Sonntag, 23. Mai 2010

Bann

Titel: Weihnachten - Bann
Autor: callisto24
* * *

Weihnachten - Bann

Sie liebte Weihnachten. Sie hatte Weihnachten schon immer von ganzem Herzen geliebt. Daran änderte sich auch nichts, als sie älter wurde, der Kindheit entwuchs und mit einer Welt konfrontiert wurde, die von ihr verlangte erwachsen zu sein und Verantwortung zu übernehmen.
Weihnachten behielt sie dennoch in seinem Bann. Und dieser hatte nicht vor, sie aus seinem festen Griff zu entlassen.
Für Inga bedeutete Weihnachten mehr als die drei Feiertage, mehr als der Dezember mit seinen Vorweihnachtsaktionen, mehr als die offizielle oder inoffizielle Weihnachtszeit, die mit den ersten Lebkuchen im Supermarkt begann und sich bis Maria Lichtmess hinzog.
Seit ihre Eltern Inga in einen Betrieb mitgenommen hatten, in dem das ganze Jahr Weihnachten herrschte, und sei es nur, damit die Mitarbeiter während ihrer unermüdlichen Herstellung und Produktion von Weihnachtsschmuck in Stimmung blieben, wusste sie im Grunde ihres Herzens, wo ihre Bestimmung lag.
Sie traute sich allerdings nie getraut, diese Bestimmung auch nur irgendjemandem gegenüber zu offenbaren. Die meisten Menschen, die sie kannte, hatten hauptsächlich verächtliche Blicke und Bemerkungen auf Lager, wenn es um das Drumherum ging, das die Weihnachtszeit mit sich brachte. Von Konsumterror und Geldverschwendung war die Rede. Von erzwungener Fröhlichkeit und gespieltem Familienglück. Von falscher Idylle und verlogener Festtagsstimmung. Ganz zu schweigen von ungesunden Kalorien und Zucker-Bomben, die sich noch Wochen nach den Festtagen negativ auf Körper und Geist auswirkten.
Und so fühlte Inga sich verpflichtet, ihre Vorliebe für sich zu behalten, aus ihrer übermäßigen Liebe zum Weihnachtsfest ein Geheimnis zu machen.
Sie wartete ab, durch litt mehr oder weniger den Rest des Jahres, bis sich die frohen Tage näherten, bis es ihr erlaubt war, ohne schiefe Blicke zu ernten, von Weihnachten zu sprechen, in Vorbereitungen zu schwelgen und schamlos die leuchtenden Dekorationen an Wänden und Fenstern zu bewundern.
Denn soviel gönnte sie sich. Auch wenn in ihrer Umgebung und Familie, das Weihnachtsbrimborium als solches weitgehend abgelehnt wurde. Auch wenn ihre Eltern sich noch heute über das seltsame Geschäft kaputtlachten, in dem merkwürdige, als Elfen verkleidete und mit grünen Filzmützen bewaffnete Menschen auch im Hochsommer so taten, als ließen Festtagsstimmung und Vorfreude ihre Herzen höher schlagen, nahm Inga sich heraus, ihre Freude an dem Fest, wenn es dann wirklich bevorstand, zu zeigen. Selbst wenn sie schiefe Blicke erntete. Selbst wenn sie mit ernsten Worten zur Vernunft gebracht werden sollte.
Es half alles nichts. Inga begann bereits kurz nach Sylvester, sich Gedanken über das nächste Fest zu machen. Gerade, wenn die Erinnerung noch frisch war, schien es ihr umso wichtiger, die gerade stattgefundenen Vorgänge zu analysieren und mögliche Scharten ein für allemal auszubügeln.
Sie führte Listen darüber, inwiefern ihre Gaben Anklang gefunden hatten. Sie beobachtete genau und deutete aufgrund von Kenntnis und Wissen um die beschenkten Personen. Ob jemand überhaupt imstande war, seine Freude zu zeigen, ob er zu schüchtern oder zu zurückhaltend war, wurde ebenso einkalkuliert, wie die Möglichkeit, dass Inga in der Wahl der Geschenke tatsächlich danebengegriffen hatte.
Natürlich spielte auch die Dekoration eine große Rolle. Und Inga sorgte stets dafür, dass nicht nur sie, sondern auch die anderen Mitglieder ihrer Familie oder ihres begrenzten Freundeskreises sich der Jahreszeit gemäß verhielten. Wenn sich jemand von ihnen nicht der Mühe unterzog, eine Lichterkette ins Fenster zu hängen, dann bastelte Inga großzügig einen Stern aus Goldpapier, wenn sie nicht selbst und höchstpersönlich für die Unterbringung der notwendigen Lichterkette sorgte. Weihnachten war schließlich die Zeit des Gebens und es kam nicht von ungefähr, dass Inga das neue Jahr stets ohne einen übriggebliebenen Cent begann.
Auch wenn sie sich noch so sehr vornahm, es in diesem Jahr nicht zu übertreiben, so konnte sie sich doch, wenn die Zeit gekommen war, nicht mehr zurückhalten. Aber die Möglichkeiten waren einfach zu verlockend, und die Dürreperiode zu lang gewesen. Wie schwer fiel es ihr, sich über die nicht geschmückte Zeit hinwegzutrösten, über die Tage, die ohne Kerzenschein, ohne Zimt- und Nelkenduft qualvoll langsam vergingen.
Sonnenschein, grüne Wiesen, blauer Himmel bedeuteten Inga nichts. Sie sehnte sich nach Kälte, nach Schnee, grauen Wolken und ungemütlichem Nieselregen. Nach kühlem Wind, der es notwendig machte, den Kragen hochzuschlagen, der danach schrie, sich an einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt zusammenzudrängen und ein dampfendes, duftendes Getränk zu sich zu nehmen. Untermalt von immer wieder denselben Weisen, den altbekannten und vertrauten Melodien, denen es immer wieder gelang, Inges Herz höher schlagen zu lassen, ihre Gedanken mit Freude und Glück zu erfüllen.
