Sonntag, 30. Oktober 2011

Weihnachts-eBooks: Kulinarische Weihnachtsgeschichten

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Sonntag, 16. Januar 2011

Abgrund

Titel: Abgrund
Autor: callisto24
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Sie balancierte am Abgrund, solange sie denken konnte. Den Blick auf die Füße gerichtet, auf die schmale Kante, auf die Dunkelheit, die steil abfiel, Schrecken barg, den sie sich nicht auszumalen wagte. Ein Schritt nach dem anderen, fast panisch vor Angst, bemühte sie sich darum, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Die Gefahr umgab sie von allen Seiten. Sie war so schwach, eine Feder nur. Ihr Halt nicht mehr als Illusion. Selbst wenn sie sorgfältig darauf achtete, einen Fuß immer auf dem Grund zu behalten, die Bindung zur Erde zu bewahren, so wusste sie doch, dass ein Windstoß reichte, sie ins Schwanken zu bringen. Die Arme ausgestreckt konnte sie nicht anders als weiterzugehen, der Linie zu folgen. Unfähig ihre Augen zu heben, unfähig innezuhalten. Das Leben wartete nicht, es verging und sie ging mit ihm. Eine Seiltänzerin, deren Schicksalsfaden mit jeder Sekunde durchschnitten werden konnte. Und weil sie ihre Endlichkeit sah, wuchs ihre Furcht mit jedem Schritt. Aus den Augenwinkeln ahnte sie die Tiefe, ahnte das Verderben, das dort lauerte. Zurück, nur ein wenig zurück, und sie konnte sich auf festen Grund fallen lassen. Konnte sich der Sicherheit hingeben, die weiche Erde darstellte. Aber ein dunkler Trieb zog sie zum Abgrund, ließ sie nicht los, zwang sie auf ihren Weg, geprägt von der Faszination des Schreckens. Sie blinzelte. Der Wind heulte auf und sie schwankte gefährlich. Ihre Arme ruderten hastig, als sie zum ersten Mal seit unschuldigen Kindertagen aufsah, den silbernen Streifen erblickte, der weit vor ihr, am Horizont wartete. Den sie nie erreichen konnte, der jenseits aller Möglichkeiten schimmerte. Sie weinte. Tränen verschleierten den Blick und doch konnte sie nicht stehenbleiben. Zurücksinken, sich in feuchtem Gras niederlassen, den silbernen Streifen beobachten erschien ihr wie ein plötzlich aus dem Nichts aufgetauchter Traum. Seine Erfüllung so absurd wie ihr eigenes, verzweifeltes Bemühen um Sicherheit. Wie ihre Sehnsucht nach Gurten und Bändern, die sie hielten und führten, wo kein Halt existierte. Zur Illusion zerfiel das Bild, als das Silber ihren Blick dorthin lenkte, wo sie ihr Leben lang den Grund vermutet hatte. Und wo sich nichts befand als ein zweiter Abgrund, zuvor nur erahnte Tiefe, deren Dunkelheit bevölkert wurde von den Geistern der Unkenntnis, die ihr folgten. Sie stolperte und fing sich wie so oft zuvor. Sie balancierte weiter auf dem schmalen Grad, der ihr keine Wahl ließ als voranzuschreiten oder abzustürzen.

Freitag, 7. Januar 2011

Der Job I

Titel: Der Job I
Autor: callisto24
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Der Job I

