Samstag, 19. Dezember 2009

Stein

Titel: Stein
Autor: callisto24

* * *

Konstanze und ihr Traum


Die Landschaft wirkte schön. Obwohl man sie eigentlich kaum eine Landschaft nennen konnte. Zu künstlich, zu verbaut war die Gegend, eine gigantische Fläche voller Gebäude, gestutzter Bäume, Hecken und Zierpflanzen. Gerade Straßen wechselten mit gepflegten Gehwegen. Breite Pfade, perfekt gemähte Wiesen, Mauern, Häuser, die einen Begriff schrien: Universitätsgelände. Und zwar eines der Gelände, die sich in den besseren Teilen der Stadt befanden, vielleicht des gesamten Landes. Kein Wunder also, fühlte sie sich ein wenig fehl am Platze. Doch so war es nicht. Ob es daran lag, dass sich bei genauerer Betrachtung insbesondere des Inneren der Gebäude, zunehmend Fehler im Gesamteindruck einschlichen? Vielleicht wirkten die Häuserfronten von außen teuer und elegant, doch im Inneren der Mauern erkannte man nur allzu schnell das historische Erbe, das seinen Tribut forderte. Übertünchte Risse in den Wänden blieben die deutlichsten Anzeichen. Die unmodern hohen Decken, die altmodisch ausgetretenen Steintreppen mit ihren kunstvoll verzierten, wenn auch deutlich abgenutzten Geländern, erzählten von vergangenen Jahrzehnten, von der Geschichte, die in dem altehrwürdigen Fundament mitschwang.
Beim Eintritt atmeten wir weniger Komfort denn Wissen. Das Wissen, das in diesen Mauern wohnte, was gelehrt wurde, und um welches aufzunehmen, wir uns hier befanden. Welches aufzunehmen wir unsere Quartiere bezogen. Wie in der guten, alten Zeit, wie es sein sollte, wenn die Notwendigkeit bestand, das Elternhaus, das alte, vergangene Leben hinter sich zu lassen, um Neues zu suchen und zu finden. Und so lebten wir in den Räumen des einen Gebäudes, während wir täglich aufbrachen, um die weiten Wege zu beschreiten, die zwischen hohen Mauern hindurch zu stets unterschiedlichen Zielen führten.
Eigentlich wusste Konstanze nicht, warum sie sich hier befand. Sie konnte sich nicht erinnern, eine Entscheidung getroffen haben, schon gar keine, die sie zu diesen Konsequenzen führte. Obwohl sie nicht unbedingt unzufrieden war, und dies zu ihrem eigenen Erstaunen. Denn war ihr doch lange Zeit zumindest klar gewesen, dass sie mit dem Prinzip der Weiterbildung, ja des Lernens als solches, nichts mehr anzufangen wusste. Doch offenbar hatte sich dieser Zustand buchstäblich über Nacht geändert und sie stand der Bildung und insbesondere ihrer persönlichen Weiterbildung nicht mehr so negativ gegenüber, wie sie es gewohnt gewesen war.
Die Regeln lagen klar auf der Hand. Das gesamte Szenario wirkte nicht viel anders als Schule, als der trockene Ablauf schematischer und längst in Stein geschlagener Stunden- und Tagespläne. Und doch fühlte sie sich nicht vollkommen unwohl. Das zunehmende Alter schenkt den Umständen eine gewisse Lässigkeit, der man sich nicht entziehen, die zur Freude gereichen, oder wenigstens das Leben erleichtern kann, räumt man ihr nicht zu viel Macht ein. Was sie nicht tat, niemals getan hatte. Sie war immer äußerst pflichtbewusst zu Werke gegangen, hatte sich nicht irritieren lassen von Kleinigkeiten oder Ablenkungen. Ihrer Wirkung auf andere war sie sich immerzu gerade schmerzhaft bewusst gewesen. Dies folgt automatisch der Gewohnheit, sich permanent in fremde Köpfe hineinzudenken, so unangenehm, schmerzhaft und erniedrigend eine Erfahrung wie diese auch sein mochte.
Und so wunderte es Konstanze auch nicht, in dieser speziellen Situation dem Gefühl nicht entgehen zu können, als eine Musterschülerin und ein braves Mädchen in die Annalen der Ausbildungsstätte einzugehen.
Bis zu diesem besonderen Vorfall. Und dieser stellt sich in mehr als einer Hinsicht als merkwürdig heraus. Hatte Konstanze doch, nach bestem Wissen und Gewissen, in ihrem ganzen Leben noch niemals einen dieser Träume durchlebt. Nie zuvor träumte sie eine derart bekannte, klischeebeladene Situation, die vermutlich Therapeuten und Analytiker über die Welt verteilt, erfreut.