Doch noch verlockender als Lebkuchen und Punsch war jeder Funke Goldes, der aufglänzte, der seinen milden Schein in Inges Gemüt warf und es aufstrahlen ließ, bis sie ein automatisches Lächeln fühlte, das sich ohne ihr Zutun auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Ob es sich um Glitter, Flimmer, Lametta oder Goldlack handelte, spielte keine Rolle. Ja, sie akzeptierte sogar Silber oder Kupfertöne, denn wichtig waren ihr der Glanz und der Glimmer. Eine spiegelglatte Oberfläche, die Kerzenlicht zurückwarf, vervielfachte und durch den Raum schickte, bis jede Wand mit verhaltenem Zauber erglühte.
Duftendes Tannengrün spielte perfekt in die Mischung, unterstrich und ergänzte den edlen Schimmer des falschen Metalls. Denn es spielte für Inge beileibe keine Rolle, ob der Glanz echt oder getürkt war, woher er stammte oder wie viel er wert war. Ganz im Gegenteil, für Inge war es nichts als der schöne Schein, der zählte. Nichts als der Eindruck, der Gesamteindruck, der mit dem Anblick einer Kombination aus Licht und Schatten, aus Glanz und Dunkelheit entstand. Vanille und Zimt, feine Düfte im Hintergrund spielten ebenso eine Rolle wie leise Musik, knisternde Wärme, die ein Kamin oder auch nur eine einzige brennende Kerze hervorriefen.
Die Stimmung war alles. Die Stimmung bedeutete Weihnachten. Und wenn Weihnachtsstimmung vorherrschte, so war die Welt in Ordnung, ihre Welt. Inge verstand nicht, wie Menschen sich inmitten der schönsten Zeit des Jahres nach Frühling oder gar Sommer sehnen konnten, nach Hitze und Insekten, nach ausgetrocknetem Asphalt und dem Geruch geschmolzenen Gummis auf den Straßen. Der Winter war sauberer, reiner, ehrlicher. Und die Krönung des Winters lag im Lichterfest verborgen, das Glück und Wärme in jedes Herz brachte.
Wenn jemand, ob er aus Inges Familie oder aus ihrem Freundeskreis stammte, nicht so empfand, so legte Inge alles daran, dessen Meinung zu ändern. Und sie bewies ein außerordentliches Durchhaltevermögen in diesen Bemühungen. Ein weitaus größeres, als sie es in jedem anderen Bereich ihres Lebens aufwies. Vielleicht weil es ihr so große Freude bereitete, weitaus mehr Freude als jede andere Tätigkeit oder Bemühung. Vielleicht, weil sie es für die einzige Tätigkeit hielt, die einen wahren Sinn enthielt. Vielleicht weil Inga glaubte, dass die Bewahrung des Weihnachtsfestes der Bewahrung der Liebe gleichkam. Und dass diese gerade in der aktuellen Zeit weitaus nötiger und wichtiger war, als alles andere. Sie war es wert sich für sie einzusetzen, wert sich ein Bein nach dem anderen auszureißen. Denn das tat Inge bereitwillig. Und nicht weniger als das. Manche mochten es Besessenheit nennen, doch Inge hatte im Laufe der Zeit gelernt die allzu deutlichen Spuren des wahren Ausmaßes ihrer Leidenschaft zu verbergen.
Sie wollte beileibe niemanden erschrecken oder irritieren. Schon gar nicht jemanden, den sie insgeheim plante auf ihre Seite zu ziehen und an ihrer haltlosen Begeisterung teilhaben zu lassen.
So wie sie es mit jedem plante, der nicht schon längst von dem Weihnachts-Virus befallen war oder wenigstens so tat, als wäre er befallen.
Denn was ihre Freunde und Verwandten anging – sie alle hatten einen Weg entdeckt, sich vor Inges Nachstellungen in Sicherheit zu bringen.
Kurz gesagt, bemühten sie sich, solange Inge in der Nähe war, ihr zu Willen zu sein, nach jedweder Möglichkeit zumindest. Sie spielten ihr also etwas vor, taten so, als fühlten sie eine ähnlich starke Liebe und Begeisterung für das Weihnachtsfest, wie Inge sie in ihrem Herzen trug und sich bemühte, zu verbreiten.
So konnten sie zumindest halbwegs sicher sein, dass Inge ihre Aufgabe für erfolgreich beendet ansah und sich anderen Ufern zuwandte. Sprich anderen Personen, die sie verfolgte, um deren Vorlieben und Charakterzüge zu erforschen. Natürlich ausschließlich zu dem Sinn und Zweck, um mögliche Schwächen oder auch Zwänge zu ihren Zwecken zu nutzen. Sprich, um den Verfolgten das Weihnachtsfest in ähnlicher Pracht und Verzückung nahezubringen, wie sie selbst es Jahr für Jahr erlebte.
Nichts glich dem Rausch dieses Festes, die Sinne wurden ausnahmslos und von allen Seiten bombardiert, angeheizt und in eine Ekstase geführt, die der nächsten folgte.
Ein endloses Hochgefühl war die Folge und Inge zeigte keinerlei Verständnis dafür, dass sich jemand diesem Hochgefühl entziehen wollte. Der Zweck heiligte die Mittel und wenn sich jemand gegen sein Glück sträubte, so lag es an ihr, diesem auf die Sprünge zu helfen. Sei es mit unlauteren oder vielleicht sogar moralisch nicht vollkommen einwandfreien Mitteln, es spielte keine Rolle.
