstrakte, gleichzeitig verführerische und doch gefährliche Gedanken er darlegte.
Bänder existierten, die ihn hielten. Reich war er an Gefühlen, und reich an Möglichkeiten, diese auszudrücken. In seinen Fehlern zeigte er Größe, und die Vergebung, die ihm allerorts zuteil wurde, tat ihr Übriges.
So leicht konnte er die Menschen für sich gewinnen, Meinungen in seinem Sinne ausrichten. Und so leicht konnte er sie gewinnen.
Sie verzieh ihm stets. Verzieh ihm jede Schuld, die er auf sich lud. Sie suchte nach Erklärungen und nachdem sie diese erkannt und aufgedeckt hatte, dünn und fadenscheinig, sah sie die Liebe in seinem Herzen und umfing ihn dankbar. Auch wenn es nicht immer ausreichte, wenn es eigentlich niemals ausreichte.
Viel zu oft stellte sie sich die Frage, ob diese Beziehung gut für sie war. Viel zu oft schwebte sie in der Furcht, einen Fehler zu begehen, eine Richtung einzuschlagen, die sie fortführte, von allem, was ihr bislang wichtig gewesen war, was sie für die Grundzüge ihres Wesens hielt.
Und doch konnte sie den Gedanken nicht von der Hand weisen, dass es da vielleicht mehr gab, dass verschüttet in ihrem Unterbewusstsein eine Frau lebte, für die moralisches Grau die Farbe war, in der sie sich wohlfühlte. Eine Frau, die es nicht nur verstand, dass die Lüge und der Betrug zu einer Notwendigkeit werden konnten, sondern die beides aus freien Stücken zu einer Kunstform erhob, sich in der Sünde wälzte und den Schmutz auf ihrer Seele als Schmuck trug.
Eine Frau, die angezogen wurde vom Hunger nach Erfolg. Eine Frau, die alles tat, um in das Licht der Öffentlichkeit zu gelangen, das Leben zu führen, um das sie die ganze Welt beneidete. Eine Frau, die Karriere machte, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, und die keine Opfer scheute, wenn es ihrer Sache diente.
Und wenn diese Frau in ihr schlummerte, dann suchte sie nach ihm, dann war er der Partner, mit dem sie sich schmückte. Und dann war sie die Partnerin, die er sich wünschte, die ihn ergänzte.
Vielleicht – denn vielleicht entstünde auch Konkurrenz, vielleicht wären zwei Haifische einer zu viel im Becken. Vielleicht gingen sie sich an die Kehle, und vielleicht lag darin der Grund, dass diese Frau, eine Frau, die über Leichen ging, um ihren eigenen Status zu festigen, eine Frau, die keine Rücksicht und kein Mitleid kannte, zu tief in ihrem Inneren verborgen war, als dass sie jemals das Licht des Tages erreichten konnte.
Sie wollte die Parallelen nicht sehen, die sie mit ihm verbanden, und zugleich hinderte sie diese bewusste Blindheit daran zu fühlen und zu verstehen, was es war, das sie an ihn kettete.
Er war so geschniegelt, so glatt, und doch von einer verborgenen Tiefe, so glaubte sie. So musste sie glauben, wollte sie nicht wahnsinnig werden bei dem Gedanken an seine Nähe.
Und so schob sie von sich, was sie nicht wissen wollte, blieb an einem Punkt stehen, der kaum die Oberfläche berührte. Sie blieb dort, wo sie ihn betrachtete, wo sie ihn ansah, ihn bewunderte. Wo sie den Glanz empfand, der ihn und sein Wesen umströmte.
Und sie kehrte zurück dorthin, wo seine Erscheinung ihre Stimmung erhellte, wo die Schönheit den Trost bot, den die Gedanken nicht geben konnten, den sie sich im Gegenteil verbaten.
Sie blieb dort, wo ihre Finger seine feuchte Haut berührten, wo ihre Augen sein Haar streichelten, ihre Beine sich um seine Hüften schlangen, die harten Muskeln über sich fühlten. Sie blieb dort, wo er sie liebkoste, wo rationales Denken, wo Gewissen oder Zweifel keinen Platz fanden.
Ja, sie liebte ihn, wenn dies denn Liebe sein konnte. Wenn Liebe eine Lüge war, ein vergänglicher Rausch, der weder Tiefe kannte, noch den Nachhall, der das Herz bewegte.
Wenn Liebe nur einen Kuss, nur eine momentane Ekstase bedeutete, die sich – sobald verklungen – in eine flüchtige Erinnerung verwandelte. Ohne Bedeutung, ohne Folgen, ohne Sinn.
Nein – sie liebte nicht ihn, sie liebte es, ihn zu lieben. Und so sehr sie sich dagegen wehrte, so war ihr doch klar, dass diese Liebe einer zeitlichen Begrenzung unterworfen war, dass sie mit jedem Tag, mit jeder Minute auf das Limit zusteuerte, dessen Erkenntnis zugleich das Ende bedeutete.
Und wenn sie Glück hatte, dann fand sich vor diesem Augenblick jemand, der mehr bedeutete, der mehr war, als Schönheit, mehr als Erfolg, mehr als Karriere und Geltungssucht. Mehr als der schöne Schein, der mit einem Augenzwinkern verging und von dem nichts zurückblieb als leere Luft, mehr als das Vakuum, das entstand, wenn der Panther geschmeidig ausschritt, um neue Beute zu suchen. Wenn verräterisch süchtige Augen kalte Schauer über ihren Rücken jagten und ein Aufblitzen der scharfen Zähne das Fauchen ankündigte, das seinen Gang begleiteten.
Sie wird ihn immer bewundern, doch niemals vermissen.

