Sonntag, 18. Oktober 2009

Klan

Titel: Durchschnittsfamilie
Autor: callisto 24

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Beschäftigen wir uns mit der Interaktion innerhalb einer Durchschnittsfamilie. Obwohl es sich in diesem Fall im Grunde nicht direkt um eine Durchschnittsfamilie handelt. Wenn wir ehrlich sind, fällt diese Familie sogar in mehr als einer Hinsicht aus dem Rahmen. Aber besehen wir uns die Lage objektiv, so springen vorerst weder Ecken noch Kanten ins Auge. Erst bei genauerer Betrachtung offenbaren sich die unschönen Wahrheiten, der versteckte Hass und die verwirrten, verwischten und durcheinandergewirbelten Gefühle, die zu erkennen, zu analysieren, ja selbst auseinanderzudividieren dem Familienmitglied in der Regel das Werkzeug abgeht. Einige Jahre intensiver Therapie können hilfreich erscheinen, um Mechanismen aufzudecken, die nur allzu negative Folgen nach sich ziehen können. Doch andererseits nützt auch diese Offenbarung letztendlich nicht mehr, als ein endgültiger Rückzug es tun könnte.
In besagter, angesprochener Familie kommt es nun zu den üblichen, Familientreffen, denen aus vielerlei Gründen positive Auswirkungen zugeschrieben werden. Als solche seien erwähnt die unweigerlich auftretenden Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Liebe, der Verbindungen, die so deutlich mit den Banden des Blutes zusammen hängen. Ob da nun Blut im Spiel ist, oder nicht.
Und hin und wieder legen diese Familientreffen ob absichtlich oder unabsichtlich dar, worin die Problematik, das verborgen schwelende Unheil liegt.
In dem Fall, auf den wir uns hier beziehen, war es die unschuldig vorgebrachte Bemerkung, den bevorstehenden Urlaub betreffend, die offenbar verschiedene Fässer zum überlaufen brachte, ohne dass diese sich ihrer Fülle vielleicht sogar bewusst waren.
Denn so erzählte der Sohn der Familie in Gemeinschaft mit Frau und Kindern davon, einer bevorstehenden Reise ins Auge zu sehen. Worauf die Vertreterin jener Familie, gut, eine der Vertreterinnen, nämlich seine Mutter, mit der kurzen Frage konterte: „Schon wieder?“
Nun beharre ich persönlich doch auf meiner Überzeugung, dass jene Frage in aller Unschuld und bar jeder bösen Absicht oder anklagender Hintergedanken gestellt worden war. Immerhin handelte es sich bei der Fragestellerin um eine Frau. Und wie wir alle wissen, sind Frauen schnell mit dem Wort. Oftmals schneller als mit ihren Gedanken, die zudem noch in eine vollkommen andere Richtung gehen können, als ein Sprössling, noch dazu einer vom anderen Geschlecht, sich ausmalen könnte.
Wen sollte es also wundern, dass eine Äußerung wie die angegebene, falsch verstanden wurde und noch dazu in einer Kehle landete, die daran zu ersticken drohte. Oder wie anders lässt es sich erklären, dass der erwähnte Sprössling, also der im Begriff abzureisen Stehende, lautstark zurückbellte.
Und nicht nur das. Er erklärte wortreich und mit geradezu unüberhörbarer Deutlichkeit, dass er sozusagen niemals in den Urlaub fahre, täglich vierundzwanzig Stunden im Dienste von Job und Familie tätig sei und auch sonst jedwede Anschuldigung weit von sich weise.
Nun gut. Stellt sich die Frage, wo er eine Anschuldigung gehört hat. Denn die erwähnte Mutter reagierte mit großen Augen und zitternden Lippen. Und für eine redegewandte Dame wie sie äußerst auffälligem Schweigen. Für den neutralen Beobachter blieb zu erkennen, dass sie sich bei ihrer Frage wenig bis nichts und schon gar nichts Böses gedacht hatte. Oder vielleicht doch?