Und zudem war Inge sich durchaus bewusst, dass sie sich selbst einen engeren Moralkodex auferlegte, als ihn andere Menschen zu befolgen pflegten. Wenn sie Zeit für Zeit gezwungen war, von ihrem rechten Pfad zur Glückseligkeit abzuweichen, so zählte im Endeffekt doch nur der Erfolg, und in diesem speziellen Fall, die Umkehr einer verlorenen Seele. Einen Menschen zum Zauber des Weihnachtsfestes zu führen, sollte jedes Opfer und jede zugegeben geringe Verfehlung wert sein. Davon war Inge stets überzeugt und danach handelte sie. Inge genierte sich nicht, zu Mitteln zu greifen, die auch einmal unterhalb der sprichwörtlichen Gürtellinie lagen.
Und ihr Erfolgsquotient lag bei 100 Prozent.
Sicher, Inge besaß das Gespür und den richtigen Riecher. Neben der allumfassenden Liebe und der dazugehörigen Kenntnis betreffend jeder Kleinigkeit des Weihnachtsfestes und all seiner Verwandten.
Meistens fühlte sie instinktiv und ziemlich rasch, wo der Hebel angesetzt werden konnte.
Beispielsweise im Hinblick auf alleinstehende Frauen, mit denen sie vertrauter wurde und an denen sie eine undefinierte Abscheu gegenüber den Festtagen bemerkte. Es war nicht schwer, die Leere, die sich in deren Leben ausdehnte, und die nur durch Arbeit und trendige Aktivitäten verdeckt wurde, zu erkennen und mit den richtigen Werten zu füllen.
Manches Mal gehörte das Durchbrechen einer mühsamen, über Jahre hinweg praktizierten Diät hinzu. Doch auch diese Herausforderung meisterte Inge mit Leichtigkeit. Unabhängig davon, in welche exotischen Länder die besagten Damen ihre Prestige-Reisen unternahmen, die sie dem veralteten und unangenehm proletenhaften Weihnachtsfest vorzogen, sprich, über die sie besonders gerne im Angesicht eines altmodischen Adventskranzes oder eines Tannengestecks herzogen, Inge schaffte es beeindruckend rasch ein Rezept und somit auch ein Beispielexemplar des passenden, regionalen Gerichtes aus dem Ärmel zu zaubern, das im verhärmten und frustrierten Gesicht der jeweiligen modernen Frau von Heute, zuerst ein Erstaunen und dann ein Aufflackern der Wärme aufwies, die zu lange unterdrückt gewesen war.
Das Weihnachtswunder fand weltweit statt. In jeder Hütte und in jedem Palast ließen sich die Anzeichen entdecken. Und Inge ging gerne auf Entdeckungstour.
Und ebenso gerne beobachtete sie, wie die Fassade eines mit beiden Beinen fest in der Realität verankerten Menschen bröckelte, wenn er zu erkennen begann, dass es mehr gab, als das Offensichtliche. Dass alles zusammenhing, jedes Lebewesen mit dem anderen verbunden war. Auch wenn sich das erst zeigte, sobald ein Weihnachtsrezept seinen Weg über Ozeane zurückgelegt hatte und jemanden daran erinnerte, dass Weihnachten mehr war als Konsum.
Wurde dann erst ein Bissen genossen, stellten sich positive Gefühle ein, so war der Sieg bereits errungen. Es reichte oft aus, nur einen einzigen der Sinne zu erreichen, zu betäuben, um das gesamte Ziel offensichtlich zu machen.
Männer stellten im Großen und Ganzen eine geringere Herausforderung dar. Selbst die überzeugten Weihnachtshasser trugen ihre Schwächen vor sich her. Ob diese in der richtigen Menge eingeflößtem Alkohol bestanden oder in einem Blick auf ein neuartig blitzendes, hochentwickeltes, technologisch vollkommen unnötiges Spielzeug, spielte den Erfolg betreffend keine Rolle.
Manche benötigten nur ein winziges Stupsen, um sich daran zu erinnern, was ihrem Leben fehlte. Ob es denn die Zusammengehörigkeit in der Familie, reine Mutterliebe, die notwendige Achtung einer Vaterfigur war, all diese Punkte ließen sich am Weihnachtsabend in einer harmonischen Atmosphäre wiedererwecken oder zum ersten Mal entdecken und fühlen. Um demjenigen Tränen der Rührung in die Augen zu treiben, musste es nicht einmal heiliger Abend sein. Inge hatte ihre Kunst soweit verfeinert, dass sie in der Lage war, die gesamte Vorweihnachtszeit mit Momenten, Augenblicken und Stunden zu füllen, die der Harmonie und dem Frieden untereinander gewidmet waren und auf jeden, der daran teilhatte, unvergesslich magisch wirkte.
Sie konnte die Hektik des Alltags vergessen lassen. Sie konnte eine Insel schaffen in der Zeit, die notwendige Ruhe, die andere Menschen gerade in der Weihnachtszeit außer Acht ließen.
Was bedeutete eine unterbrochene Diät, ein exzessiv genossenes Festmahl oder das rapide Einschmelzen des Betrags, der auf dem Konto ruhte, im Hinblick auf diesen Erfolg?
Nichts, jedenfalls nichts für Inge.
Sie trug die Fackel weiter, verkündete die Botschaft, die verkündet werden musste.
Und das ohne Rücksicht auf Verluste.
Wie froh war sie schließlich, als sich all ihre Mühe bezahlt machte. Wie froh war sie, als sich einige der besonders schwarzen Schafe, die zu überzeugen sie ganz besondere Mühe gekostet hatte, zusammenrotteten und sie aus überschäumender Dankbarkeit heraus zu einem weihnachtlichen Festmahl einluden.