Samstag, 15. August 2009

Prinzip Gesichtsblindheit

Prinzip Gesichtsblindheit
Autor: callisto24

* * *

Corinna hatte nie vermutet, irgendwelche wie auch immer gearteten Probleme betreffend ihrer Wahrnehmung mit sich herumzutragen. Sie war immer in der Lage gewesen, sich auf ihrem Lebensweg zu recht zu finden. Ohne Auffälligkeiten und Probleme, sowohl was ihr Privatleben als auch ihren beruflichen Werdegang anging, gelang es ihr gerade aus durch die Welt zu marschieren.
Natürlich mussten Abstriche gemacht werden. Natürlich war sie gezwungen ihre Grenzen zu erkennen und sich auf diese einzustellen.
Doch blieb sie Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass sie sich diese Grenzen selbsttätig erschuf, dass ihre gelegentlichen Ausfälle, ihre regelmäßig auftretende Verwirrtheit doch nur an ihrer Zerstreutheit lag, an ihrer Neigung durch die Welt zu spazieren, während sie mit ihrem Kopf in den Wolken schwebte.
Eine Träumerin, das war sie immer gewesen. Und existierte überhaupt ein Zweifel daran, dass die Traumwelt jederzeit der Realität vorzuziehen sei?
Corinna glaubte nicht daran.
Die Realität trug zu viel Schwere, zu viel Trauer und zu viel Trockenheit in sich, als dass es ihr erstrebenswert erschien, sich von morgens bis abends mit dieser abzufinden. Sie wählte ihre Ausflüge in die Leichtigkeit der Phantasie freiwillig, und im besten Wissen ihrer Kosten.
Denn blieb sie abgelenkt, nur mit den Füßen locker dem Boden der Wirklichkeit verhaftet, so entgingen ihr zwangsläufig Einzelheiten, und gelegentlich gar bedeutende Einzelheiten, deren Abwesenheit in ihrem Bewusstsein zu Corinnas Verwirrung beitrugen, und so manches Mal zu durchaus bedenklichen Folgen führten.
Doch handelte es sich niemals um Folgen, die in ihrer Tragweite das kurzfristige Chaos in Corinnas Verstand auf irreparable Art manifestierten. Corinna war stets in der Lage, nach einer kurzen Phase der Verwirrung ihren Halt in der Realität erneut zu verankern, Schlüsse zu ziehen und Hinweise zu verknüpfen, bis sie ihren Anschluss an die ablaufenden Vorgänge fand und sich wieder in das Geschehen einklinkte.
Corinna war intelligent, daran hatte es nie einen Zweifel gegeben. Und somit gelang es ihr auch jedesmal von neuem, ihren unauffälligen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, unabhängig davon, für wie unnötig und sinnlos sie diese an sich hielt.
Daher war es ihr auch ein leichtes die Erwähnung des Phänomens flink beiseite zu schieben, als eine der Merkwürdigkeiten der Welt zu betrachten, die nicht das Geringste mit ihr oder mit ihrem Leben zu tun hatten.
Dazu gesellte sich die Überzeugung, die Corinna ihr Leben lang begleitete, die unumstößliche Gewissheit, dass sie es besser konnte, wenn sie es denn nur wollte. Und mit ‚es‘ meinte sie die oft unterschätzte, selten anerkannte, weil stets als selbstverständlich angenommene Fähigkeit der Differenzierung zwischen den Menschen, die ihre Welt bevölkerten.
Und wenn ihre Tante darüber klagte, dass sie die Gesichter ihrer Mitmenschen nicht voneinander unterschied, so reagierte Corinna lediglich mit einem abfälligen Schmunzeln. Wenn Tantchen darauf bestand, dass sie in Filmen und Theaterstücken regelmäßig gezwungen war, sich ihren eigenen Reim auf Namen und Ereignisse zu machen, da sie die auftretenden Personen unmöglich unterscheiden konnte, so schob Corinna dies auf die Sehschwäche, die ihre Tante zwang stets eine dicke Brille zu tragen.
Denn sie selbst, Corinna, kannte Probleme dieser Gestalt nicht. Corinna war eine aufmerksame Betrachterin jeglicher Ereignisse auf dem Bildschirm, verfolgte Personen und Handlungsabläufe entsprechend der ihr gebührenden Bedeutung.
Denn schließlich lieferten ihr Filme und vor ihr ausgebreitete Geschichten, Entwicklungen und Charakterzeichnungen die ultimative Vorlage für die Traumwelten, die sie als Ausgleich zu der Ödnis ihres Lebens benötigte. Soweit war sie in ihrer Erkenntnis der Tatsachen bereits gelangt.
Sie studierte die Gesichtszüge der Protagonisten, die sie interessierten, deren Geschichten sie für sich weiterspann, und die sich ihr unauslöschlich einprägten, ob sie nun wollte, oder nicht.
Es bestand keine Möglichkeit, dass sie diese Züge je verwechselte, jemals einen Zweifel daran hegte, zu wem sie gehörten, um welchen Charakter, um welchen Menschen es in welcher Situation ging.
Nicht in der Welt der Träume.
Und somit lag der Schluss klar auf der Hand. Auch im wirklichen Leben existierte kein Zweifel. Das einzige, was existierte, war ihr eigener Mangel an Interesse, an Aufmerksamkeit.
Gesichter, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, waren schlichtweg nicht interessant genug, als dass sie sich diese merkte.
Zudem verbot ihr die anerzogene Höflichkeit einem Menschen allzu lange und allzu gerade ins Gesicht zu starren, bis sich seine Züge ihr einprägten.
Ein Problem, auf das sie während der Betrachtung des Bildschirms keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Ganz im Gegenteil. Es gehörte in Situationen wie diesen gewissermaßen zu ihren Aufgaben, sich so gut als möglich auf die Person zu konzentrieren, deren Bemühungen doch auch nur dieses Ergebnis bezweckten. Angesehen zu werden, beobachtet, bis sich das Gesicht und im besten Falle zugleich auch der Name für immer in das Gedächtnis der Zuschauer einprägten.

Und Corinna war zufrieden damit. Ihr Leben brauchte nicht mehr. Es gab wenige Menschen auf die es ihr ankam, und diese hatte sie um sich.
Warum den Mann von Gegenüber, warum die Frau im benachbarten Büro grüßen in einer wertlosen, atemverbrauchenden Geste, die doch keinen von ihnen auf nur irgendeine Weise glücklicher zurückließ.
Gesichtsblindheit – was für ein Unsinn.

Corinna küsste ihren Mann zum Abschied. Sie stand mit ihrem Töchterchen am Hauseingang und sah zu, wie er ihnen zuwinkte, bevor er den Motor startete.
Diese Geschäftsreise sollte länger währen als es üblich war, aber Corinna hatte alles im Griff. Sie war stets gut im Organisieren. Sie handelte klug und umsichtig, beinahe vorsichtig. Und darauf war sie stolz, verminderte ihre Vorsicht doch die Risiken, denen sich weniger umsichtige Menschen nur allzu häufig gegenüber sahen.

Es war einer dieser Tage. Corinna holte ihr Kind vom Hort und gab vor, nur schweren Herzens der Bitte der Kleinen nachzugeben, die den Rest des Nachmittags bei einer ihrer kleinen Freundinnen verbringen wollte. Innerlich jubilierte sie jedoch, froh über die wenigen Stunden der Freiheit, die ihr bevorstanden, konnte sie das Kind bei einer anderen Mutter gut aufgehoben wissen.
Mit einem Seufzer schloss sie die Tür hinter sich, sperrte die schwüle Hitze aus, und genoss die ersten Atemzüge in der Kühle des Hauses.
Fast zwei Wochen war ihr Mann bereits fort, und sie musste ehrlich gestehen, dass sie ihn nicht einmal vermisste. Noch nicht, dachte sie im Stillen. Zur Gewohnheit sollte er sich diese langen Reisen jedoch nicht machen. Es war schon so schwierig, gleichzeitig Mutter und Bürokraft zu spielen. Jede ihrer freien Minuten den Launen der Kleinen zu widmen, trug nicht zu ihrem Wohlbefinden bei.

Doch nun sah sie einem Moment des Friedens entgegen, inmitten der Abgeschiedenheit ihrer vier Wände, angenehm kühler Luft und der kargen Inneneinrichtung, die es ihr erlaubte, die Gedanken schweifen zu lassen, ohne dass sie an einer unnötigen Spielerei hängen blieben.

Corinna sank in die Polster ihrer Couch, und seufzte genüsslich auf. Vor sich hielt sie ein Glas sprudelnden Proseccos, der beinahe ein wenig zu warm war, um perfekt zu sein, doch den kühl zu stellen, ihr die Geduld fehlte.