Man sollte auch die Verschlagenheit einer Durchschnittsmutter nicht unterschätzen. Denn die Tatsache bleibt, dass der erwähnte Sohn, und dies wurde maßgeblich im Familienkreise zu einem späteren Zeitpunkt, bei dem jener selbstverständlich nicht anwesend war, diskutiert, doch recht häufig verreiste. Zum puren Vergnügen verreiste, nicht etwa geschäftlich. Und warum auch nicht? Wer mache ihm daraus einen Vorwurf?
Was war hier also vorgefallen? Prallte das Schuldgefühl eines Sohnes, der sehr gerne reiste mit der Frustration einer Mutter zusammen, die ihm diese Möglichkeiten neidete? Eskalierte die Situation aus den Gründen verdrängten schlechten Gewissens und den unausgesprochenen, doch dafür angedeuteten Vorwürfen, die das schlechte Gewissen verstärkten und damit zur Katastrophe führten? Oder wie anders lässt es sich erklären, dass ein kurzer, einfacher Dialog zu einer jener Nachrichtenmeldungen führte, die das Auslöschen einer Familie beinhaltete inklusive des Selbstmordes des Täters.
Welcher der Betreffenden den Abzug drückte, möge jeder für sich selbst entscheiden. Nur soviel sei gesagt: Es muss nicht immer das männliche Chromosom als ausschlaggebend für Gewalttagen zeichnen. Nicht immer. Auch wenn die Natur sich meistens doch ihre Bahn bricht.

Samstag, 17. Oktober 2009

Knospe

Titel: Knospe
Autor: callisto24
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Ein junger Mensch könnte vergleichbar sein mit einer Knospe. Die Farben sind noch blass, die Blütenblätter zart und empfindlich. Sie schützen sich mit einer festen Hülle, eine Kapsel, die den weichen Kern bewahrt. Sind junge Menschen auch so?
Manche vielleicht. Nico ist es auf jeden Fall. Was nicht gut ist, denn Nico ist ein Junge. Man mag Mädchen oder junge Frauen mit Blüten vergleichen, aber was Jungen angeht, so besteht in dieser Beziehung zweifelsohne eine Hemmschwelle.
Die größte Schwierigkeit liegt für Nico in der Tatsache, dass er selbst die Kapsel, die sein Inneres schützt, nicht als Schutz wahrnimmt. Sie fühlt sich für ihn ebenso weich und nachgiebig an, wie die gefalteten samtenen Blätter, die sich tief in ihm zusammenpressen, als hätten sie Angst davor, sich zu entfalten und ihre Schönheit zu zeigen.
Und so verbarg sich Nico, verbarg den Reichtum, der in ihm lag, ebenso wie er versuchte, sein Äußeres so gut es ihm möglich war, zu verstecken. Natürlich war dies nicht möglich. Nico war da, er existierte, beanspruchte seinen Platz im Leben, auch wenn er sich tief innerlich dafür schämte. Vielleicht lag darin der Grund, dass er es vorzog für sich zu sein, Tätigkeiten nachzugehen, die er alleine ausführen konnte, Spiele zu spielen, die ihn nicht dazu zwangen, sich zu präsentieren, seine Erscheinung, sein Wesen Menschen vorzuführen, die ihm fremd waren, denen er fremd war, und denen gegenüber er sich stets unterlegen fühlte.
Das Gefühl der Unterlegenheit war kaum abzuschütteln, quälte, und hielt ihn davon ab, der zu sein, der er sein sollte.
Denn genauso in sich gefaltet, versteckt und verborgen wie die Innersten aller feinen Blütenblätter, wuchs auch in Nico die Überzeugung, dass er zu etwas bestimmt war. Eine Bestimmung, die er nur ahnte, die er nicht erfassen konnte, die keine Gestalt annahm, so oft er auch um die bloße Idee herumtanzte. Und das verunsicherte Nico. Wer sagte ihm, dass er nicht irrte? Wer sagte ihm, dass die Bestimmung, der er folgen sollte, nicht nur eine Illusion war, eine Einbildung, auf die zu vertrauen von nicht mehr als reiner Dummheit zeugte.