Nein, ihre Träume blieben immer hart am Rahmen der Realität. Meist verlor sie etwas, suchte, und fand es nicht. Niemals träumte sie sich in die klassische Situation des Fliegens oder vergleichbarer elementarer Freiheitserlebnisse. Und niemals träumte sie, dass sie gar nackt vor einer Klasse stünde. Wieso sollte sie auch? Eine Situation wie diese war nicht einmal denkbar, bei aller Fantasie, die sie sich zuschrieb, nicht vorstellbar. Nicht in diesem Leben. Konstanze verschwendete ihre Zeit nicht mit Gedanken über Nacktheit. Es läge ihr fern, ihren Körper auch nur annähernd unbekleidet zu präsentieren. Ganz im Gegenteil. Sogar beim Schwimmen, trug sie mehrere Schichten an schützenden Stoffen. Von Bademänteln über alles verhüllenden T-Shirts war ihr nichts zu unangenehm oder zu unbequem um eine vielleicht unangebrachte Blöße zu verdecken.
Umso erstaunlicher, dass sie sich mit einem Mal nackt unter Menschen befand. Wenngleich diese Nacktheit einen Sinn in sich trug. Denn alles in allem war sie ein rationaler Mensch. Sie tat nichts, ohne einen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund anführen zu können. Und schon gar nicht käme sie auf die Idee, etwas derart Verrücktes zu unternehmen.
Warum tat sie es also? Ganz einfach, weil es eben nicht verrückt war. Es war sogar ganz logisch. Und woran lag das wohl? Genau: am Stundenplan. Besser gesagt am Fach des Schwimmens, das eingeflochten und als sinnvoll bewertet wurde. Und es lag ja auch nahe. Auf einem riesigen Gelände, wie diesem, durfte es selbstverständlich weder an Schwimmlehrer noch an Schwimmbädern fehlen. Und obwohl Sport niemals zu Konstanzes Lieblingsfächern oder zu einer Betätigung gehörte, die sie freiwillig ausübte, so war sie doch bereit und willens, den ausgeschriebenen Pflichten Folge zu leisten.
Ebenso wie Konstanze den Plänen eifrig nachkam, die für uns notiert und vorgeschrieben wurden. Ebenso wie sie den anderen folgte, ihren Kolleginnen und Kollegen, die stets besser wussten als sie, wo die entfernt liegenden Vorlesungsräume und Säle zu finden waren. Die den Zahlen und Nummern Aufmerksamkeit schenkten, die verzwickten Wege durch Gänge, hinauf und hinab der breiten Treppen, entlang der Streifen frischen Grüns am Rande der Wege, bereits kannten und ihrem Verlauf auch Sinn und Unsinn abgewinnen konnten. Konstanze dagegen tat sich nie leicht damit, den Weg zu finden, die richtige Strecke einzuschlagen, auf dem Pfad zu wandeln, der sie dorthin führte, wo sie sich tatsächlich aufhalten sollte. Also folgte sie stets jenen, die es besser wussten. Dennoch behielt sie ihren Kopf bei sich. Sie zog Schlussfolgerungen und handelte selbstständig. Und ganz im Ernst: es entbehrte doch wohl nicht einer gewissen Logik, wenn man darauf Rücksicht nahm, die persönliche Garderobe den Gegebenheiten anzupassen. Und so passte sie an. Konstanze registrierte und analysierte Sachlage und Stundenplan, und empfand es als günstig, die Stunde des Schwimmens in die Planung des Tages einzubeziehen.
Warum also sich der Mühe unterziehen, unter phänomenaler Anstrengung und Aufbietung von Geschmack und Stilbewusstsein Kleidung auszuwählen, die doch nur allzu schnell den Weg des Vergänglichen beschritte, sprich in einem unangenehmen Spind eingeschlossen werde. Klang es da nicht mehr als logisch, sich sofort und von Anfang an unbekleidet zu geben?
Natürlich blieb ein Rest-Geheimnis, und zwar entbehrte dem Fehlen jeglicher Bekleidung doch die eine oder andere Grundlage, und damit spreche ich auch von der spärlichsten und geringsten aller Bekleidungsmöglichkeiten, die dem Zwecke der Verhüllung des Allerprivatesten dienen und daher ihre beinahe ausschließliche Verwendung im Sinne der Ausübung des Schwimmsports fanden.
Wie dem auch sei, erschloss sich Konstanze anscheinend nicht umgehend, warum vollkommene Nacktheit sich nicht als angemessene Form der Erscheinung anbot. Und offensichtlich ging es ihren Leidensgenossen und Genossinnen nicht anders. Musste sie doch beobachten, dass jene durchaus der Kunst des Bekleidens mächtig waren, und sich ebenso wie an jedem anderen Tag angezogen hatten, ohne ein auffälliges Gebaren zur Schau zu stellen. Zu deren Verteidigung musste Konstanze jedoch anführen, dass sie ihrer doch ein wenig auffallenden Nacktheit keinerlei Beachtung schenkten, sie sich also weder unangenehmen Bemerkungen noch peinlich berührten Blicken ausgesetzt sah.