Sie nippte leicht daran, legte den Kopf zurück und beschloss ihr Strohwitwendasein so angenehm als möglich zu gestalten.
Corinna merkte nicht, wie sie einschlief. Eigentlich döste sie nur, und doch fühlte sie sich im Moment des Erwachens leicht desorientiert.
Sie schrak hoch, verschüttete unbemerkt den Prosecco, der locker auf der Lehne des Sofas ruhte, fing im letzten Augenblick das Glas auf und stellte es zurück auf den hellen Tisch.
Corinna rieb sich die Augen, blinzelte dann, und blickte zur Uhr.
Viel Zeit war nicht vergangen. Was konnte es also sein, das sie geweckt hatte? Keines der Geräusche, die von draußen, aus der Straße, den Gärten oder den sich zusammenballenden Wolken in die scheinbare Sicherheit ihres Hauses drangen, hielten normalerweise die Macht, Corinna aufzuschrecken.
Sie setzte sich auf, und blickte um sich. Nichts hatte sich verändert. Nichts wirkte anderes, als sie es gewohnt war. Und doch stimmte etwas nicht, befand sich etwas in diesem Haus, das ihr Schauer über den Rücken jagte. Etwas Unbekanntes und Bedrohliches, das sie von Sekunde zu Sekunde stärker aufrüttelte.
Und dann hörte sie es, hörte ihn.
Denn es musste sich um einen Mann handeln. Die schweren Schritte, die unter ihr auf dem harten Zement des Kellerbodens klangen, ließen keinen Zweifel.
‚Ein Einbrecher‘, dachte sie und der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Schlimmer noch, ein Mörder, der ihr Haus beobachtet hatte, die Möglichkeit erkannt.
Eine Frau alleine, ohne Schutz in einem großen Haus, verpflichtet alles zu tun, um ihr kleines Mädchen zu beschützen.
Welch ein leichteres Opfer konnte es geben. Ob es sich nun um einen Wahnsinnigen, getrieben von seinem Durst nach Blut handelte, um einen Vergewaltiger, Kinderschänder oder Verbrecher einer Spezies, an deren Existenz Corinna sich zu denken weigerte – für sie lief es auf dasselbe Ergebnis hinaus.

Corinna kämpfte ihren Schrecken nieder. Sie rutschte vorsichtig bis an den Rand der Sitzfläche, bemühte sich kein Geräusch zu verursachen, als sie sich erhob, als sie in wenigen Schritten den Raum durchquerte.
Wie gut, dass Vorsicht stets ihre oberste Priorität gewesen war. Wie gut, dass sie für alle Eventualitäten vorgesorgt hatte.
Die Geräusche unter ihr waren verstummt, und Corinna stellte sich vor, wie der Mann ein Versteck aufsuchte, sich auf die Lauer legte, sich darauf einrichtete, geduldig abzuwarten, bis seine Zeit gekommen war. Bis die Nacht sich über das Haus gesenkt hatte, und seine Bewohner in tiefem Schlafe lagen, so dass er aus der Tiefe emporsteigen konnte, und sein schmutziges, blutiges Werk beginnen.
Corinna erschauerte. Vorsichtig, langsam und mit zusammengepressten Lippen, sorgsam darauf bedacht, keinen einzigen Laut zu erzeugen, öffnete sie die glücklicherweise perfekt geölte Schranktür.
Sie erhob sich auf ihre Zehenspitzen und griff in die Höhe. In der obersten rechten Ecke, gut versteckt, sicher vor den Händen von Kindern oder unbefugter Personen, dort hatte ihr Mann sie verstaut. Die Waffe, von der Corinna niemals angenommen hatte, dass er sie außerhalb des Schützenvereines gebrauchen konnte, geschweige denn, dass sie selbst jemals das Verlangen verspüren sollte, diese in ihren Händen zu halten.
Nur zur Vorsicht hatte er ihr beigebracht, wie man die Waffe hielt, und wie man sie bediente, und Corinna hatte gelacht, und ihn mit seiner Vorliebe für Wild-West-Geschichten aufgezogen.
Doch jetzt sah alles anders aus. Jetzt war sie die Einzige, der es oblag ihren eigenen Grund und Boden zu verteidigen. Und den Besitz ihres Gatten, sowie das Leben und die Sicherheit des Kindes. In einem Augenblick wie diesem durfte nicht gezweifelt werden. Entscheidungen mussten getroffen, Konsequenzen akzeptiert werden.
Corinna entsicherte die Waffe, und hielt sie im Anschlag. Immer noch hörte sie nichts. Immer noch regte sich niemand unter ihr.
Und doch hatte sie sich nicht getäuscht. Einen Streich wie diesen konnte ihre Phantasie ihr nicht gespielt haben.
So bewegte sie sich langsam, aber entschlossen vorwärts, lautlos, denn das Überraschungsmoment wollte sie auf ihrer Seite wissen.
Corinna näherte sich der Kellertreppe, spähte aufmerksam hinunter, bevor sie aus ihren Schuhen schlüpfte, um barfuß den Weg in die Tiefe anzutreten.
Gerade gewöhnte sie sich an das Gefühl der rauen Stufen unter ihren empfindlichen Sohlen, gerade erwog sie doch heimlich die Möglichkeit einer Überreaktion ihrerseits, die Möglichkeit, dass die Gefahr, die sie fühlte doch nur in ihrem Kopf existierte, und sie es aufgeben sollte, sich den Auswüchsen ihrer eigenen Phantasie zu unterwerfen, da flammte das kalte Licht der Glühbirne auf.
Corinna zuckte zusammen, stieß ein Keuchen aus und hob unwillkürlich die Waffe, bevor sie in die ungewohnte Grelle blinzelte.
Und da stand er, genau vor ihr. Ein hässliches Grinsen auf dem Gesicht, die Hände erhoben in einer drohenden Gebärde.
Selbst auf der Straße hätte sie ihn als einen Mann erkannt, der nichts als Böses im Sinn trug. Sein Haar stand ungebärdig vom Kopf ab, unter den Augen lagen tiefe Schatten und ein ungepflegter Drei-Tage-Bart ließ keinen Zweifel an seinen finsteren Absichten.
Die Augen des Mannes blitzten und er öffnete seine Lippen, um etwas zu sagen, als Corinna schoss.
Der Rückstoß nahm ihr den Atem, doch mehr noch tat es der verblüffte Ausdruck im Gesicht des Fremden, der langsam rückwärts wankte, zitternde Hände zu der Wunde hob, aus der das Blut hellrot sprudelte.
In seiner Kehle gurgelte etwas, und dann stürzte er mit einem Krach zu Boden.
Corinna keuchte, als sie ein weiteres Geräusch vernahm. Sie wirbelte herum und schoss, schoss sich ihren Weg frei.
Sie erklomm die Treppe mit letzter Kraft, trat in die Lache Blutes, das aus dem Leib der Komplizin des Einbrechers austrat. Mit einem großen Schritt stieg sie über das Kind, das an der Seite der Frau gewesen war und nun leblos auf dem Boden lag.
Dann rannte Corinna hinaus, hetzte vorwärts, in das pralle Sonnenlicht. Die Waffe entglitt ihren Händen als grelle Sirenen ihr Trommelfell durchschnitten. Sie presste ihre Hände gegen die Ohren, presste immer noch, als Uniformierte aus den Autos stürzten, sie zu Boden warfen und schließlich gewaltsam ihre Arme auf dem Rücken fesselten.
„Mörder“, keuchte sie. „Einbrecher – dort drinnen.“