Inge hatte Tränen in den Augen. Es sollte die Krönung ihrer Bemühungen werden. Wie oft hatte Inge davon geträumt, dass es ihr gelänge, nicht nur einzelne Abtrünnige zu bekehren, sondern dass diese Bekehrten sich auch noch zusammenschlossen und die Botschaft weiter in die Welt trugen.
Mitglieder ihrer Familie waren ebenso anwesend, wie erst kürzlich, in den letzten Jahren überzeugte Freunde und Bekannte. Und sie alle versprachen, diesen Heiligabend ihr zu Ehren auszurichten. Noch nie zuvor war Inge so glücklich gewesen.
Sie schwelgte in Träumen und Vorstellungen, wohnte den Vorbereitungen bei, wann immer sie durfte, beobachtete das Entzünden von Kerzen, das Ausrollen von Teig und das Aufstellen feiner Porzellanengel. Sie half beim Tragen duftender Tannenzweigen und dem Herbeischaffen genau aufeinander abgestimmten Geschirrs.
Lachende Gesichter, wohin sie auch sah. Augen und Münder strahlten in reinster Vorfreude und als das Glöckchen ertönte, das sie in das Wohnzimmer rief, glaubte Inge vor Glück zu platzen.
Der Baum war kostbar geschmückt, die Weihnachtsmusik erklang sanft im Hintergrund und der feine Duft nach Braten und Kartoffeln drang aus der Küche und umschmeichelte die Nase.
Ein Sektkorken knallte und Inge konnte nicht anders, als begeistert in die Hände zu klatschen, als die sorgfältig auf einem Tablett aufgereihten Gläser Stück für Stück gefüllt wurden.
Feierlich reichte man ihr eines davon. Feierlich wurde angestoßen und gute Wünsche geäußert. Alle warteten darauf, dass Inge als Erste einen Schluck nahm, sollte es doch ihr Ehrentag sein.
Sie nahm dankbar einen tiefen Zug, fühlte das perlende Getränk auf ihrer Zunge, schluckte hastig und wartete auf das angenehme Kribbeln, den leichten Schwindel, der diesem Abend den allerletzten Schliff verleihen sollte.
Nur dass dieser sich nicht einstellte. Obwohl sie wusste, welch großen Teil an den im ersten Augenblick durch den Genuss von Alkohol ausgelösten Emotionen die eigene Fantasie behielt, irritierte Inge doch vor allem der leicht bittere und ihr unbekannt erscheinende Nachgeschmack.
Sicher, sie trank Alkohol wirklich nur zu besonderen Gelegenheiten und nur zu Festtagen. Und doch war sie sich fast sicher, einen Beigeschmack wie diesen noch nie zuvor erfahren zu haben.
Inge zog die Nase kraus und sah sich um. Überall lachten ihr erwartungsvolle Gesichter entgegen. Breit grinsende Münder und leuchtende Augen bedeuteten ihr, das Glas zu leeren und obwohl Inge auffiel, dass sie die Einzige war, die an ihrem Sekt wirklich nippte, erfüllte sie den Wunsch gehorsam.
Die anderen sahen sie fröhlich an und nickten erst ihr und dann sich untereinander zu, bevor sie ihre Gläser fast auf ein Kommando hin, abstellten und sich Inge zuwandten. Die stellte zu ihrem Erschrecken fest, dass ihr eigenes Glas unendlich langsam aus ihrer Hand rutschte. Sie wollte den Mund öffnen, wollte einen warnenden Laut ausstoßen, doch auf einmal wich die Welt von ihr. Es war, als senkte sich ein Schleier zwischen sie und die anderen im Raum. Und dann fühlte sie wie aus großer Entfernung, dass sie stürzte. Inge stürzte und fiel. Die Welt begann sich um sie herum zu drehen, lachende Gesichter umkreisten ihren fallenden Körper. Hände streckten sich aus, jedoch nicht um sie zu halten, sondern um sie tiefer herab zu zerren in ein Dunkel, das sie instinktiv fürchtete.
Doch als sie aufschlug war das Dunkel alles andere als bedrückend. Das Dunkel beinhaltete in sich ein Licht. Und als Inge wieder zu sich kam, als sie blinzelte und versuchte aus dem, was sie umgab einen Sinn zu erschaffen, da vermehrten sich die Lichter. Da begann es um sie herum zu glitzern und zu funkeln. Und wohin sie auch sah, sie erkannte Gold und Silber, Schmuck und Leuchten, eingebettet in dunkles Rot und in sanftes Grün. Sie erkannte einen Weihnachtstraum. Eine Welt, in der sich glänzende Kugeln stapelten, in der Lametta flirrte und tausend Funken versprühte. Eine Welt, in der kristallene Schneeflocken wirbelten und in der, nachdem Inga wieder zu Atem kam, kleine Menschen mit grünen Filzmützen geschäftig an ihr vorbeihuschten.
„Was ist hier los?“, flüsterte sie und versuchte sich aufzurichten, als eines der Wesen stehen blieb und sie freundlich anlächelte. „Du bist angekommen“, sagte es. „Wir arbeiten das ganze Jahr auf das Fest hin. Und sei dir gewiss, dass wir eine helfende Hand besser als alles andere brauchen können.“
„Das Weihnachtsgeschäft“, seufzte Inge glücklich. „Habe ich es endlich gefunden? Und das nach all den Jahren.“
Der grünbemützte Elf lächelte.