Letztendlich erwies sich das Irren von Gebäude zu Gebäude, treppauf, treppab, und die Hetze aus der Not geboren mit anderen Schritt zu halten, die sich leichter darin taten, die vorgeschriebenen Orte zu entdecken, als weitaus unangenehmer, als die bloße Tatsache ihrer Nacktheit.
Und ebenfalls als unangenehm bezeichnen konnte man die Tatsache, dass weder von einem Schwimmbad, noch von einem Schwimmlehrer und schon gar nicht von dem in Aussicht gestellten Schwimmunterricht im eigentlichen Sinne die Rede war.
Was tat Konstanze also in diesem Kreise elitärer Wissbegieriger, und wollte sie überhaupt unter ihnen sein?
Eine Frage, die sich nicht ohne weiteres und sicherlich auch nicht auf die Schnelle beantworten ließ. Und immer noch steckte sie fest in dieser Situation. Konstanze erinnerte sich an die Auswahl von Unterwäsche und dann doch das letztendliche Ablehnen derselben aus vielerlei und vor allem praktischen Gründen.
Davon abgesehen, dass ihre Unterwäsche nicht gerade zu den elegantesten gehörte, so erschien es ihr doch erneut als erheblich unpraktisch, sich der Mühe des An- und Ausziehens schlichtweg für nichts und wieder nichts zu unterziehen. Zudem glaubte sie immer noch fest daran, sich kurz vor dem Abstiege ins Bade zu befinden, der die Nacktheit letztlich notwendig machte. Doch stattdessen irrte sie Gänge entlang, lief von Zimmer zu Zimmer, fühlte Blicke auf sich, die doch langsam aber sicher den Wunsch in ihr weckten, sie hätte sich doch für die eigentlich nicht vorzeigbare Wäsche als minimalem Schutz entschieden. Doch es sollte nicht sein, und so tappte Konstanze barfuß von Gebäude zu Gebäude. Sie erklomm Höhen, fand sich wieder auf Emporen, die mir Aussicht gewährten auf eine Vielzahl fleißiger Schüler und Studenten, die – und ihre Verwunderung darüber bestand eisern, es vorzogen, ihren Unterricht bekleidet aufzusuchen.
Was war zu tun? Selbst in ihrem verwirrten und vielleicht doch noch am ehesten als traumwandlerisch zu bezeichnenden Zustand, sprang ihr langsam aber sicher das Unangenehme ihrer Lage ins Auge. Nicht nur, dass es sich ausgesprochen unvorteilhaft anfühlt, den verschiedenen Sitzreihen sozusagen mit blanker Haut begegnen zu müssen, es ließ sich auch nicht mehr leugnen, dass ihr Gefühl für Scham, das, vermutlich begründet auf reinem Selbstschutz, bislang nicht vorhanden gewesen war, aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hervorkroch und schließlich Beachtung forderte. Wirkliche Beachtung. Ausreichende Beachtung, die Konstanze doch zwang, den Ernst der Lage zu erkennen. Und was ist zu tun, erkennt man erst den Ernst einer Lage? Man ist dazu verpflichtet, diese zu verändern, oder ihrer zu fliehen. Konstanze ihrerseits tat beides. Sie flüchtete. Und dies zu dem Zwecke ihre Blößen zu bedecken, zumal der Fall des Schwimmunterrichts sich nun doch ein für allemal erledigt hatte.
Selbstverständlich wollte sie nicht auffallen. Und so benahm sie sich nach besten Kräften so unauffällig wie nur möglich. Sie wanderte in einiger und im Laufe der Zeit zunehmender Entfernung hinter ihren Leidensgenossen her. Sie beobachtete diese, und die anderen beobachteten sie. Und sie erkannte ihre Chance.
Gut, der eine oder andere mochte sie entdeckt haben, als sie die breite Eingangstreppe in unüblicher Hast und so wie Gott sie schuf, hinab lief. Und doch war Konstanze längst darüber hinaus, sich Gedanken über einzelne Personen und deren Meinungen zu machen. Soweit hatte sie sich schon entwickelt. Und tatsächlich gelang es ihr, sicher wie im Schlaf, geleitet von unsichtbaren Engeln, ihren Weg wieder zu finden. Den Weg, der sie in ihren Schlafraum führte und zu der glücksverheißenden Möglichkeit, sich selbst mit Stoffen zu umhüllen. Niemand ahnt, wie angenehm dies sein kann, ging einem dieses Gefühl nicht irgendwann abhanden. So wie es Konstanze geschehen war. Und so wie ich sie von Ferne beobachten durfte.