Sie wurde in die Höhe gerissen und auf den Rücksitz eines Wagens geworfen, als ein Mann im Anzug mit blassem Gesicht auf sie zukam.
„Sie haben ihren Mann erschossen“, sagte dieser leise und trotz des Lärms und der Aufregung, die sie umgab, vernahm sie seine Worte. „Ihren Mann, der für sie aus dem Keller einen Hobbyraum machen wollte.“ Er schüttelte den Kopf. „Und ihr Kind. Können Sie mir sagen, wieso Sie geschossen haben? Was hat er ihnen angetan? Was hat das Kind ihnen angetan, oder die Frau?“

Corinna rang nach Luft. „Es war nicht mein Mann“, stieß sie schließlich hervor. „Ich hätte ihn erkannt. Ich bin nicht gesichtsblind.“

Sonntag, 9. August 2009

Krieger

Titel: Krieger
Autor: callisto24
* * *


Es gärte im Herrmann-Haushalt. Wie immer vor den Weihnachtstagen. Die Anspannung ließ sich mit Händen greifen, und Sascha wünschte sich ein weiteres Mal, seine Eltern hätten ihm erlaubt mit seinen Freunden zum Ski-Fahren zu gehen. Nur heraus aus diesem dunklen Haus, weg von der gedrückten Stimmung, die ihm jedesmal wieder zu schaffen machte.

Und wenn da nicht Kalle gewesen wäre, dann hätte er zumindest härter gekämpft, schwerere Geschütze aufgefahren und sich einen Vorsprung verschafft, einen respektablen Grund, warum er während der Feiertage sein tägliches Schmollgesicht aufsetzte.

Doch seine Mutter brachte, noch bevor er die vorsichtig hervorgebrachte Bitte mit langen und sorgfältig zurechtgelegten Argumenten unterstützen konnte, Kalle ins Spiel. Wohl wissend, dass Sascha nun nicht anders konnte, als zuzusehen, wie sich jeder weitere Gedankengang seinerseits in Luft auflöste, verdrängt wurde durch die bloße Vorstellung von Kalles Rückkehr, davon Kalle wiederzusehen, ihm nach so langer Zeit endlich über den Weg zu laufen.
Und diesmal konnte Kalle ihm nicht entkommen.

Kalle, der es offensichtlich für witzig hielt, Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag von Neuem sein Leben aufs Spiel zu setzen für die leeren Ideale, die ihm ihr Vater, seine unangenehmen Kollegen und das Militär mit seinen abstrakten Prinzipien seit seiner Geburt eintrichterten.

Sascha verstand es nicht, hatte es nie verstanden. Ob es daran lag, dass ihr Vater seinen jüngeren Sohn nie genug wahrgenommen hatte, oder ob sein erster Blick auf diesen, ihm verriet, dass Sascha nicht das Potential in sich trug, welches er in Kalle sah und von einem Herrmann erwartete – Sascha glaubte nicht, es jemals zu erfahren.

Nicht dass er eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit war, die der Vater seinem Bruder schenkte. Ganz im Gegenteil. Die meiste Zeit war er sich durchaus bewusst, welch ein Glück er hatte, nicht in das Schema gepresst zu werden, in das der andere sich zwingen musste.

Ein Kopfschütteln und ein skeptischer Blick auf Saschas schlaksige Gestalt und die ungebärdige Frisur hatten ausgereicht, um jeden Gedanken an Internat oder gar eine Karriere als Soldat und Offizier aufzugeben. Und Sascha war sich trotz aller Erfolge und des Lobes, das Kalle einfuhr, doch sicher, dass der andere ihn im Stillen um die Freiheit beneidete, die er genoss.

Auch wenn er es nicht zugeben konnte, so las Sascha doch in dem Bruder wie in einem offenen Buch. Und seine gelegentlichen Blicke oder unangebracht spitzen Bemerkungen was Saschas Schullaufbahn anging, erzählten ihm mehr als deutlich von Kalles Gefühlen.
Und das war nur eines der Dinge, die Sascha mit dem Bruder klären wollte, nur eines.

Hauptsächlich vermisste er Kalle schmerzlich. Er war nun alt genug, um sich einzugestehen, was er fühlte, alt genug, um zu erkennen, dass die Liebe und die Bewunderung, die er für Kalle empfand nicht verschwinden würde. Nicht von selbst.

So wenig er auch verstand, dass Kalle sich verpflichtet fühlte, an Kriegseinsätzen teilzunehmen, so sehr er seine martialische Haltung auch verabscheute, so groß war auch seine Angst.

Jedesmal wenn dieser aufbrach, und Sascha durch Zufall, weil er gelauscht, oder Kalle sich verplappert hatte, ein Fehler, den er jedesmal versuchte vergeblich zurückzunehmen, doch Sascha verstand sehr gut was Begriffe wie Krisengebiet oder Sondereinsatz bedeuteten – jedesmal verbrachte Sascha seine Nächte mit grauenvollen Träumen, aus denen er regelmäßig schweißgebadet aufwachte, und die ihm alle nur ein Bild zeigten.

Kalle im Kampf. Kalle, wie er verletzt wurde, blutete, wie er sein Leben aushauchte. Und jedesmal verfolgte ihn Kalles sterbender Blick über weite Stunden des Tages, mindestens so lange bis er sich vergewissern konnte, dass der Bruder heil und am Leben war, dass seine Sorgen unbegründet und seine Ängste grundlos waren.

Deshalb würde er Kalle dieses Mal festhalten. Er würde sich an ihn klammern und ihn nicht mehr loslassen, bis dieser ihm versprach, mit dem Unsinn aufzuhören.
Soviel schuldete er ihm. Sascha sagte sich diese Worte immer wieder vor. All die Geburtstage, die der Bruder versäumt hatte, all die Briefe, die er unbeantwortet ließ, all die Anrufe, die er abgewürgt hatte mit dünnen Entschuldigungen, für die er sich im Nachhinein mit Sicherheit selbst schämte. Zumindest glaubte Sascha fest daran, dass in Kalle Schuldgefühle sitzen mussten, die er für seine Zwecke anzapfen konnte. Zum einen, um ihn von der sinnlosen und nicht weniger zerstörerischen als selbstzerstörerischen Tätigkeit abzuhalten. Zum anderen, um den Bruder einfach zu retten, vor sich selbst und seinen Zielen und vor der Gewalt, der er sich täglich aussetzte.

Es war allerhöchste Zeit. Sascha war sich sicher, nicht noch so ein Jahr ertragen zu können. Ein Jahr voller ständiger Ungewissheit und Albträume, die ihn dazu trieben, sich in Friedensbewegungen zu engagieren, gegen die militärische Einmischung seines Landes zu protestieren, unabhängig davon, wie sehr dieses Verhalten den Vater gegen ihn aufbrachte.
Und Kalle selbst?
Er war intelligent. Sascha war sich sicher, dass auch Kalle irgendwo den Denkfehler erkannte, der ihn dazu trieb, so beherrscht seine Pflicht zu erfüllen.
Sascha konnte sich nicht vorstellen, dass Kalle dies freiwillig tat, dass er die hohlen Gründe glaubte, welche die Riege patriotischer Führungspersönlichkeiten ihm vorbeteten.