„Und bei euch ist auch im Sommer Weihnachten?“
„Immer“, bestätigte der Elf ihr. „Keine Sorge. Von jetzt an musst du nie wieder ohne die Dinge sein, die dir so viel bedeuten.“
Und so war es auch. Inge hatte ihre Bestimmung gefunden. Ob in dieser oder einer anderen Welt, darüber mochte sie nicht nachdenken. Darüber musste sie auch nicht nachdenken. Es war vollbracht.

Was Sie noch niemals über Slasherinnen wissen wollten ...

Was Sie noch niemals über Slasherinnen wissen wollten und auch jetzt nicht zu fragen wagen
Aus dem schonungslosen Offenbarungsbericht 'Maja - Geschichte einer Slasherin' die erste und absolut authentische Leseprobe:


Achtung - unsterbliches Werk - ich hab doch deutlich gewarnt - copyright: aavaa verlag (aber ich bin mir ziemlich sicher, Auszüge posten zu dürfen ... und wenn nicht - verklagt mich doch ...)

*

Diese Beleidigung meiner Lieblings-TV-Serie konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen und holte bereits Luft zum Gegenschlag, als sich Xavers Stirn auf einmal in Falten verzog. Sein Gesicht nahm den Ausdruck an, den ich nur aus Momenten kannte, in denen er über seinen Textaufgaben brütete.
„Also“, sagte er langsam und betont. „Du hast nicht nur Menschen aus fremden Ländern gesehen, sondern auch noch geheimnisvolle Sicherheitskräfte. Und du fürchtest, sie könnten etwas mit dir zu tun haben.“
„Es tut mir leid“, murmelte ich kleinlaut.
„Das sollte es auch. „Sein strafender Blick traf mich erbarmungslos. “Entweder dreht deine Phantasie völlig mit dir durch und du siehst Gespenster…“ Er stockte. „Mehr Gespenster als gewöhnlich.“ Eine seiner Augenbrauen wanderte in die Höhe. „Oder finstere Mächte suchen dich heim, um Rache zu nehmen für deine Internet-Untaten.“
Ich schluckte, doch wehrte ich mich. „Das sind keine Untaten. Das ist Befreiung und… und Befreiung eben…“
„Wehe, wenn sie losgelassen…“, stöhnte Xaver wieder. „Ehrlich. Ich hab keine Ahnung, was du meinst, aber offensichtlich musst du schleunigst damit aufhören.“ Hoffnung flackerte in seinem Blick. „Und etwas Vernünftiges tun. Etwas Sinnvolles. Etwas, das ich auch in der Schule erzählen kann.“ Er schob die Unterlippe vor, und ein hysterisches Kichern brach sich aus mir Bahn.
„Es tut mir leid“, wiederholte ich und knuffte ihn in die Seite. „Ich reiß mich zusammen.“ Ich überlegte. „Das bedeutet, ich werde erst einmal darüber schreiben.“ Erleichtert atmete ich auf, froh eine momentane Lösung entdeckt zu haben.
„Na doll“, grummelte der Junge in sich hinein und wühlte in seiner Schultasche. Doch kaum hatte er seinen Gameboy in den Fingern, ließ ihn ein Aufschrei seiner Mutter zusammenzucken.
„Verdammt.“ Der Bildschirm flackerte, doch das war nicht die Ursache meines Unmutes. Obwohl mein Sorgenkind, der Computer sich wie üblich mühsam und lautstark aus seinem Schönheitsschlaf aufrappelte, sich stotternd einige Momente weigerte und zierte, so ließ er sich doch eigentlich rasch und problemlos hochfahren und ermöglichte mir den Zugang zu der Welt, die mein ein und alles war. Doch mein Fluch hatte einen Grund und der lag nicht nur in der überquellenden Mailbox.
Ein schlechtes Zeichen, fürwahr. Ließ ich doch die zahlreichen Kommentare zu meinen Werken nicht mehr direkt in meinen Briefkasten senden, sondern bemühte mich, die Korrespondenzen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ein Zugeständnis, das dem kreativen Genius erlaubt werden sollte. Ein Zugeständnis, das vielleicht mein Ego weniger streichelte, da ich weniger Feedback, weniger Lob und Ermunterung seitens abhängiger Leser erhielt. Aber das Opfer war eine Notwendigkeit, hemmte doch jede Zeitverschwendung den Fluss des Schaffens. Ergo war es kein Wunder, dass ich beim ungewohnten Anblick der Anzahl von Nachrichten erschrak. Noch weniger verwunderlich war es, dass ich in regelrechte Panik geriet, als sich mir die Absender jener Nachrichten offenbarten. Das Unheil ließ sich zwar nicht auf eine Person zurückführen, jedoch auf die Bewegung, deren Wort- und Rädelsführer diese Person war. Wie um alles in der Welt war sie an meine E-Mail Adresse geraten? Womit in aller Welt hatte ich das verdient.
Schon seit geraumer Zeit machte sie mir das Leben schwer, verwässerten ihre penibel ausgedrückten, vernichtend konservativen Kommentare meinen Lesern den Kunstgenuss. Schon seit geraumer Zeit kämpften meine Online Anhänger auf virtuellem Grunde gegen die giftigen Säuren, die sich den Weg durch ihren Netzanschluss in die unschuldige Gemeinschaft der Freunde romantischer Literatur bahnten.
Natürlich war es eben diese Romantik, die dieser Dame ein Dorn im Auge war. Diese Romantik, die ihrem verknöcherten Gemüt den Brechreiz entlockte, dem sie verbalen Ausdruck verlieh.
Doris van Karnten, extremistisches Fangirl der Jahrtausendserie ‚Agents on Fire‘. Sie leitete nicht nur einen Fanclub, sondern gleich mehrere. Sie organisierte Foren, Conventions, Petitionen und Aktionen verschiedenster Färbungen und Ziele. Sie betrieb einen Fanshop, produzierte Briefpapier, Ansichtskarten, Wallpaper und Banner mit den Helden des kleinen Bildschirms.