Bühne

Titel: Bühne
Autor: callisto24
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Schauspiel



Wie auch immer, Konstanze fand sich wieder auf eben dem Gelände, über das sie zuvor noch nackt gelaufen war. Und doch in einer vollkommen anderen Situation und mit einem vollkommen und erstaunlich anderen Ziel vor Augen. Schule, Universität, die Ausbildung hatten ihre Bedeutung verloren. Wenn auch nicht vollkommen. Oh nein, an dem Haken der Kultur hing sie immer noch. Oder von Neuem. Vielleicht zum buchstäblich ersten Mal, zogen Konstanze doch bislang unerkannte Bänder in die Richtung eines Schauspiels, dem zu begegnen ihr wohl ansonsten niemals eingefallen wäre.
Wie bereits vordem erwähnt, zählte Konstanze zu den pflichtbewussten Charakteren. Und demzufolge sah sie es auch nicht ein, warum sie bereits gekaufte Karten verfallen lassen, bereits gefasste Pläne in den Wind schießen sollte. Noch dazu, wo es ihr aus Gründen der Unerklärlichkeit, doch vielleicht des ersten wirklichen Glücksfalles an diesem Tag, und erstaunlicherweise gelungen war, ganz recht, genau die Pause abzupassen, um ihr Umzugsgeschäft zu erledigen. Wie sie es allerdings schaffte, auch noch die Theateraufführung, auf die sie sich vorbereitet hatte, doch derer sie keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken bedacht gewesen war, in eben jene Pause hinein zu quetschen, blieb eine beachtliche Leistung, sollte sie denn gelingen. Und Konstanze hatte ernsthaft vor, sie gelingen zu lassen.
Und so durchquerte sie das bereits beschriebene und wunderschöne Gelände, was an sich nicht einfach war, sahen doch vielerlei Gebäude, Straßen und Plätze sich einfach zu ähnlich. Doch es gelang, und nach dem Überschreiten einer breiten und wohlbefahrenen Straße, entdeckte Konstanze das kleine Straßencafé, in welchem am Vormittag und zwischen Tür und Angel, ein viel beworbenes Stück aufgeführt wurde.
Zu ihrer eigenen Schande gestand Konstanze mir, dass sie sich an das Stück als solches nicht mehr erinnerte. Verschwamm doch der Rest der Ereignisse insgesamt in einem undurchsichtigen Nebel, vermutlich ausgelöst durch die Erschöpfung als Folge der anstrengenden und nervenzerreißenden ersten Stunden des Tages, wie geschildert – die der vollkommenen Nacktheit.
Zumindest war sie nun angezogen. Warum sie hin und wieder auch hier den Platz wechselte, warum sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie die Darsteller kannte, warum sie in der Pause der Pause, beziehungsweise in der Pause zwischen den Akten, nicht die Gelegenheit ergriff wie angeboten mit den Darstellern zu kommunizieren, blieb ein Rätsel. Ebenso wie die Frage, warum sie mit einem gesichtslosen Mann stattdessen eine uninteressante Unterhaltung auf einer Parkbank führte, wohl nie geklärt werden dürfte.
Fakt war, dass sie die zweite Hälfte des Stücks mindestens ebenso genoss, wie sie die erste Hälfte genossen hatte. Fakt war, dass ihre Kleiderauswahl sich als erstaunlich gelungen entpuppte. Und das für sie, die es gewohnt war, kaputte Jeans und T-Shirts zu tragen. Doch der schwingende Rock und die gestylten Haare, taten ihrem Selbstvertrauen gut, so gut, dass sie gehobener Stimmung und angeregt durch die soeben verabreichte Dosis an Kulturgut, den Rückweg anzutreten gedachte. Nur, dass dieses Vorhaben nicht so leicht in die Tat umzusetzen war, wie Konstanze es sich vorgestellt hatte. Denn die vielen Straßen, Wege und Grünflächen, die Gebäude, Denkmäler und befahrenen Autobahnen begannen ihr unbekannt zu erscheinen, je weiter sie lief. Sie verwirrten Konstanze zusehends, bis sie erkannte, dass sie einem Irrweg zu Opfer gefallen, die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Sie war gezwungen, den Weg zurückzugehen, sich zu beeilen, zu hetzen, die gefährliche Straße diesmal in ungewohnter Hast zu überqueren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Gedanken an Risiken. Alles sah gleich aus. Alles wirkte entsprechend licht, fröhlich und geordnet. Ein elegantes, vornehmes Ambiente. Eine gute Gegend, zu gut. Denn auch dieser Weg stimmte nicht.
Konstanze steuerte an dem offen dargelegten Luxus vorbei, bis sich die Bilder der Gebäude, die errichtet worden waren, um Wissen zu erlangen und zu verbreiten, aus ihrem Kopf mit denen vermischten, die ihre Augen vor sich erkennen konnten. Erleichterte Seufzer entströmten ihren Lippen. Froh war sie, den Pfad zurück entdeckt zu haben. Nicht froh allerdings, dass es spät war, zu spät. Ihr Plan war nicht aufgegangen. Die Pause, die hätte ausreichen sollen, die sie benutzen wollte, um ohne weitere Auffälligkeiten wieder in den Trott des Systems einzufallen, erwies sich als zu kurz. Als bei weitem zu kurz.
