Donnerstag, 3. September 2009

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autor: callisto24

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Unterwegs

Der kleine Junge bemühte sich Schritt zu halten. Er lief weiter, obwohl er sich längst am Ende seiner Kräfte befand. Der Weg nahm kein Ende. Jeder kämpfte für sich alleine. Jeder einzelne von ihnen befand sich auf der Flucht. Jeder einzelne lief um sein Leben. Sekunden dehnten sich zu Minuten. Diese weiteten sich zu Stunden, endlosen Stunden.
Der Tag begann mit dem Aufgehen der Sonne. Sie gingen, und der Junge sah zu, wie die Sonne über den Himmel wanderte. Sie stieg langsam, jedoch unaufhaltsam, bis sie den Zenit erreichte. Genauso unaufhaltsam, wie sich die Menge an Menschen vorwärtsschleppte, bewegte der brennende Stern sich auf seiner ewigen Reise. Schritt für Schritt.
Die Straße endete nicht. Der Weg führte weiter und der Junge wusste nicht, wohin er führte. Er wusste nur, dass er dabei bleiben musste. Dass er darauf angewiesen war, diesen Weg zu gehen, ihn mit den anderen zu gehen. Dass er verloren war, wenn er aufgab. Man hatte es ihm erklärt. Deutlich erklärt und das wieder und wieder, solange bis er verstanden hatte. Er verstand immer noch, verstand den Gesichtsausdruck der Menschen, die mit ihm sprachen. Sie waren ernst, sie hatten Angst. Und Angst empfand er auch. Große Angst.
Die Geschichten, die er hörte, die er zufällig mit anhörte, erschreckten ihn. Und mehr als er sich noch etwas anderem bewusst war, so spürte er seine Defizite. Er spürte seine eigene Größe oder das Fehlen derselben. Der Junge war klein und er wusste es. Die Erwachsenen sahen auf ihn herab, wenn sie ihn ermahnten, wenn sie ihn dazu bringen wollten mitzuhalten. Oder auch, wenn sie einfach nur an ihm vorbei liefen. Mit gesenktem Kopf, müden Augen und zusammengepressten Mündern.
Jeder ging für sich alleine. Jeder versuchte sich zu retten.
Der Junge schaffte es nicht. Wenn der Tag begann, versuchte er sich vorne zu halten. Er wusste, wie wichtig es war, in der Menge zu bleiben. Er wusste, dass er ohne die anderen verloren war. Verloren in einer Welt, die aus Trümmern bestand.
Und tief in sich war er sich darüber im Klaren, dass es so nicht sein durfte. Dass die Welt anders aussehen sollte, dass sie einmal anders aussah.
Es musste einmal eine Zeit gegeben haben, in der nicht die Zerstörung herrschte. Eine Zeit, in der Flucht nur ein Wort war.
Der Junge fragte sich nicht wovor er floh. Von Soldaten hatte er gehört. Von Mord und Tod. Und Mord und Tod waren dabei ihm vertraute Begriffe zu werden. Ebenso wie der Krieg es war. Denn der Krieg begleitete ihn, solange er denken konnte, sein Leben lang.
Die Sonne wanderte weiter. Sie überschritt den Zenit, ließ die Schatten der Wandernden, den Schatten des Jungen länger werden. Und er wusste, was das bedeutete. Je größer sich die Schatten auf dem Grund dehnten, desto schwerer wurde es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nicht dass es sonst leicht wäre. Doch mit dem Beginn der zweiten Tageshälfte, wenn die Erschöpfung stieg, wurde es beinahe unmöglich, sich weiterzuschleppen. Nicht nur die Füße schmerzten, es war der ganze Körper. Jede Bewegung wurde zur Qual, jeder Meter ein Kampf. Ein Kampf, den der Junge drohte zu verlieren, jeden Tag von neuem. Immer öfter stieg in ihm der Wunsch empor, sich einfach auf den Grund sinken zu lassen, die müden Glieder auszuruhen, seinen schmalen Körper auf den rauen Stein der Straße zu senken, ganz egal wo er war, was sich unter ihm befand, und wohin er gehen sollte.