Mit meinem Helden, dem blonden Star der Serie: Finn Cackleford. Ich will nicht behaupten, dass ich ihn mehr liebte, als sie es tat. Ich will auch nicht behaupten, dass ich das einzig wahre Recht auf die Auffassung des Charakters besaß, den er so gekonnt und genial verkörperte. Ich behaupte allerdings, dass mir das Recht zusteht, meine Auffassung der Dinge zu veröffentlichen, gleichgesinnten Seelen so die Möglichkeit zu verschaffen, ein Forum für ihre einsamen Fantasien zu entdecken, sich nicht alleine zu fühlen mit dem, was sich im tiefsten Inneren ihrer Seele, in den verbotenen, verschlossenen Kerkern versteckte.
War es denn falsch zu träumen? War es falsch von Romantik zu träumen in einer Welt, die so vollkommen frei von Romantik ist? Und diese Welt war frei von Romantik. Es war die harte Welt der Geheimdienste. Eine knallharte Welt, dominiert von Gewalt und Hass. War es nicht umso entzückender, ausgerechnet in dieser Welt die zarte Pflanze der Liebe erblühen zu lassen, zwei Seelen zu vereinen, die so verschieden, so weit voneinander entfernt und doch so nah waren.
Natürlich, sie waren beide Kollegen, meine Agenten. Ein Job, eine Berufung, ein Ideal. Und sie beide waren Männer. Zwei Männer, die sich liebten.
Natürlich nicht in der Serie. Nicht auszudenken in einer amerikanischen Mainstream Produktion. Nicht auszudenken, eine Idee wie diese der texanischen Landbevölkerung zuzumuten.
Aber hier, im freien Europa, in einem freien Land, in der freien Phantasiewelt einer Frau? Nein, nicht einer Frau alleine. Tausende teilten meine Vision. Tausende sahen in dem wöchentlichen Geplänkel, den Macho-artigen Streitereien unter tapferen Kriegern gegen das Böse, nur ein Vorspiel für etwas Größeres, etwas Wahrhaftiges, für die echte Liebe, wie sie es nur zwischen zwei gleichgestellten Kerlen geben kann. Kämpfend um Dominanz, kämpfend um die Macht, kämpfend für ein abstraktes Ziel, das sensible Gemüter kaum interessierte. Der Kampf dagegen, erschwert durch persönliche Schicksalsschläge, Dramen und Seelenqualen – er konnte nur zu einer Lösung, zu einem Höhepunkt führen. Zu der absoluten Hingabe an den einzigen Menschen, der Halt und Stütze gewährleisten konnte. Und in Finn Cacklefords Welt, besser gesagt, in der seines Charakters, konnte es das Ersehnte nur in einem Menschen geben. In dem großen, dunkel gelockten Angelo Multobene, seinen Partner, seinen Mitstreiter, seiner Deckung.
Und in den Gefilden der Slash-Literatur, seines Geliebten.
Heimlich lasen sie es; heimliche Leidenschaften flammten auf bei der Vorstellung der beiden ach so männlichen Figuren, im immerwährenden Clinch. Ungebrochen seelisch und körperlich verstrickt in immerwährender Umschlingung der heißen Leiber, vereint in dem ewigen Tanz, suchend nach Ekstase, verlangend nach Erfüllung, wissend um die Unmöglichkeit ihres Begehrens.
Slash macht frei. Der Slash verschönert den grauen Alltag, Slash hält Existenzen wie die meine am Leben. Slash vertreibt die Langeweile und die Enttäuschung. Er öffnet Pforten, enthüllt Geheimnisse, erlaubt Entdeckungen. Der Slash ist die Krone der Fanliteratur.
Doch dann gab es sie. Menschen, anonyme Gesichter, die es nicht ertragen konnten, wenn ihre Helden anders handelten, anders liebten, als es in ihrer verklemmten Gemütswelt möglich sein durfte. Selbst wenn es nur in der Phantasie einer einzelnen Person geschah. Und all diese gesichtslosen Menschen kumulierten in einer Figur, Doris van Karnten. Doris, weizenblond gefärbt, hager von Gestalt, besessen von der Reinheit des heldenhaften Agenten. Besessen von der selbstgewählten Aufgabe, die Beschmutzer jener Reinheit bloßzustellen, sich an ihnen zu rächen, sie zu vernichten.
Und vor allen anderen, die die Welt anders sahen als sie selbst, hatte sie mich auf ihrem Kieker. Vielleicht, weil ich deutsch schrieb und sie daher wohl eher zufällig auf meine beleidigenden Geschichten gestoßen war. Vielleicht, weil ich die Einzige war, die es wagte, auch in unserer so kalten, harten Muttersprache die Charaktere der Serie auszuleihen, um sie unmenschlichen Torturen zu unterziehen. Vielleicht auch nur, weil ich es war, weil ich für sie erreichbar war, weil sie mich gefunden hatte. Weil sie mich jetzt gefunden hatte. Es musste etwas zu tun haben mit dieser ID, IP Nummer, die hin und wieder und vollkommen unverständlich für technisch und logisch unbegabte Geister wie mich erwähnt wird. Ich wusste, dass ich mehr Vorsicht hätte walten lassen sollen, dass eine erfundene Identität, ein abgedrehter Künstlername einfach nicht ausreichte. Grob fahrlässig, so hatte ich gehandelt, anders ließ es sich nicht erklären.