Vielleicht verdiente er es nicht besser, als für immer in dieser Kapsel eingesperrt zu bleiben, so klein, so unscheinbar, so versteckt wie nur möglich. Wenn sich in ihm nichts befand als verkrüppelte Ansätze, farblose Stümpfe, die nicht dafür geschaffen waren, je das Sonnenlicht zu erblicken, dann fällte sein Instinkt doch die richtige Entscheidung, hielt er ihn davon ab, sich in die Weite der Welt zu wagen, das Geheimnis zu präsentieren, das in ihm schlummerte.
Junge Menschen schwanken zwischen den Extremen. Und auch Nicos Gefühle veränderten sich. Doch selbst wenn er die gefalteten Blätter in sich drängen spürte, die Kraft fühlte, die sich befreien wollte, die Kapsel sprengen, entfalten und zeigen, was sich unter der Schale befand, gelang es ihm, diese geschlossen zu halten. Mochte auch das Leben darunter pulsieren, der Wunsch nach Befreiung größer und stärker werden mit jedem Tag, so nahm auch die Angst davor zu, was nach dieser Befreiung geschähe.
Denn stünde er bloß und offen in voller Blüte, so befände er sich auch in einer ausweglosen Position, einer Lage, aus der es keinen Rückzug mehr gäbe. War die Kapsel erst gesprengt, so konnte keines der zarten Blätter jemals wieder in ihren Schutz zurückkehren. Sie wären frei und schutzlos den Elementen, der Kritik, der Vernichtung ausgesetzt, die früher oder später und unweigerlich auf die eine oder andere Weise einsetzten. Und so krümmte sich Nico – wenn überhaupt möglich – noch stärker in sich zusammen, versuchte geringer zu sein, unscheinbarer, und letztendlich zu verschwinden.
Das Wichtigste war, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, unter dem Radar zu reisen und das Ende der Reise stets im Blick zu behalten. Einfach und schlicht, um nicht verrückt zu werden in der endlosen und grenzenlosen Weite des Seins.
Nico blieb dabei, blieb klein, blieb versteckt und seine Knospe verkümmerte in ihrer Schutzhülle. Nicht weil seine Pflanze zu wenig Nahrung, zu wenig Licht oder Erde erhielt, sondern weil die Hülle, die ihn umgab schwach war, ein Hauch nur, aus dem er sich weder befreien, noch sicher fühlen konnte.
Eine ewige Knospe, stets vor der Blüte, bis sie verkümmerte, bis sie vertrocknete und das Alter ihr die Kraft raubte, so verblieb Nico. Und er fühlte sich unglücklich dabei, traurig, schlecht. Unvollständig, stehen geblieben in einer Phase, die keinen Stillstand erlaubte. Nico konnte weder vor noch zurück.
Auch ein alter Mensch kann einer Knospe gleichen. Und vielleicht verbirgt er den in sich gefalteten Reichtum, den er in seiner Jugend nicht wagte zu zeigen. Entscheidend bleibt, dass er eines Tages das Wagnis eingeht, die Schale sprengt, den Reichtum zeigt, Blätter und Farben entfaltet und sich all den Risiken aussetzt, die für jede Blume da draußen wartet.
Auch Nico sollte dies tun. Die Welt rief nach ihm. Doch je mehr an seiner Kapsel geklopft, je stärker an seinem Stiel gerüttelt wurde, desto kleiner krümmte er sich, desto winziger wollte er sein. Solange, bis die Knospe hinab fiel und auf dem harten Boden auseinanderbrach. Wie schön hätte seine Blüte sein können. Nicht zwangsläufig im herkömmlichen Sinne. Vielleicht wäre er keine Rose, keine Dahlie, keine Tulpe geworden. Vielleicht ein unscheinbares Gebilde, dessen Wahrheit erst auf den zweiten Blick sich offenbarte. Wenn auch dafür umso schöner, heller, vielleicht auch filigraner und dunkler, mystisch oder verrucht.