Gut, es ist kein Job. Es ist Baby-Sitten. Und eigentlich noch nicht einmal das, weil meine Verwandtschaft es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht frohen Herzens duldete, mich mit ihrer Nachkommenschaft alleine zu lassen. Was für ein Wunder. Aber ehrlich gesagt, ich würde mich auch nicht unbedingt mit unschuldigen Kindern alleine lassen. Zu riskant, zu fragwürdig, zu wenig Vertrauen in das Schicksal.
Vielleicht auch zu viel Vernunft. Denn – zugegeben – ein wenig labil bin ich schon.
Aber wie dem auch sei. Ich schätze, unter dem Druck tobender Kinder, welcher, wie ich aus Erfahrung weiß, niemals nachlässt, findet sich jeder früher oder später zu Zugeständnissen bereit, an die er unter normalen Umständen keinen Gedanken verschwendet hätte. Ergo sah auch ich mich hin und wieder mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Überwachungsdienst für die Pimpfe zu übernehmen. Lange ist es her, dass ich diesen Job mit meinen eigenen Kindern erledigt habe, und zu meiner Schande kann ich nur betonen, dass ich ihn nicht gerade gut gemacht habe. Wohl wahr, das Hüten hilfloser Kinder liegt nicht in meiner Natur. Zu vieles erschwert die Aufgabe, persönliche und charakterliche Schwächen. Da wäre zum einen die Langeweile. Ganz im Ernst, niemand kann mir erzählen, dass es besonders spannend sei, sich Tag für Tag, Nacht für Nacht, 24 Stunden am Stück hinter immer demselben winzigen Fratz herzulaufen, egal was dieser tut, egal was er sagt oder wie er sich benimmt. Noch schlimmer, wenn es zwei von der Sorte sind. Und nicht auszudenken, zählt die Brut sogar noch mehr Köpfe.
Nun, irgendwie übersteht jeder diese Zeiten des Schlafmangels, der permanenten Angst und Überanstrengung. Und interessanterweise setzt mit zunehmendem zeitlichem Abstand auch das Vergessen ein. Man vergisst, wie ermüdend und anstrengend diese Tätigkeiten sind. Wäre dies nicht der Fall, so stürbe die Menschheit aus. Sich wiederholt der Aufgabe zu unterziehen, die so ein kleines Wesen bedeutet, erklärt sich nur durch die Löcher, die jedermann Gedächtnis durchziehen, durchziehen müssen, um schlichtweg die Arterhaltung zu sichern.
Wie gesagt, diese Zeiten waren vorbei, und vor mir lagen lediglich Stunden, begrenzte Zeitabschnitte, die ebenso einen Anfang wie aber auch ein tröstliches Ende aufwiesen. Eine durchaus überschaubare und zu erledigende Aufgabe. Und ich hatte vor, diese zu erledigen. Ich war gut in Pflichterfüllung, meistens. Oh ja, ich hatte schon Ausflüge mit den Kleinen auf Spielplätze hinter mich gebracht, Aufsicht über unruhige Nachtstunden. Ich hatte mit Fläschchen gefüttert und im Schaukelstuhl gewogen. War unter Tische und Stühle gekrochen, und hatte sogar Fußball gespielt. Oder das, was ich für Fußball halte. Und so hatte ich auch fest vor, diesen Nachmittag hinter mich zu bringen. Doch es begann sofort ausgesprochen aufbauend, mit dem leeren Haus, das mich begrüßte. Unnötig zu erwähnen, dass es schneite, und insgesamt dieser Tag sich eine der unmöglichsten und unangenehmsten Wetterlagen ausgesucht hatte, die man sich vorstellen wollte. Weshalb ich sie mir auch nicht weiter vorstellte, sondern ihrer flüchtete. Genauer gesagt, ich umrundete das Gebäude und verkroch mich auf der mäßig geschützten Terrasse. Und nach der zwangsläufig verstreichenden Zeitspanne, die meine Füße benötigten, um sich in Eisklumpen zu verwandeln, ertönte Klopfen aus dem Inneren des Hauses. War doch die Familie tatsächlich schon zurückgekehrt, doch unter Zuhilfenahme des Schlüssels zuallererst ins Warme geflüchtet. Nun – ich sollte froh sein, dass sie mich überhaupt hineinließen. Und im Ernst – ich war auch froh. Ist es doch auch schön, die Verwandtschaft hin und wieder zu Gesicht zu kriegen. Vor allem, wenn sie klein und putzig