Nein, Kalle tat es für ihren Vater, weil dieser es wünschte. Und Sascha hoffte inständig, dass er ausreichend Einfluss auf seinen Bruder ausüben konnte, um ihn von diesem Wunsch abzubringen.
Denn dass der Ältere ihn liebte, stand außer Frage.

Kalle versuchte es zu verbergen, als handelte es sich um eine Schwäche, die er nicht zugeben wollte oder durfte. Und doch bemerkte Sascha bei jedem ihrer Wiedersehen, wie Kalles Augen aufleuchteten, wenn er ihn erblickte, wie ein Strahlen von ihm auszugehen schien, das weder seine Mutter noch sein Vater noch irgendjemand anderes in ihm erwecken konnte.

Und wenn Kalle ihn an sich zog, und Sascha sich gegen den Größeren schmiegte, dann hörte er den leisen Seufzer der Erleichterung. Fast als hätte Kalle sich ebenfalls Sorgen um ihn gemacht, um Saschas Wohlergehen und als sei er froh, ihn gesund und im Ganzen wiederzusehen.

Auch dafür machte Sascha die Gewalttätigkeiten verantwortlich, denen Kalle ausgesetzt war. Kein Wunder, dass er ständige Gefahr erkannte, sah er doch ständig junge Männer, die nicht mehr dorthin zurückkehrten, wohin sie gehörten.

Sascha seufzte. Eigentlich hätte er Kalle schon längst erwartet, und im Grunde fragte er sich auch, wo ihre Eltern blieben. Nicht dass er sie wirklich vermisste, aber zum Zeitpunkt von Kalles Ankunft, dachte er doch, dass sie sich zumindest im Haus aufhalten sollten.
Doch auch ohne ihre Anwesenheit ließ die Spannung sich geradezu mit Händen greifen. Sascha fühlte sie, wurde er der geduckten Haltung der Angestellten ansichtig, die durch die Flure eilten, hastig noch einen letzten Schliff an die Dekoration anlegten, ein weihnachtliches Bukett geschmackvoll in der Ecke platzierten oder mit Staubtuch und Pinsel zum wiederholten Mal einen bereits glänzenden Bilderrahmen abstaubten.

Sascha wusste sehr gut, dass gerade während der Feiertage die Nerven seiner Eltern nur allzu leicht blank lagen, und ihre Explosionen, wenn sie nicht gerade ihn selbst trafen, doch meistens mit der Entlassung eines oder mehrerer Angestellten endeten.
Im Grunde sollte er also eigentlich froh sein, dass sie ihm noch einen Augenblick der Ruhe vor dem Sturm gönnten, bevor sie wieder alles durcheinanderwirbelten, ihre Forderungen stellten und vor allem Kalle in Beschlag nahmen. Dann hielten sie ihn von Sascha fern, bis dieser die Sehnsucht nicht mehr ertrug, und den anderen in sein Schlafzimmer verfolgte, ins Bad oder nur irgendwohin, wo er ihn einen Moment für sich alleine haben konnte.

Sascha hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich dafür zu genieren.
Doch etwas war an diesem Tage anders. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Und Sascha konnte nicht greifen, was es war.
Nicht nur die Stille im Haus lastete schwer auf seiner Seele, auch die frühe Dunkelheit, die sich über die Welt senkte, erschien ihm als Vorbote eines größeren Unheils, an das zu denken er sich weigerte.

Lieber gedachte er des Wiedersehens mit seinem Bruder. Wie immer wartete er an seinem Fenster, beobachtete die Auffahrt und fühlte sein Herz klopfen in Erwartung des ersten Aufblitzens der hochgewachsenen Erscheinung, die mit eleganten Bewegungen aus der Limousine stieg, und deren erster Blick wie ferngesteuert als erstes in die Höhe ging, zu Saschas Fenster.

Kalle wusste, dass er ihn dort oben erwarten konnte, und wusste ebenso wie sehnsüchtig Sascha auf das erste Lächeln wartete, das der Bruder ihm schenkte.
Sascha lehnte seine Stirn gegen die Glasscheibe. Die kühle Oberfläche fühlte sich angenehm an gegen seine erhitzte Haut.

Irgendetwas stimmte nicht. Trotz der Wärme, die Nervosität in ihm hochsteigen ließ, spürte Sascha einen Schauer, der seine Wirbelsäule herab rieselte.

Irgendetwas stimmte mit Sicherheit nicht. Sie alle sollten bereits hier sein. Kalle ebenso wie seine Eltern. Und er konnte und wollte sich nicht ausmalen, was ihnen dazwischen gekommen sein konnte. Sascha schluckte, und dann fuhr er mit einem erschrockenen Aufschrei zusammen, als das Telefon klingelte, schrill und unangenehm in der Stille.

Er lauschte der Stimme des Mädchens, hörte ihre aufgeregte Antwort, auch wenn er die Worte nicht verstehen konnte. Sascha blieb wie festgewachsen an der Scheibe stehen, und schloss die Augen. Er wollte es nicht wissen.

Ihre Schritte näherten sich seiner Tür und Sascha rührte sich nicht, als sie klopfte. Vielleicht ging sie wieder, wenn er sich nur still genug verhielt.
Doch sie ging nicht. Sie klopfte wieder. Und dann hörte er ihre Worte, und obwohl er versuchte, seinen Ohren vor diesen zu verschließen, drang ihr Sinn doch unerbittlich in sein Bewusstsein.

„Es ist ihr Bruder“, sagte die Stimme wie von Ferne, als wäre sie unwirklich, so wie Sascha hoffte, dass sie es sei.
„Er… er wurde im Einsatz verletzt.“ Ihre Stimme zitterte. Natürlich zitterte diese, dachte Sascha zusammenhanglos. Sie liebte Kalle. Jeder liebte Kalle.

„Er lebt“, fuhr sie fort. „Aber es ist ernst. Ihre Eltern warten bereits im Krankenhaus. Sie lassen ihn einfliegen und… und werden Ihnen dann weiteres mitteilen, sobald er eingetroffen ist.“
Sascha drehte sich um mit geschlossenen Augen. Er fühlte sich, als befände er sich in Trance. Seine Lippen waren taub. Er konnte sie nicht bewegen, um zu antworten. Und dann hörte er, wie ihre Schritte sich wieder entfernten, fraglos um die Neuigkeit im Haushalt zu verbreiten.
Es fühlte sich an, als verließe Sascha jede Kraft, jede Spannung des Körpers, als er in sich zusammensank, bis er hart auf dem Boden aufkam. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, zog die Beine an und umschlang sie mit seinen Armen, als könnte er die Wahrheit abhalten. Kalle lebte. Er lebte doch, und dennoch gelang es Sascha nicht den namenlosen Schrecken in sich niederzukämpfen, der ihn erfasst hatte. „Er lebt“, flüsterte er wieder und wieder, als könnten ihm die Worte helfen. „Er lebt.“

Und als er seinen Kopf auf die Arme legte, und die Tränen zu fließen begannen, da tauchte Kalles Bild vor ihm auf, so wie er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Gesund und lächelnd, schön und stark, so perfekt wie Sascha es niemals hoffen durfte zu werden.