Nico darf keine Knospe bleiben.

Stern

Titel: Stern
Autor: callisto24

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„Geh nicht“, flüsterte Lasse in Giovannis Ohr. „Ich kann nicht so lange ohne dich sein.“
Giovanni hielt den jüngeren Mann fester, zog ihn näher an sich, obwohl eine größere Nähe physisch kaum möglich schien. „Ich muss“, antwortete er leise in Lasses Ohr. „Ich habe es dir doch erklärt. Es… es ist zu schwer für mich.“
Lasse lehnte seinen Kopf an Giovannis Schulter, rieb seine Wange gegen den kratzigen Wollpullover. „Bitte bleib bei mir“, flehte er noch einmal.
Giovanni atmete mit einem Seufzer aus, einem Laut, der zugleich Schmerz als auch Erleichterung ausdrückte. „Dann komm mit mir“, flüsterte er. „Wir könnten zusammen sein. Wir könnten an Deck schlafen, über uns die Sterne.“
Lasse schluchzte. „Du weißt, dass ich nicht gehen kann“, wisperte er. „Es gibt zu vieles hier, zu viele Verpflichtungen, zu viele Zwänge.“
„Und genau deshalb muss ich gehen“, antwortete Giovanni. „Ich kann dir nicht dabei zusehen, wie du dich zerstörst, wie du all das versteckst, was dich ausmacht, wofür du bestimmt bist.“
„Ich verstecke nichts“, wehrte sich Lasse. „Das ist mein Leben. Meine Pflichten, meine Beziehung, meine Familie – alle verlassen sich auf mich. Keiner könnte es verstehen.“
„Du gibst ihnen auch keine Chance.“ Giovanni drückte Lasse einen Kuss auf die Stirn. „Aber das ist in Ordnung. Das bist du. So bist du, und ich liebe dich auch aus diesem Grund, weil du so bist.“
„Giovanni“, flüsterte Lasse und barg sein Gesicht an Giovannis Schulter. „Es… es tut mir so leid.“
„Stell dir nur vor, wie es sein könnte“, sagte Giovanni auf einmal heiser. „Stell dir nur für einen Augenblick vor, was wäre, wenn wir uns nicht auf diesem Steg befänden. Wenn ich nicht die Leine des Bootes hinter mir wüsste, bereit gelöst zu werden, sobald ich meinen Fuß auf das Schiff setze. Wenn wir nicht hier wären, Gefangene unserer Leben. All der Pflichten, die uns eine verschwendete Zeit, die wir ohne einander verbringen mussten, auferlegten.
Lasse schloss die Augen und stellte es sich vor. Seine Hände krallten sich in den Stoff der Kleidung, die Giovanni trug, und er fühlte, wie der andere seine Arme enger um ihn schlang, wie er ihn emporhob, ihn in eine Fantasie entführte, die er bislang nur vage und mit wenigen Worten entworfen hatte.
Die Luft trug ihn, ebenso wie Giovanni ihn durch die Luft trug, bis sie mit einem Ruck an ihrem Ziel ankamen. Lasse blinzelte, als der Boden unter seinen Füßen zuerst vibrierte und dann begann zu schwanken. Oder er hatte schon immer geschwankt, nur dass Lasse die Bewegung jetzt erst wahrnahm. Keine unangenehme Bewegung, eher ein sanftes Schaukeln, das keine Sorgen oder Unruhe verursachen konnte. Nicht solange Giovanni ihn festhielt, solange er seine starken Arme um Lasse geschlungen hielt und keine Anstalten unternahm, keinen Versuch, ihn jemals wieder loszulassen. Lasse schloss die Augen wieder und stieß einen zufriedenen Seufzer aus, der von einem tiefen Lachen beantwortet wurde, welches schwach an sein Ohr drang, welches er mehr in Giovannis Brust spüren konnte, als dass er es hörte.