Ich starrte auf die Absender. Sie war es. Unverkennbar ihre Mailadresse. Unverkennbar der Account ihrer Fangemeinschaft. Es war… all diese Hasstiraden trugen ihre Handschrift. Es reichte aus, die Betreffzeilen zu lesen, um sich dessen klar zu werden. Es reichte, sich ein wenig in den Gebieten, in den Räumen der Fangemeinschaften herumgetrieben zu haben. Und ihre Anhänger hatten es ihr gleichgetan. Mein Briefkasten quoll über. Mein Geheimnis war gelüftet.
Trotz des Pseudonyms, unter dem ich schrieb, trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die ich so gewissenhaft getroffen hatte, war meine Anschrift durchgesickert.
Ein beängstigender Verdacht breitete sich in mir aus. Mein Kopf fuhr herum, und ich starrte Xaver erschrocken an. Er blickte zurück, mindestens ebenso verwirrt, doch glücklicherweise noch ohne den Ernst der Lage zu erkennen. Glückliches Kind.
Ich stürmte an ihm vorbei. Ich riss die Tür auf. Zu spät kam mir die Unvorsichtigkeit dieser Handlung zu Bewusstsein. Doch noch spielte diese keine Rolle. Niemand bedrohte mich. Noch nicht. Niemand mit Ausnahme der Papiere, der Massen von Papieren, die aus dem Briefkasten neben der Tür quollen. Niemand außer den zahllosen Briefen, die verziert mit Totenköpfen und gestempelt mit Galgenmännchen und abstrakten Zeichnungen von tödlichen Waffen, eine eindeutige Botschaft des Inhalts lieferten, den anzusehen, ich nicht mehr den Nerv hatte.
Automatisch, als könnte ich mich nicht zurückhalten, als wollte ich mich selbst quälen, griff ich mit beiden Händen in die weiße Flut, packte, wessen ich habhaft werden konnte, und zog mich mit dem letzten Aufflackern der einstigen Selbstkontrolle wieder zurück in den Schutz der Wohnung.
Xaver starrte mich mit großen Augen an, und ich konnte es ihm nicht verdenken.
„Was… was ist denn los?“, stammelte er, auf einmal nicht mehr der junge Mann, der er so gerne wäre, sondern das unsichere Kind, das dem in mir verborgenen so ähnlich war.
Erst jetzt merkte ich, dass ich zitterte. „N… nichts…“, stotterte ich und versteckte die Briefe hinter meinem Rücken.
Doch Xaver war nicht umsonst in diversen für mich unverständlichen Ballsportarten zuhause. Obwohl ich alles getan hatte, um ihm beizubringen, dass Sport Mord sei und jede Bewegung unweigerlich zum Ende aller Lebenskraft führte, war es ihm doch gelungen, sich die Tricks der Sportler zu eigen zu machen, die ihren Ball aus der Hand des Gegners zaubern konnten, ohne, dass es besondere Anstrengung kostete. Natürlich konnte ich mich selbst auch nicht als ernsthaften Gegner bezeichnen. Demnach war es eigentlich kein Wunder, dass er mir die Handvoll Papiere entwinden konnte, bevor ich überhaupt etwas davon bemerkte. Jedoch seinen Gesichtsausdruck bemerkte ich sehr wohl.
„Was zum Teufel…?“
Er sah mich an. „Stirb du Schlampe!“
„Wie bitte?“ Ich merkte, wie ich rot anlief.
„Na… steht da.“ Er wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen Umschlag, dessen rote Flecken bei genauerem Hinsehen, als kunstvoll verschnörkelte Blutstropfen zu erkennen waren.
Die Farbe wich wieder aus meinem Gesicht und ich spürte, wie meine Knie schwach wurden.
„Das… das ist bestimmt nur ein Scherz.“
„Ach ja?“ Xaver hielt mir einen grimmigen Totenkopf entgegen.
„Der hier auch?“ Er schüttelte den Kopf.
„Mensch, Mama. Diesmal hast du dir aber wirklich Feinde gemacht.“
„Ich weiß doch auch nicht, wie die an meine Adresse gekommen sind… ich… ich kann nichts dafür.“
Der kühl wissende Gesichtsausdruck Xavers belehrte mich eines Besseren.
„Und mir sagen, ich solle die Verantwortung für meine Fehler übernehmen. Pah!“
„Das… ich hab keine Fehler gemacht“, versuchte ich meine angekratzte Autorität wieder aufzurichten.
Xander lachte blechern. „Nein, nur Millionen anständiger, harmloser Krimifans so gekonnt vor den Kopf gestoßen, dass ihnen nichts Besseres einfällt, als dein Leben zu bedrohen.“
„Die… die bedrohen mich doch nicht… das können die doch nicht.“
„Also ich bezweifle das.“ Xaver ließ die Umschläge zu Boden flattern und durchquerte rasch den Raum, um sich über den Monitor zu beugen.
Ein Klick. „Und was ist das?“, schnappte er und begann zu buchstabieren, stoppte jedoch abrupt, als ihm die Bedeutung des Wortes aufging. Er lief rot an und das sollte wahrhaftig etwas bedeuten. War mein Söhnchen doch kein unbeschriebenes Blatt, wenn es darum ging, die Tiefen des Wortschatzes auszuloten. Ich selbst zog es vor, meinen Blick vom Monitor abzulenken und geflissentlich auf das Finn Cackleford Poster zu starren, das ich über dem Fernseher befestigt hatte. Es war das, auf dem er in lässig cooler Pose gegen einen Pferdezaun lehnte, im Einklang mit Natur und Weite der Landschaft. Ein Bild, das ich als gute Mutter also auch meinem Sohn zumuten konnte, ohne ihn fürs Leben zu schädigen.