Und seine Tränen flossen weiter, schüttelten seinen Körper in lautlosem Schluchzen. Doch dann verblasste das Bild und Saschas Tränen versiegten. Sein Gesicht brannte, als er es in seinen Händen barg, und Kalle wieder vor ihm Gestalt annahm.
Er lächelte immer noch, doch um seine Augen bildeten sich Fältchen. Seine Schläfen durchzogen silberne Haare und auf seiner Wange entdeckte Sascha eine auffallend hervortretende Narbe. Ausgeheilt, alt, Zeichen eines längst vergessenen Vorfalles aus seiner Jugend, eines Absturzes im Einsatz. Und Kalle zwinkerte ihm zu, als sähe er Sascha, als wüsste er, dass dieser ihn beobachtete. Dann strich er sich mit der Hand über die Wange und Sascha bemerkte das Fehlen des kleinen Fingers.
„Ist das alles?“, flüsterte er und zuckte beinahe zusammen, als die Gestalt nickte und in Kalles Stimme antwortete: „Das ist alles, kleiner Bruder.“

„Du hättest tot sein können“, flüsterte Sascha.
Kalle sah ihn ernst an. „Dieses Risiko gehen wir mit jedem Atemzug ein.“ Er blinzelte. „Wir tragen unsere Narben als Erinnerung an die Lektionen, die wir gelernt haben.“
„Dann gehst du nicht zurück?“, fragte Sascha leise und ließ es zu, dass ein Hauch von Hoffnung sich in seine Stimme verirrte.
Um Kalles Lippen zuckte ein Lächeln, verschwand jedoch ebenso schnell wieder, wie es aufgetaucht war.

„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte Kalle. „Genau wie du. Wir beide wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, niemand weiß das. Aber das Geschenk, das uns gegeben ist, trägt die Verantwortung in sich, es zu nutzen, so gut es in unseren Kräften steht.“
„Ein Weihnachtsgeschenk.“ Sascha hob seinen Kopf und öffnete die Augen. Verschwommen, durch den Schleier aus Tränen, erkannte er Kalle, der grüßend seine Hand gegen die Stirn hob in einem flapsigen Gruß.
„Frohe Weihnachten“, sagte Kalle leise, bevor seine Gestalt sich auflöste.
„Frohe Weihnachten“, flüsterte Sascha und lächelte mit tränennassem Gesicht.