„Was ist so lustig“, flüsterte er gegen den warmen Stoff, ohne seine Augen wieder zu öffnen. Stattdessen rieb er seine Stirn gegen den Körper des Größeren und seufzte erneut zufrieden.
„Nichts“, wisperte Giovanni zurück. „Nur deine Fantasie. Sieh, wohin du uns gebracht hast.“
Lasse deutete ein schwaches Kopfschütteln an. „Ich will es nicht wissen“, gab er zu. „Ich will nur sein, wo du bist.“
„Sieh nur hin“, ermunterte ihn Giovanni erneut. „Wir sind alleine. Du hast uns an den ruhigsten und einsamsten und gleichzeitig schönsten Ort geführt, den ich mir nur erträumen könnte.“
„Und wo sollte das sein?“ Nun blinzelte Lasse doch, drehte seinen Kopf und schmiegte seine Wange gegen den Stoff, während er aufsah. „Oh“, stieß er hervor.
„Nicht wahr?“, lachte Giovanni glücklich.
„Wo sind wir?“, fragte Lasse. „Es sieht aus als flögen wir… durch die Sterne.“
Amüsiert schüttelte Giovanni seinen Kopf. „Auf ruhiger See“, antwortete er leise. Die Sterne spiegeln sich in der glatten Oberfläche und wir schweben. Wir schweben über das Wasser.“
„Ja“, murmelte Lasse. „Und wir sind allein.“
„Niemand kann uns sehen“, bestätigte Giovanni. „Niemand wird je wissen, wo wir sind, oder was wir tun.“
„Dann lass uns hier bleiben“, antwortete Lasse. „Auf unserem eigenen Stern. Wie ich wünschte, dass es immer so sein könnte. Wenn du nur wüsstest wie sehr.“
„Aber das weiß ich doch“, flüsterte Giovanni zärtlich. „Glaub mir, ich weiß es.“

Blut

Titel: Blut
Autor: callisto24
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Beinahe zu perfekt, so kam er ihr vom ersten Moment an vor. Anna hatte ihren Teil an kaputten Beziehungen ebenso hinter sich, wie die Qualen der sogenannten großen Liebe, die doch Stück für Stück und unvermeidlich in die Brüche ging. Nicht dass es mit Matthias einfach gewesen war. Von Anfang an existierten Probleme und Missverständnisse zwischen ihnen und es kostete sie beide große Kraft, diese zu überwinden, ein normales Verhältnis zu erreichen.
Und doch bestand diese Anziehung zwischen ihnen sofort, unmittelbar nach dem ersten Blick, den sie miteinander gewechselt hatten. Auf eine unterbewusste, ungenaue Art hatte sie es schon damals gewusst. Vielleicht lag es allein an der optischen Übereinstimmung. Sie passten einfach zu gut zueinander. Niemand bezweifelte das.
Anna achtete immer auf ihr Aussehen. Sie sorgte stets dafür, dass ihr Haar in weichen Wellen ihr gepflegtes Gesicht umrahmte. Tönung und gelegentliche Haarspangen ergänzten sich und ihr dezentes Make-up betonte die Vorteile ihrer Züge. Niemals wäre es ihr eingefallen, ohne Lipgloss aus dem Haus zu gehen. Ihre Lippen schimmerten stets verlockend.
Und so ließ sich wohl kaum leugnen, dass auch Matthias‘ äußere Erscheinung ihre Wirkung auf sie nicht verfehlte. Er war genau dieses Stück größer als sie, dass es sich gut anfühlte, sich anzulehnen, zu spüren, wie seine Arme sie umfingen, festhielten und beschützten.
Obwohl sie immer Wert darauf legte als starke und selbstständige Frau behandelt zu werden, so nagte doch tief in ihr manches Mal der Wunsch danach, sich einfach fallen zu lassen, die Verantwortung abzugeben an jemanden, der sie tragen konnte. Der vielleicht von Natur aus dazu geschaffen war, der die Kraft besaß, auch ihre Last auf seine Schultern zu nehmen, ihr eine Zuflucht zu bieten, einen Ort der Sicherheit, die Geborgenheit, die sie nie zugäbe, sich zu ersehnen. Nicht vor anderen und nicht einmal vor ihm.