Konstanze verharrte vor verschlossenen Türen. Sie fühlte mich wieder wie ein Kind, ein Kind, das ausgesperrt ist, das nirgends zugehörig nicht weiß, wohin oder an wen es sich wenden kann. Konstanze war dieses Kind. Und doch war sie es nicht. Denn die Jahre hatten sich nicht spurlos über sie gedrängt, Konstanze langsam aber sicher in die Knie gezwungen. Sie wusste, dass Lösungen existierten und wusste, dass sie diese nur suchen musste.
Es gab Möglichkeiten, wie jene freche, mutige Idee, die Türen zu öffnen und den Raum zu betreten. Vielleicht eine Entschuldigung auf den Lippen, vielleicht ein Lächeln. Die Reaktionen auf das Zuspätkommen zu ertragen. Auch wenn es tatsächlich spät war, viel zu spät, wie sie dann letztendlich beschloss. Zu spät, eine zu starke Präsentation peinlicher Vorfälle, als dass sie diesen ins Gesicht sehen könnte. Konstanze war nicht in der Lage zu erklären, zu deuten, zu entschuldigen und vielleicht auch nicht in der Lage, die Meinung, das Urteil anderer zu ertragen. Der anderen, die sich in höheren Positionen befanden, als sie selbst. In weitaus Höheren.
Konstanze tat, was sie immer tat. Sie zog sich zurück. Die Lösung, die übrig blieb, erschien ebenso logisch, wie fragwürdig. Und doch, mit etwas Glück konnte sie klappen. Und mit größerem Glück merkte niemand welche Ausrutscher sie sich geleistet hatte. Vielleicht erkannten sie Konstanze nicht. Vielleicht waren sie ausreichend von sich selbst eingenommen, genug mit ihrem eigenen, erbärmlichen oder wahlweise hellauf strahlenden Leben beschäftigt, als dass sie ihr Beachtung schenkten. Einer traurigen, nutzlosen Figur wie ihr, die letztendlich nicht sicher war, was sie in einer Welt wie dieser zu suchen hatte. Und doch befand sie sich in dieser. Und es handelte sich nicht um die Schlechteste aller Welten.
Vielleicht war es möglich, die unangenehmen Folgen, den Beigeschmack der stetig von neuem begangenen Fehler herunterzuschlucken, und sich auf das zu konzentrieren, was hinter dem oberflächlichen Eindruck einer schmucken Hülle steckte. Vielleicht konnte man über den Verdacht hinwegsehen, dass jene Hülle doch nur eine künstliche Schale darstellte, die nichts bedeutete, keinen Einfluss ausübte, weder Schutz noch Wirkung bot, sondern lediglich die Leere überdeckte, die ihr innewohnte. Vielleicht gab es doch mehr. Und vielleicht war dieses Mehr es wert, sich darum zu bemühen. Vielleicht führten viele Wege zum Ziel, verspätet oder pünktlich. Vielleicht mussten peinliche Augenblicke durchlebt und erlitten werden. Vielleicht verlieh es uns Kraft, der eigenen Unzulänglichkeit ins Auge zu sehen, den Perfektionsanspruch fahren zu lassen, und nach der Wahrheit hinter all dem Schein zu suchen. Wie auch immer diese Wahrheit aussehen mochte.
Möglich, dass es sich lohnte, dass sie einfach versuchen sollte, sich während der Zwischenstunde, der kleinen Lücke zwischen den Zeiten, einen Weg zu bahnen. Sie konnte hineinschlüpfen, sich in das Innere drängen, vorgeben, sie wäre niemals fort gewesen. Und auf ihr Glück hoffen, auf die Dummheit der Menschen vertrauen. Auf deren Desinteresse bauen, dass es ihr vielleicht ermöglichte, einen Weg weiterzugehen, der ihr eigentlich bereits verbaut war. Ein Risiko? Ja.
Und bis zu einem gewissen Grade sogar unehrlich, verschlagen, nicht von der Reinheit und Ehrlichkeit geprägt, die zu erlangen, sie sich stets erhofft hatte.
Doch war das Leben nicht auch so? Eine unehrliche, schmutzige Angelegenheit? Eine Zeitspanne, während derer man strebte, versuchte, sich Blößen gab, blamierte und nicht zuletzt in Grund und Boden schämte. Eine Zeitspanne, die Momente beinhaltete, während derer man das Mauseloch suchte, in dem es sich für immer verstecken ließ, die Decke unter der zu verschwinden sich so verlockend anbot.
Doch diesmal fiele sie nicht darauf hinein. Sie sah den Konsequenzen ins Auge, die sich aus ihrem Verhalten ergaben. Selbst wenn es ein erträumtes Verhalten, eine wirre Aneinanderreihung unwahrer Zustände und ein weit von der Realität entfernter Irrsinn war, in dem sie steckte, gefangen und verschluckt. Doch nicht ohne die Gelegenheit, sich zu befreien. Nicht ohne die Kraft, sich frei zu strampeln. Und genau das tat sie.
Sie strampelte sich frei.
Und ich achtete sie dafür.