Sonntag, 2. August 2009

Sonntag

Sonntag

Wie allseits bekannt handelt es sich beim Sonntag um den Tag des Herrn. Traditionell gesehen bietet es sich demzufolge an, diesen Tag der Freiheit und Freizeit sinnvoll zu nutzen, indem man ihn Besinnung, Besinnlichkeit, Entspannung oder gar der Rückkehr zu den wirklich bedeutenden Aspekten des Lebens widmet, die ansonsten nur allzu leicht und allzu schnell im Trubel des Alltags untergehen.
Kurz gesagt, man könnte in die Kirche gehen. Angenommen zumindest, man hält sich selbst für den Typ, der in der Lage ist, aus dem Besuch einer religiösen Einrichtung persönlichen Nutzen zu ziehen.
Wie ein jeder weiß ist der Kirchgang aus der Mode geraten. Selbst kurzzeitiges Wiederaufflackern der Tendenz, herrührend aus drohenden Krisenzeiten, Gefahr für Frieden und Wohlstand, erlischt im Allgemeinen recht schnell wieder, sobald entweder der Reiz des Neuen verflogen ist, oder man sich an die wackelige Lage in welcher der Mensch sich nun einmal zwangsläufig befindet, gewöhnt hat. Gelingt es uns doch immer wieder gern, die schwankenden, tönernen Füße, auf denen unser Lebensgebilde balanciert, in unserer Vorstellung durch den festen Grund zu ersetzen, der sich aus unserer Einbildung, der Überzeugung von den eigenen Fähigkeiten und dem vagen Vertrauen, über dessen Ursachen länger nachzudenken, uns bereits das Bedürfnis nach Selbsterhaltung, verbietet.
Ausgenommen, der Mensch verfügt weder über das eine noch über das andere. Sind weder Selbstvertrauen noch Urvertrauen in die Wiege gelegt, so gestaltet sich die Entwicklung einer Persönlichkeit als ausgesprochen schwierig, vor allem, wenn sie mit der Endlichkeit des eigenen Lebens in Berührung gebracht wird.
Früher oder später stellt sich dann die Suche nach dem Sinn des Lebens als unbedingte Notwendigkeit heraus. Nicht nur, um die Frage der Fragen beantworten zu können, sondern auch um der lähmenden Angst Herr zu werden, die jeden, und wirklich jeden Menschen im Angesicht des Todes ergreift. Ausgenommen vielleicht es handelt sich um einen ausgesprochen dummen Menschen. Und ganz ehrlich beneide ich ausgesprochen dumme Menschen von ganzem Herzen um dieses Talent. Allein die Gebirge von Gedankengängen, die sie nicht gezwungen sind, täglich mit sich herum zu tragen. Es wäre schön, könnte man seine Gehirnzellen ausknipsen, seine Vorstellungskraft und damit die dunklen Drachenschwänze abschneiden, die den Verstand immer wieder und gerade während der schwächsten Stunden peitschen.
Nun – es funktioniert nicht. Und glaubt mir – ich habe es versucht. Dummerweise führen diverse selbstzerstörerisch anmutende Gewohnheiten durchaus zur Vernichtung von Gehirnzellen, jedoch zur Vernichtung der falschen.
Übrig bleiben immer noch jene, die zuständig sind für die unlösbaren Fragen des Daseins, und jene, die dafür sorgen, dass die Depression an sich zum ständigen Begleiter mutiert.
Es hilft demnach nichts. Früher oder später muss der Mensch sich damit auseinandersetzen, dass auf dieser Welt Dinge existieren, für die er keine Erklärung finden kann. Nicht in diesem Leben.
Was automatisch zu der Frage führt, wie es denn dann um das nächste Leben bestellt ist. Und von diesem Moment an scheiden sich Geister, Gemüter, Theorien, entstehen Streitigkeiten, Konflikte, Kriege.
Gut – selbst sogenannte Religionskriege entstehen niemals um der Religion willen. Unterm Strich, und wie bereits Karl Marx als einer von vielen feststellen durfte, geht es doch immer nur um Macht und Geld, also ums Kapital an sich. Aber die Religion lässt sich so wunderbar vorschieben, packt sie den Menschen doch an seiner emotionalen Ader.
Und wo Gefühle hochkochen, wo Ängste nicht mehr beruhigt werden können, wendet sich der Mensch nach außen, und verwandelt diese Ängste in Aggressionen.
Aber da wollte ich eigentlich gar nicht hin. Die Gefahren der Religion sind allgemein bekannt. Von den positiven Seiten hört man weniger. Und zu recht, denn sie sind nicht so leicht zu entdecken. Nicht für jemanden wie mich.
Nicht für jemanden, der viel zu viel denkt, der ungerne unter Menschen geht, und der sich schon immer schwer damit tat, Orgelmusik zu ertragen, um nur eine der merkwürdig aufstoßenden Elemente im Gottesdienst zu erwähnen.
Nichts gegen Orgelmusik – wenn jemand sie gerne hat. Natürlich versteht jeder Bach-Liebhaber mehr von Musik im Allgemeinen als ich. Aber trotzdem muss ich den Orgelklang doch nicht lieben. Und schon gar nicht muss ich Verständnis dafür aufbringen, dass jahrelang Unsummen an Geldern gesammelt werden für eine neue Orgel, die in meinen ungeschulten Ohren höchstvermutlich nicht anders klingen wird, als das aktuelle Instrument.
Aus dem Stegreif fallen mir mehr als fünfzig Möglichkeiten ein, Geld sinnvoller einzusetzen, als für eine Orgel in einer Kirche, die pro Sonntag von vielleicht zwanzig, höchstens dreißig Besuchern heimgesucht wird, und die nur Weihnachten und Ostern ein volles Haus aufweist.
Gründe, der Kirche fernzubleiben existieren somit ebenfalls unzählige, und um mit den oberflächlichsten zu beginnen, erwähne ich die Orgelmusik zuerst. Punkt zwei wären die Psalmen. Um Himmels Willen! Gott kann nicht wollen, dass wir so etwas singen.
Aber wieder muss ich einräumen, dass ich von Musik nichts verstehe, und von den Feinheiten liturgischer Gesänge noch viel weniger.
Schon zu meiner Zeit als Konfirmandin wurde mir versichert, dass diese Art eintönig hypnotischer, allzu gerne mit Latein gespickter und in getragenem Tonfall vorgetragener Zeilen, dem einen oder anderen, viel zu viel bedeuteten, als dass man es in Erwägung ziehen könnte, diesen Kunstgenuss auch nur hin und wieder zu streichen.
Da muss der gemeine Kirchgänger einfach durch. Und inzwischen frage ich mich, ob nicht nur die geplagten Konfirmanden darunter leiden, sondern vielleicht auch die Besucher, von denen angenommen wird, dass sie ohne dieses aufgeblasene Geschwafel nicht besinnlich werden können.
Ich hege ja schon sehr lange keine Hoffnungen mehr, dass sich an der Musikauswahl Grundlegendes ändern ließe. Und anscheinend mit Recht.
Sollte doch nun eigentlich eine Generation am Ruder sein, die unter Umständen einen Hauch von Modernität in die verstaubten Hallen einziehen ließe.
Offenbar ist sie es nicht. Und es erschüttert mich geradezu, wenn ich junge Leute sehe, die sich freiwillig den vorgeschriebenen traurig-trockenen Gesängen aussetzen. In der Jugend lag doch mal die Hoffnung.
Und schließlich gibt es sie – sie existieren. Lieder, die sich singen lassen. Auch von Menschen wie du und ich, von Menschen, die ihre Stimmen nicht in höchste Höhen oder tiefste Tiefen katapultieren können. Menschen, die, wenn sie eine Note sehen, hauptsächlich raten, wo ungefähr diese gesungen werden sollte, und dann doch immer an der einen und einzigen Stelle beginnen, die sie kennen oder können.
Es gibt Lieder, die mitreißen, und die sich singen lassen. Musik ist eine Macht. Musik baut auf, Singen schüttet Endorphine aus, und ich bin sicher, dass Gott dies gefiele, sollte er existieren.
Ob Gott wollte, dass wir uns durch sonntägliche Lieder quälen, die unendlich deprimieren – das bezweifle ich.
Ich will ja gar nicht mit Gospel anfangen. Mag sein, dass das nicht jedermanns Sache ist. Aber die Richtung stimmt. Wollen wir Gott loben, dann tun wir es nicht für ihn, sondern für uns. Weil wir uns besser fühlen.
Ganz im Ernst – Gott braucht unser Lob wahrscheinlich nicht. Und wenn er es bräuchte, wäre er nicht Gott.
Aber vergessen wir die ganze Musik-Sache. Wie gesagt, ich verstehe davon nichts. Dummerweise foltert mich alleine der Gedanke an Kirchengesänge genug, dass ich Verständnis für jedermann aufbringe, der es vorzieht, sich dieser sonntäglichen Tortur nicht auszusetzen.
Doch lässt sich über einiges hinwegsehen. Und jeder, der seine Schulzeit einigermaßen unbeschadet überstanden hat, besitzt auch die in langen, mühevollen Stunden erworbene Fähigkeit, qualvolle Momente, ob sie jetzt untermalt sind durch Orgelmusik oder durch binomische Formeln, einfach auszusitzen.
Natürlich funktioniert das mit dem Aussitzen nicht mehr, wird man gezwungen, sich zum Gebet zu erheben. Oder zum Glaubensbekenntnis. Oder zur Verlesung des Evangeliums.
Gegen das Verlesen von Bibelstellen habe ich in der Regel nichts, ausgenommen es handelt sich um die schrägen Ansichten des Apostels Paulus, um nur einen zu nennen.