Nicht zuletzt sah er gut aus, und das nicht nur ihrer Meinung nach. Sich mit ihm zu schmücken konnte ihr nur zum Vorteil gereichen. Einen attraktiveren Begleiter im klassischen Sinne hatte sie nie zuvor gehabt. Dunkles Haar, dunkle Augen und ein griechisches Profil ließen jedes Frauenherz höherschlagen und gewiss auch das Herz des einen oder anderen Mannes. Beinahe war er zu schön, um wahr zu sein. Seine Wimpern ein wenig zu lang, seine Augen einen Deut zu groß, um männlich zu wirken. Doch das kantige Kinn und die ausgeprägten Wangenknochen erlaubten nie einen Zweifel an seinem Geschlecht. Und er wusste, sich gut anzuziehen. Ein Talent, das Anna ebenfalls schätzte. Zu den gut geschnittenen Kostümen, die sie vorzog zu tragen, passten seine schlichten und doch eleganten Anzüge. Es war kein Geheimnis, das er auf sein Äußeres achtete. Und es lohnte sich. Es lohnte sich sehr. Und sie beide zusammen zogen wohl mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es jedem von ihnen alleine gelänge.
Alles passte. Der Weg zeichnete sich von selbst. Mit jedem weiteren Tag breitete sich die Zukunft deutlicher vor Anna aus. Er war ein Mann, wie ihn sich jede Frau erträumte. In seinem Beruf glänzte er, die Entschlossenheit trieb ihn vorwärts. Seine Aussichten schienen ebenso makellos wie seine Gestalt oder sein Lebenslauf.
Matthias passte zu ihr, so wie sein Leben, seine Geschichte zu ihrer passten. Sie beide hatten Kinder, die sich verstanden. Sie beide Erfahrungen hinter sich gelassen, die sie nicht zerstörten, aber Spuren hinterließen, sie geformt und geprägt hatten. Eine Geschichte, die es nur noch einfacher für sie beide machte, sich über die Klippen und Abgründe, die sich unerwartet auftaten, hinweg zu angeln.
Es war einfach zu schön, eine wundervolle Illusion.
Bis sie an diesem einen Tag zu ihm ging. Unvorbereitet, unerwartet, ohne dass sie zuvor ein Treffen vereinbarten. Doch das war in Ordnung, sie waren ein Paar, gehörten zusammen und vertrauten sich. Sie wollten heiraten, die Pläne standen. Und natürlich wusste sie von den Problemen, die er mit sich herumtrug. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Medikamente benötigte. Dass die gelegentlichen Schübe es erforderten, der Chemie, die er seinen Körper zufügte, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Und doch hatte sie nicht erwartet, ihn so zu sehen. Er wirkte krank, er wirkte fern. Fern von ihr. Seine Haare hielten nicht die Form, die er ihnen sonst verlieh. Sein Hemd stand offen, die Ärmel waren falsch und ungehörig, nur durch das Fehlen der Manschettenknöpfe, durch die nachlässige Art, in der sie aufgekrempelt waren.
Matthias‘ Blick war leer, und obwohl sie sehen konnte, dass er darum kämpfte wieder zu sich zu kommen, offenbarte sich, dass er dazu nicht in der Lage sei.
Anna begriff, dass sie ihm helfen sollte. Er sah hilflos aus, so hilflos wie sie sich fühlte. Und Anna fühlte sich gelähmt. Eine innere Schranke fiel zwischen ihr und ihm herab, hinderte sie daran sich zu bewegen, zu sprechen, ihm zur Seite zu stehen. Was es war, das ihn quälte, entzog sich ihrer Erkenntnis, wenngleich die Ahnung einer Tragödie, die sie längst abgeschlossen glaubte, sich in ihr Bewusstsein bohrte. Das Sterben seiner Frau, der blutige Mord, den er mit angesehen hatte, blieb die offene Wunde, die sie seit der schrecklichen Tat gewesen war.