Chronisch

Titel: Chronisch
Autor: callisto24
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Schuld daran war definitiv die rechte Gehirnhälfte, genauer gesagt, die Auswucherungen derselben. Nicht unbedingt in physischer Hinsicht – oh nein. Rein anatomisch betrachtet fiele wohl auch dem genauesten Diagnosegerät keine Anomalität derselben auf. Und doch existierte diese.
Ob es die Nervenverbindungen waren, die an Überspannungen ihrer Kontakte litten oder die ausufernde Elektrizität, die sich in diesem Teil des Gehirns konzentriert, konnte lediglich ein Neurologe feststellen. Toni blieb die Spekulation und damit gab sie sich zufrieden. Sie war lediglich froh darüber, einen, wenn auch wenig greifbaren Grund für ihren Zustand, für ihre Zustände, gefunden zu haben.
Die Überaktivität einer Gehirnhälfte bot genau diesen, galt es doch mittlerweile als erwiesen, dass mit der besagten, wuchernden, galoppierend explodierenden Hälfte des Organs nicht nur die Wurzel für Kreativität und die Fähigkeit zum Überblick gewährt wurde, sondern auch die Anlage zur Depression sich verstärkte. Wobei Toni sich manchmal fragte, ob nicht vielleicht ein Zusammenhang zwischen beiden Aspekten bestand. Denn wer – der sich die Mühe machte, einen Blick auf die Welt im Allgemeinen zu werfen, sich einen umfassenden Überblick verschaffte, sollte nicht umgehend von einem Hang zur Schwermut erfasst werden. Nur wer in seinem kleinen Rahmen blieb besaß die Chance, sich auch innerhalb dieser Grenzen eine zufriedene, wenn nicht gar glückliche Existenz aufzubauen.
Toni war dazu nie in der Lage gewesen. Und sie hatte es gewusst. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte, so wie es wohl jeder versuchte, der sich zumindest einen Hauch von Hoffnung bewahrte. Aber jeder einzelne Versuch war gescheitert. Nicht unbedingt zu ihrem Erstaunen. Schon gar nicht zu ihrer Freude, aber es ließ sich nicht leugnen, dass langsam aber sicher ein Schema hervortrat.
Aus verschiedenen Gründen kam ihr die Überzeugung auch überhaupt nicht ungelegen. Konnte sie die Schuld abstrakten Fehlschaltungen in den undurchsichtigen Windungen ihres Verstandes zuschieben, so existierte zumindest kein Grund mehr, sich mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu quälen. Dann war es eine höhere Macht, eine biologische Unpässlichkeit, die für ihr Unglück verantwortlich zeigte und Toni fühlte sich eher in der Lage mit einer Situation wie dieser umzugehen, als mit der ständigen Überzeugung, dass sie und nur sie allein und ihr eigenes Unvermögen, ihre Fehlbarkeit für die Dramen verantwortlich waren aus denen ihr Leben bestand.
Auf jeden Fall bot ihr die freimütig akzeptierte, wenn auch nur im Ansatz begriffene Erklärung eine visuelle Vorstellung der innerkörperlichen Vorgänge, eine Tatsache für die alleine sie sich bereits dankbar fühlte. Ebenso wie für die Konsequenzen der wissenschaftlichen Diagnose, die ihr so wissenschaftlich auch wieder nicht vorkam. Doch der Effekt sprach für sich. Und Toni konnte keineswegs leugnen, dass die verschriebenen Tabletten in ihrer Wirkung wie gewünscht einschlugen. Nicht dass sie es geglaubt hatte – in einem Alter wie dem ihren und nach all den Experimenten, die sie durchgeführt hatte, nur um ihr Leben ein klein wenig zu verbessern.
Umso erstaunter registrierte sie die körperlichen Reaktionen ihres Körpers auf ein an sich doch harmloses Medikament.
Nun hätte sie sich nicht dazu bereit erklärt, wenn die Lage nicht schier aussichtslos gewesen wäre. Wenn sie nicht mit absoluter Sicherheit jeden Eid beschworen hätte, dass sie sich an einem Endpunkt befand. Nichts und niemand konnte sie aus dem Sumpf, in dem sie versank, befreien. Der letzte Strohhalm, an den sie sich klammerte, er musste den notwendigen Halt bieten. Andernfalls wäre ihr Leben gelebt, die Wahl nur noch zwischen den Gleisen der S-Bahn oder dem Sturz aus dem Fenster möglich.
Sie schluckte die bitteren Pillen nach Anweisung und wartete. Nichts geschah. Es wurde nicht besser, im Gegenteil – schlimmer. Die enttäuschte Erwartung verstärkte die Verzweiflung, der Abgrund schloss sich um sie.
Bis – an diesem einen Tag, nach nur drei Wochen, etwas Merkwürdiges geschah. Eine Offenbarung, eine Erkenntnis, das winzige Gespür, die Ahnung davon, wie das Leben sein könnte, aus den Augen eines anderen Menschen gesehen.
Toni fühlte sich nicht besser, sie war nicht glücklicher, nicht beruhigter, nicht entspannter. Sie spürte nur, dass sie mit einem Mal fähig war, nur dazusitzen, letztendlich nur zu sein.
Und dass sie lächelte. Sie lächelte ohne Grund. Einfach so. Einfach vor sich hin. Das Leben war vielleicht doch nicht gar so schlecht. Das Leben konnte vielleicht gelebt werden, wie es jeder andere Mensch auch lebte. Ohne die Schmerzen, verursacht von den unzähligen Narben, die ihre Seele trug. Ohne die Ängste, die Qualen, mit denen sie sich täglich, stündlich herumschlug. Eine Pause von all diesem Leid. Ferien von der Selbstzerfleischung, der Existenzangst, der Todesfurcht.
Oder auch nicht Ferien. Vielleicht der Weg, auf dem sie weiterlaufen konnte. Vielleicht die Lösung, die Hoffnung, eine Chance darauf, noch für eine Weile den unverfälschten Geschmack des Lebens kosten zu können.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Ein Numb3rs Weihnachtsfest