Aber die Bibel ist und bleibt immer noch Literatur, ein Stück Kulturgeschichte. Und sich dorthinein zu vertiefen, kann doch immer wieder lehrreich sein.
Sollte dies nicht der Fall sein, so erinnern wir uns an die Schulzeit und schalten für einen Moment ab. Ich denke in diesen Augenblicken sehr gerne an meine Lieblingsserie, den vor mir liegenden Tagesplan oder stelle mir die immer wieder aktuelle Frage, warum man eigentlich am Sonntag nicht kehren oder Wäsche aufhängen soll, um es zu vermeiden die Nachbarn zu beleidigen, jedoch niemand dagegen protestiert, dass in Café, Restaurant und Eisdiele, die Dienstleistenden für den König Gast springen. Von Krankenhauspersonal, Busfahrern oder Polizisten will ich gar nicht anfangen.
Wie dem auch sei – der Augenblick der gedanklichen Auszeit neigt sich dem Ende zu, und wir nähern uns den erheblich stärker fordernden Aufgaben. Stehen bleiben und zugleich das Glaubensbekenntnis vor sich hin murmeln. Wahlweise das Vaterunser oder andere vorgeformte Satzgebilde.
Mit dem Vaterunser kann ich leben. Immerhin bin ich ein Fan von Jesus – irgendwie.
Aber das Glaubensbekenntnis stellt doch immer wieder von Neuem eine Gewissensprüfung dar. Eine schwere Prüfung.
Am besten ist man noch damit bedient, es einfach vor sich herzusagen, und den Verstand dabei zu deaktivieren. Denn hin und wieder schleicht sich die eine oder andere Zeile ein, die, wenn man so will, ein wenig schwieriger zu verdauen ist.
Immerhin gesteht man doch in aller Öffentlichkeit intimes, persönliches Gedankengut.
Oder man verdreht die Wahrheit. Oder man lügt einfach frech vor sich hin. ‚Ich glaube an Gott, den Vater‘ mag ja noch angehen. Vielleicht glaube ich auch an Jesus Christus. Doch glaube ich wirklich an die ‚Jungfrau‘ Maria? Und das, obwohl mir in Schule, Konfirmandenunterricht und während zahlreicher Dokumentationen zu diesem Thema der Gedanke an die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes doch einigermaßen suspekt wurde, sollte er denn überhaupt jemals existiert haben.
Warum verkündige ich also, dass ich daran glaube. Oder an die Gemeinschaft der Heiligen. Wer sind denn eigentlich diese Heiligen?
Und ist es nicht einer der wenigen Vorteile der evangelischen Kirche anzugehören, dass ich mich eben nicht mit diesen Heiligen herumschlagen muss?
Denn im Grunde schätze ich doch die Einfachheit. Eine Religion kann ohne weiteres mehr als einen Gott aufweisen – umso besser, dann lässt sich nach Geschmack wählen. Aber die Dreieinigkeit? Nicht einmal die Erfinder dieser Konstruktion wussten eigentlich, was sie damit meinten.
Aber belassen wir die theologischen Feinheiten bei den Menschen, die sich dafür interessieren. Bleibt für mich nur die Frage, ob ich direkt zur Hölle fahre, weil ich ein Glaubensbekenntnis ausspreche, von dem ich – sagen wir es vorsichtig – nicht hundertprozentig überzeugt bin.
Und wieder komme ich zu dem Schluss, dass Gott Besseres zu tun hat, als mich zur Hölle zur schicken. Sofern er existiert. Oder sie.
Denn fragen wir uns doch, was der Gott oder die Göttin davon hat, dass wir ein auswendig gelerntes Bekenntnis vor uns hin beten. Natürlich nichts. Wäre er darauf angewiesen, hielte ich das doch für ein wenig traurig.
Wieder geht es also nur um uns – um das Gemeinschaftsgefühl. Ich brabble gemeinsam mit einer Gruppe halbwegs Gleichgesinnter etwas vor mich hin, bin froh, wenn die ganze Prozedur überstanden ist, ich meiner Pflicht genügt habe und mich wieder meinem Leben widmen kann.
Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Nicht im Evangelischen. Wir kennen keine Beichte und somit keine wirkliche Vergebung. Was wir glauben oder nicht glauben, findet zwischen uns und dem Herrn statt. Ihm – denn in der evangelischen Religion handelt es sich doch um eine weitgehend männlich dominierte Angelegenheit. Wir haben Gott den Vater und den Sohn. Eine Menge Schuldgefühle, ein paar schlichte Kerzen und sparsame Dekoration.
Keine Engelchen, keine Putten, kein Glitzer, Glimmer, Gemälde-Pomp. Was durchaus seine Vorteile hat, aber auch ein wenig öde wirken kann. Manchmal.
Nun mag sich vielleicht der eine oder andere fragen, warum um Himmels willen, ich oder meinesgleichen überhaupt in die Kirche gehen, wenn wir doch nur schimpfen können. Niemandem täte es weh, würde einer mehr weg bleiben. Im Gegenteil – die Sache sähe ungleich überschaubarer aus, und Personal könnte abgebaut werden.
Zum einen schimpfe ich nicht. Normalerweise nicht. Das tue ich nur hier – und vor allem, weil es niemand liest. Und zum anderen ist da die Predigt, die es herausreißen könnte, und manchmal sogar auch tut.
Natürlich könnte ich auch Weisheiten aus einem guten Buch ziehen. Aber hin und wieder hört man gerne die Meinung eines Menschen, der vielleicht sogar etwas zu sagen hat. Das kommt vor.
Vorausgesetzt natürlich man hört zu, und verfällt nicht der Schul-Schlaf-Krankheit. Denn auch das kommt vor. Vor allem am Sonntag-Morgen.
Die Kirche bietet also die Chance auf den einen oder anderen positiven Gedanken. Denn darum geht es doch – um Optimismus. All dem Übel in der Welt doch und wider besseren Wissens etwas Gutes abzugewinnen. Oder wenigstens sich die Möglichkeit einzureden, dass vielleicht doch hinter all dem noch etwas anderes steckt. Etwas, das erklärt, Sinn verleiht, tröstet. Das Strauchelnde stützt und Gefallenen aufhilft.
Und selbst wenn sich trotz detaillierter Suche nichts dergleichen entdecken lässt, so erfahren wir doch auf diese Weise, dass wir in dieser Suche nicht alleine sind. Selbst wenn wir zu keinem Ergebnis kommen, so können wir Menschen erblicken, die vielleicht und wenn vielleicht auch nur zwischenzeitlich zu einer Erkenntnis gekommen sind. Menschen mit Verständnis für die Fragen, auf die es keine Antwort geben kann.
Und nicht zuletzt wird zum guten Schluss noch etwas besonders Nettes serviert: der Segen. Mag man davon halten, was man will, aber der Segen wird verschenkt. Er lässt sich mitnehmen und im Herzen bewahren.
Er tröstet, auch wenn man nicht an ihn glaubt. Denn was anderes ist er als ein gut gemeinter Wunsch – ein Segenswunsch. Und gebrauchen können wir ihn alle.
Es gibt also Gründe, die Kirche aufzusuchen, ebenso wie es Gründe gibt, darauf zu verzichten.
Und wenn ich ganz und gar ehrlich bin, so gehöre ich zu denen, die eigentlich eher darauf verzichten, denen es zu anstrengend ist, sich all dem auszusetzen. Den Blicken fremder Menschen, den Begrüßungen, dem Aufstehen und Hinsetzen, dem vergeblichen Versuch so etwas ähnliches wie Töne aus der Kehle zu pressen oder dem immer wieder aufsteigenden Gewissenskonflikt während des Aussprechens oder auch nur des Zuhörens manch eines Satzes, der eben unglücklicherweise gegen den Strich geht.
Ich gehe trotzdem – einmal im Monat. Und ich habe sogar eine Entschuldigung. Denn da gibt es noch eine Sache, für die Kirche gut zu gebrauchen ist. In manchen Bereichen des Lebens sind es interessanterweise immer wieder die Religionen, die sich langfristig und unermüdlich einem Engagement verschreiben. Irgendeinem Engagement. Und es steht jedermann frei, zu wählen, was ihm zusagt. Denn die Palette ist groß, und sie wird sicher nicht schrumpfen.
Um nur eines zu nennen, stolperte ich über den Fairen Handel und blieb dort hängen. Solange der Hunger in der Welt einen der zahllosen Schandflecke auf ihrem Angesicht darstellt, solange bleibt es eine Notwendigkeit, darauf hinzuweisen, wie viel Macht der einzelne Einkäufer auf die Entwicklung der Wirtschaft ausüben kann.
Dumm, dass meine gelegentlichen Aufklärungsversuche sich auf nichtsahnende und unschuldige Kirchenbesucher erstrecken. Denn allein schon die Tatsache, dass diese es für notwendig halten, den göttlichen Beistand zu suchen, zeigt auf, dass sie unter Umständen ihren Blick ein wenig über die Grenzen der eigenen Existenz hinaus erweitern, und demzufolge bereits von den katastrophalen Ungerechtigkeiten im Handel erfahren haben.
Dafür spricht auch, dass ich gelegentlich sogar etwas verkaufe. Und dass ich wertvolle Tipps erhalte von Gleichgesinnten. Wir bleiben also unter uns, eine Gruppe suchender Individuen.
Nur weiß keiner von ihnen, in welche Höhen meine Probleme mit diesem regelmäßigen Kirchgang von Zeit zu Zeit anwachsen.
Und eigentlich kann ich nur beten, dass sie es auch nie erfahren werden.