Und Anna war nie in der Lage gewesen, ihm zu helfen, es war ihr nie gelungen der Balsam auf seinem Schmerz zu sein, den er brauchte. Schwer genug war es für sie gewesen zusammenzufinden, schwer genug, sich als die Menschen zu erkennen, die sie waren, die füreinander bestimmt waren. Dennoch hatte sie nie gefühlt, wie heftig die Fassade bebte, die er um sich errichtet hatte, wie dünn und zerbrechlich die Schutzhaut war, die er wachsen ließ.
Er hatte es ihr immer wieder gesagt, dass sie ihn veränderte, dass sie der Anker für ihn war, den er brauchte. Dass dieser Teil seines Lebens der Vergangenheit angehört. Und Anna glaubte ihm. Sie wusste von seinem Kampf und sie bewunderte seine Stärke. Doch was er sich von ihr ersehnte, diese Frage stellte sie sich nie.
Und in diesem Moment, mit dem Eintritt in sein Haus, erkannte sie, dass sie weit davon entfernt war, ihn zu verstehen, vielleicht weiter als je zuvor.
Starr verharrte sie, ihre Augen auf das Bild des Mannes gerichtet, dem sie sich versprochen hatte, und der ihr begegnet war, um ihr Fels zu sein. Ein brüchiger Fels, der die Arme ausstreckte, der sich von ihr erbat, was sie nicht verstand.
Ihre Lippen öffneten sich in einer stummen Frage, die trotz allem und überraschend Antwort erhielt mit dem Eintritt Kevins. Für einen Augenblick glaube Anna, dass es nun ihre Pflicht sei, sich aus ihrer Lethargie zu reißen, dem Jungen den Anblick seines Vaters zu ersparen, ihrer Pflicht als Erwachsene nachzukommen. Doch war sie nicht imstande auch nur einen Finger zu rühren, einen Schritt zu machen, nur einen Laut von sich zu geben.
Und Kevin stoppte nicht einmal in seiner Bewegung. Er huschte an ihr vorbei, ließ mit einer fließenden Bewegung seinen Rucksack gegen die Wand rutschen, und näherte sich seinem Vater. Doch gerade als Anna sich versucht fühlte, ihn aufzuhalten, dem Jungen wenigstens ihrer Anwesenheit zu versichern, da hatte dieser bereits seinen Vater hinter sich gelassen, ohne ihm mehr Beachtung zu schenken, als er ihr schenkte. Rasch und doch ruhig öffnete Kevin erst die obere und dann die untere Schublade des Schreibtisches. Mit geübten Bewegungen entnahm er der einen eine schmale Spritze und der anderen ein kleines Fläschchen. Und bevor Anna noch registrieren konnte, was er tat, hatte er bereits den Arm seines Vaters abgebunden und die Nadel in dessen Haut gesenkt.
Anna schnappte erschrocken nach Luft, doch Matthias zuckte nicht einmal, als Kevin seine Tätigkeit beendete, die Spritze entsorgte und einen kleinen Wattebausch auf die Stelle presste, auf der sich ein kleiner, roter Tropfen bildete.
Das Geräusch, das Matthias von sich gab, ähnelte am ehesten einem Seufzen, als er mit bebenden Händen den Bausch übernahm, während Kevin sich abwandte und die nun nutzlos gewordenen Utensilien zu der Spritze in den Abfallbehälter warf.
Erst dann drehte er sich nach Anna um, und bewies ihr, dass er durchaus von ihrer Anwesenheit Notiz genommen hatte.
„Geschieht das öfter?“, fragte Anna heiser, als sie ihre Stimme endlich wieder fand. Kevin sah zu seinem Vater, der mit geschlossenen Augen in seinem Sessel saß. „Nicht oft“, meinte er dann und zuckte mit den Schultern. „Dinge passieren.“
„Ja“, wisperte Anna, als traute sie sich nicht, es zuzugeben. „So ist es wohl.“