Die Promo-Poster, auf denen Finn mit gezogener Pistole über Häuserdächer sprang, oder in schusssichere Weste gekleidet mit einem Messer zwischen den Zähnen und einer blutenden Wunde auf der Stirn, sich heldenhaft vor seinen bedrohten Partner warf, hatte ich wohlweislich in den Schrankinnentüren angebracht. Kam ja gar nicht in Frage, dass meine Begeisterung irgendwelche seltsam erscheinenden Züge annahm. Davon, einen Altar aus Zeitungsschnipseln zu basteln, war ich noch weit entfernt. So hoffte ich zumindest.
„Mama… hey!“ Xavers Finger schnippten knapp vor meinem Gesicht und weckten mich aus meiner Trance.
„Was… was ist denn los?“
„Was los ist?“ Xaver raufte sich die ohnehin schon struppigen Haare. „Was los ist?“, wiederholte er schrill. „Los ist, dass Wahnsinnige aus der Anstalt ausgebrochen sind und dir nun auflauern. Du hast nicht nur Indianer beleidigt, sondern auch noch ‚Agents on Fire‘–Fans.“
Ich verzieh ihm die aus einem momentanen Schock heraus geborene politische Unkorrektheit. „Was für eine Anstalt?“ Immerhin fand ich mich langsam wieder zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hier gilt immer noch die Meinungsfreiheit… gerade im Internet.“
„Das denkst du vielleicht“, protestierte Xaver. „Aber du bist auch die Einzige, die es wagt, die Grenzen des guten Geschmackes wieder und wieder zu überschreiten und die Empfindsamkeit fremder Kulturen mit Füßen zu treten.“
„Amerikanische Ureinwohner hatten keine Angst vor Homosexualität“, warf ich ein und bereute mal wieder, dass ich meinem Sohn von Anfang an beigebracht hatte, auch rhetorisch seinen Mann zu stehen. Eigentlich hatte ich ihn schon in der Wiege ohne Punkt und Komma zugetextet. Er hatte keine andere Wahl, als sich so schnell wie möglich mit den Waffen, die ich ihm in die Hand gegeben hatte, zur Wehr zu setzen.
„Ganz im Gegenteil.“ Ich setzte zu einem Vortrag an. „Krieger zogen Stärke daraus, in der Nacht vor der Schlacht bei einem Mann zu liegen, der…“
Xaver hielt sich verzweifelt die Ohren zu. „Ich weiß, ich weiß. Und ich will es gar nicht wissen“, jammerte er gequält.
„Aber das ist doch das Schlimme“, fuhr ich enthusiastisch fort. Was sonst sollte ich auch tun, als mich auf vertrautem Gelände von der aktuellen Bedrohung fortzubewegen. „Das Schlimme, wenn sogar ihr jungen Leute eine solche Angst und Scham empfindet, wenn ihr nur das Wort schwul…“
„Lalalala…“ Xaver presste seine Hände nur noch fester gegen seinen Kopf und verdrehte die Augen. „Hab doch Erbarmen, Mama. Nicht jeder will von morgens bis abends nur über Das Eine sprechen.“
„Aber…“
Ein flehender Blick brachte meine Überzeugung ins Wanken, und ich beschloss, den Aufklärungsunterricht auf einen anderen Tag zu verschieben. Am Besten auf einen Tag, an dem ich nicht das Gefühl haben musste, eingekesselt von meinen Feinden im Inneren einer abgeschotteten Schlucht auf den Einmarsch der Armee zu warten. Einer Armee, die ausgezogen war, meine Person und alle Spuren ihrer Existenz von der Bildfläche zu wischen.
„Ist ja gut.“ Ich tätschelte ungelenk sein wirres Haar. „Ich bin schon still.“
Xaver ließ die Hände herabsinken und grinste schief. „Noch mal davon gekommen“, murmelte er und machte eine ungenaue Handbewegung, die sowohl die Briefe, als auch den Computer, sowie alles, was sich vor der Wohnungstür befand, einschloss. „Und was machen mir damit?“
Ich presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf.
Rational denken, das war jetzt wichtig. Gut, Doris war eine Verrückte, doch wie weit würde sie wirklich gehen. Und wie viel von all dem ging letztendlich auf ihr Konto? Schließlich waren da noch die Indianer, die amerikanischen Ureinwohner, verbesserte ich mich im Stillen. Es war einfach traurig, dass sich alte Gewohnheiten und Ausdrücke so schwer abgewöhnen ließen.
Wie groß war die Gefahr wirklich? Und inwieweit war Xaver betroffen? Der Gedanke bohrte sich heiß in meine Eingeweide. Dass ich daran nicht früher gedacht hatte. Egal welchen Gefahren ich mich für meine Ideale aussetzen würde, es war alles andere als fair, meinen Jungen mit hinein zu ziehen.
Xavers Augenbrauen hatten sich prüfend zusammengezogen. Seine braunen Augen musterten mich aufmerksam.
„Mama? Was brütest du jetzt schon wieder aus“, fragte er argwöhnisch.
„Nichts, nichts“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich brüte nichts aus, das würde ich nie.“
„Natürlich.“ Xaver rieb sich die Stirn. „Also was… von nun an immer auf der Flucht?“ Er sah sich um. „Ich meine, wir können nicht leugnen, dass das Ganze etwas unschön Bedrohliches annimmt.“
„Auf der Flucht? Wie meinst du das?“, erkundigte ich mich, das Schlimmste befürchtend.
„Na der Film“, stöhnte Xaver auf. „Immer auf der Flucht vor der Fangemeinde deiner Serie?“
„Ha!“ Ich versuchte spöttisch zu klingen, doch heraus kam lediglich ein erbärmlich weinerlicher Laut, der zudem noch halb in meinem Halse stecken blieb. Es würde doch nicht das erforderlich sein, wovor ich mich am meisten fürchtete? Es würde doch nicht…

*