Doch er konnte nicht. Er durfte seiner Sehnsucht nicht nachgeben. Denn die Angst, die ihn umgab war größer, weitaus größer. Wenn er sich fallen ließe, so könnte er nicht mehr aufstehen. Nie wieder. Und die Dunkelheit würde ihn bedecken und ersticken. Denn die Dunkelheit wäre das Einzige, das ihm bliebe.
Denn dann wäre er alleine. Er wusste, dass die anderen nicht umdrehen konnten. Selbst wenn sie es bemerkten, selbst wenn sie es wollten. Sie konnten nicht umdrehen. Sie mussten weitergehen, so wie er weitergehen musste.
Vielleicht war der Krieg beendet, doch die Flucht war es nicht.
Und die Menge entfernte sich von ihm. Die Erwachsenen waren schneller als er, größer. Eine große, graue Masse, die unermüdlich vorwärtsschritt, die nicht aufzuhalten war, nicht aufgehalten werden wollte. Eine Masse, die sich über die Straße wälzte, weiter und weiter, ebenso wie die Sonne über ihm. Und doch begannen die Menschen das Licht zu vermissen, das von der Sonne ausging.
Das war gut so, denn jedes Licht erlosch früher oder später. Jedem Morgen folgte der Abend. Die Sonne bedeutete laufen, die Dunkelheit bedeutete Rast. Und wenn der Junge es schaffte, wenn er nicht versagte, wenn es ihm gelang, die sich immer weiter von ihm entfernende, graue Masse im Auge zu behalten und weiterzulaufen, dann würde alles gut. Wenn er nur weiterliefe In die Richtung, in der die anderen verschwanden, solange bis er sie einholte.
Denn einholen musste er sie. Der Junge war nicht schnell genug, um mit ihnen zu gehen. Seinen kurzen Beinen gelang es nicht mit ihrem Tempo mitzuhalten. Er blieb zurück, je weiter der Tag fortschritt. Unaufhaltsam, ebenso wie der Gang der Sonne unaufhaltsam war. Ebenso wie der Marsch der Menschen nicht gestoppt werden konnte.
Wovor sie auch flohen, es musste schlimmer sein, als dieser Weg, schlimmer als die Erschöpfung, als das nächtliche Weinen und das Stöhnen, das den vielen Kehlen entwich, die nicht mehr fähig waren, Worte zu bilden.
Angst trieb sie an, und Angst trieb den Jungen an. Die Angst davor allein zu sein, der schreckenerregenden, unvorstellbaren Gefahr alleine gegenüber zu stehen. Einer Gefahr, die so groß und so grauenvoll sein musste, dass der Krieg im Vergleich zu ihr nur noch zu einem Lebensumstand wurde.
Krieg erschreckte niemanden mehr. Häuser waren zerstört, Nächte in Kellern verbracht worden, das Geheul der Sirenen und das Nahen der Bombenflieger die einzigen Laute, die zählten.
Es blieb nichts als die Flucht und sie nahm kein Ende. Die Menge entfernte sich, die grauen Gestalten wurden kleiner und kleiner. Sie schrumpften, versuchten am Horizont zu verschwinden. Der Junge versuchte, sie aufzuhalten, doch er konnte es nicht. Sie gingen weiter, liefen ohne sich umzusehen.
Und so lief auch der Junge weiter, trotz seiner schmerzenden Beine, trotz seiner tauben Glieder, trotz des brennenden Durstes und des quälenden Hungers.
Er lief, weil er keine Wahl hatte, weil er weitergehen musste, weil es weitergehen musste. Auch wenn er nicht wusste, was es war.
Dennoch zwang es ihn vorwärts, bis die Großen selbst vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bis sie sich entschieden Halt zu machen, die Nacht willkommen zu heißen, ihre Gebete in die Dunkelheit zu schicken.
Dann kam er ihnen näher. Dann ging er langsam, Schritt für Schritt, auf die anderen zu. Unaufhaltsam, unermüdlich. Das war sein Leben.