Titel: Eine Eppes-Weihnacht
Autor: callisto24
Fandom: Numb3rs
Rating: PG
Genre: Comedy
Warnungen: Geschmacklos und anstößig
Disclaimer: Nichts davon gehört mir und ich verdiene hiermit kein Geld.
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„Du bist so still“, sagte Alan Eppes zu seinem Sohn, der gedankenverloren in seiner Tasse Kaffee rührte.

Mathematikprofessor Charlie Eppes nickte und rollte mit den Augen. „Das liegt daran, dass die Autorin, die diese Geschichte verfasst, in der Schule nicht richtig aufgepasst hat.“ Er seufzte auf und legte den Löffel ab. „Deshalb versteht sie auch nie, wovon ich eigentlich spreche, wenn ich damit beginne, meine abstrakten Theorien und komplizierten Berechnungen zu erläutern.“

Alan runzelte die Stirn. „Aber weshalb sollte sie dann die Serie ansehen, geschweige denn darüber schreiben?“
Charlie zuckte mit den Schultern. „Sobald ich anfange zu reden, schaltet sie ihr Gehirn ab und beginnt damit, meine dunklen Locken zu bewundern. Oder ihre Gedanken wandern zu Dons muskulösem Körper, beziehungsweise der Art, wie er seine Jeans trägt – eng und knackig.“

Don sah auf. „Was ist mit mir?“
Charlie schüttelte den Kopf. „Das willst du nicht wissen, glaube mir.“

Don wandte sich wieder seiner Akte zu. „Also, wie weit sind wir nun?“

Sein Vater kratzte sich am Kopf.
„Nicht sehr weit. Bis jetzt haben wir vier Leute, die Hanukkah feiern.
Drei, die beim besten Willen kein Fest in ihrer Religion finden konnten, das auch nur annähernd in die Nähe des Dezembers fällt,
fünf, die unsere Idee ablehnen
und drei, die grundsätzlich bereit wären, ein nicht-konfessionelles Winterfest zu begehen.
Außerdem fünf Christen, von denen vier behaupten, dass ihnen Weihnachten herzlich egal ist, sie aber unterm Strich lieber in einem lebensgefährlichen Einsatz steckten, als mit ihrer Familie den Abend zu verbringen.“

Don überlegte kurz, schlug dann Kommandoton an. „In diesem Fall würde ich mich doch gegen die Idee einer Weihnachtsfolge entscheiden.“

Alan schob die Unterlippe vor. „Die Leute lieben Weihnachtsfolgen“, bemerkte er. „Und auch wenn ich persönlich nicht verstehe warum - Hanukkah macht erheblich mehr Spaß und bietet wenigstens eine aufregende Hintergrundgeschichte - so bin ich doch in einem Alter, in dem es sich auszahlt auf die Zuschauerwünsche einzugehen. Ganz im Ernst – die erfolgreichen Serien wachsen nicht auf Bäumen, das muss ich euch beiden doch wohl nicht sagen.“

Charlie nickte. „Statistisch gesehen…“
Don hob warnend den Zeigefinger. „Nicht jetzt, Charlie. Wir haben kein Geld übrig für die aufwendigen Computeranimationen, die dein Mathematik-Geschwafel untermalen.“ Er räusperte sich. „Und außerdem bin ich aus der Übung was den konzentrierten, zugleich gelangweilten und unterschwellig genervten Gesichtsausdruck angeht, mit dem ich darauf reagieren muss.“

„Das ist aber jetzt unfair“, meldete Amita sich zu Wort. „Als Inderin und praktizierende Hindu liegt mir der Weihnachtsgedanke zwar fern, aber diese Animationen, zumal wenn sie um mich kreisen, sind doch jedesmal wieder eine Augenweide.“
Charlie legte seine Hand auf ihre und blickte ihr tief in die Augen. „Da stimme ich dir vollkommen zu, mein Liebling.“

„Und was ist mit mir?“ warf Larry Fleinhardt ein. „Hatte ich nicht vorgeschlagen das Ganze von einer astronomischen Warte aus zu betrachten? Rotierende Planeten, Sternenhimmel und vielleicht hier und da ein vorbeizischender Komet, während ich das Prinzip von Licht im Dunkel erläutere, passen in fast jede Religion oder Weltanschauung und bieten außerdem noch was fürs Auge. Ich könnte eine Anspielung auf den Stern von Betlehem fallen lassen, womit wir das Christentum gleich erledigt hätten.“

„Nicht schlecht.“ Don hob die Augenbrauen. „Auch das Mythologische ließe sich so elegant abhaken.“
Charlie nickte eifrig. „Wir enden mit einem geselligen Beisammensein, wahlweise inklusive des Entzündens der Menora oder des Aufbruchs in die Synagoge. David und Colby küssen sich unter dem Mistelzweig, Nikki lädt Liz in die Moschee ein und irgendwo brennt ein Feuer zur Wintersonnenwende.“

Alan rieb sich die Hände. „Das hört sich doch gut an. So dürften wir ausreichend Vielfalt einbringen und niemanden vor den Kopf stoßen.“

„Mit Ausnahme der Autorin“, gab Larry zu bedenken.
Charlie sah ihn erstaunt an. „Wieso denn das?“
Larry grinste. „Na, die hat von den empfindlichen religiösen Gefühlen der Leser noch weniger Ahnung als von Mathematik.“
„Gibt’s nicht“, staunte Charlie.

„Oh doch“, seufzte Amita. „Ich konnte ihr das Einmaleins beibringen, aber das Wirken Shivas hielt sie für ein ostafrikanisches Märchen.“

„Das kann schwierig werden“, stellte Alan fest. „Nebenbei benötigen wir ja auch noch den Weihnachts-Klassiker: einen wahnsinnigen Serienkiller, der es auf Mitarbeiter des FBIs abgesehen hat.“
Er kratzte sich am Kinn.
„Da existiert ein weiteres Problem. Wer erklärt ihr diesmal die Mechanik von Schusswaffen, oder anatomische Grundsätze, wenn es um das Spritzen von Blut oder das Ausweiden der Organe geht? Das gibt doch wieder ein Desaster, wenn wir versuchen, die Sache der Gerichtsmedizin zu präsentieren.“

Don klappte seine Akte zusammen und stand auf. „Ich übernehme das“, erklärte er resolut.
Charlie hob eine Augenbraue. „Sei vorsichtig“, warnte er. „Wenn es in ihrem Büro nach Glühwein liegt und irgendwo ein paar Dessous herumliegen, dann nimm lieber Robin zur Selbstverteidigung mit.“
„Das hilft nichts“, seufzte Don. „Beim letzten Mal schlug sie einen flotten Dreier vor.“
Alans Mund klappte auf. „Ihr habt doch nicht…?“
Don grinste. „Wo denkst Du hin. Ich hab nur zugesehen.“



Ende