ist. So klein, wie das Baby, welches noch mit rosa Mütze bestückt, auf dem Boden krabbelte, und praktisch danach schrie, geknuddelt zu werden. Ja, in Augenblicken wie diesen melden sich doch überraschend meine spärlich ausgeprägten Mutterinstinkte. Oder habe ich von meinen Eltern die Angewohnheit oder die Fähigkeit übernommen, mich gerade noch um Babys kümmern zu können, doch in stärkerem Ausmaße zu scheitern, je mehr Jahre das Kind auf den Buckel lädt. Weiß Gott, dass es mir mit den eigenen Sprösslingen so ging. Nun lässt sich ja auch nicht leugnen, dass Kinder doch schwieriger zu handhaben sind, je mehr Jahre sie zählen. Es reicht nicht mehr, sie nur zu schaukeln, zu wiegen, zu füttern, wickeln und zu trösten. Nein, man ist gezwungen sich richtiggehend mit ihnen zu unterhalten. Wie mit richtigen Menschen. Vielleicht, wenn es hart auf hart kommt, muss man auch etwas spielen. Ich erinnere mich da mit Schrecken an den vergeblichen Versuch meinerseits, mir ein Klettergerüst als Piratenschiff vorzustellen. Ganz ehrlich, da waren keine Segel, kein Steuerrad, keine Luken, Mastbäume oder wenigstens eine Kajüte. Und ein Holzschwert reicht eindeutig nicht aus, um einen kleinen Rotschopf in einen Piraten zu verwandeln. Aber ich habe auch dieses durchgestanden, ebenso wie Indianertänze um ein imaginäres Feuer. Und ebenso plante ich auch diesen Nachmittag durchzustehen. Ich begann also todesmutig mit dem Hochnehmen des Babys, wie bereits erwähnt meldete sich diesbezüglich eine Art Instinkt, den ich nicht unter meiner Kontrolle habe, beim besten Willen nicht. Nachdem es mir gelungen war, besagten Winzling durch zu knuddeln, bis dieser die obligatorischen Sabberspuren auf meinem Hemd hinterlassen hatte, konnte ich mich dem weitaus anspruchsvolleren Exemplar zuwenden. In diesem Falle handelte es sich um meinen kleinen Neffen, definitiv ein Fall für die Aufbietung letzter Fantasiereserven. Und er enttäuschte mich auch dieses Mal nicht. Nicht im Geringsten. Und so begannen wir umgehend mit dem allseits beliebten Feuerwehrspiel. Jawohl, es wurde gelöscht. Jawohl, es wurden Massen an Feuerwehrautos herbeigetragen. Denn wie jedes Kleinkind, das etwas auf sich hält, besitzt auch er eine Unmenge an nützlichem, sowie vollkommen nutzlosem Plastikkram. Wobei das Drama sichtlich damit anfing, dass aus dem Nichts und während des Wickelns der kleinen Schwester ein Feuerwehrmann ins Auge sprang, der umgehend und sofort der Aufmerksamkeit bedurfte. Besser gesagt, der in den Einsatz geschickt wurde, gnadenlos und hartherzig. Denn es handelte sich durchaus um keine einfache Arbeit. Ich beneidete ihn keineswegs, wurde er doch zwischen seinen Löscharbeiten wiederholt von Schwesterchen angegriffen und grausam abgelutscht. Sicher fühlte sich der Feuerwehrmann beruhigt ob der Tatsache, dass das angriffslustige rosa Monster noch keine Zähne besaß.
Wie auch immer, die Löscharbeiten stellten sich als anspruchsvoll genug dar. Wir löschten den Schrank, den Sessel und Stühle, um nur einige der Brandherde zu nennen. Schwierig wurde es bei der Feuerbrunst, der mein Knie zum Opfer fiel, sowie dem Flammenmeer, das unerwartet über den Teppich züngelte.
Nun muss man wohl zugeben, dass das zarte Alter von 3 Jahren nicht unbedingt für gesteigerte Konzentrationsfähigkeit spricht. Es ließ sich nicht leugnen, dass das Kind sich schnell von seinen doch recht verantwortungsvollen Aufgaben ablenken ließ. Da griff man schon hin und wieder nach dem bunt bemalten Gummiwerkzeug, oder suchte sich einen selbstverständlich spitzen und scharfen Holzsplitter, der vorerst offenbar die Löscharbeiten verstärken sollte, letztendlich aber doch dazu diente, geschmackvolle Muster in die Wand zu kratzen.
Aber solange er sich beschäftigte, lag es mir fern, mich zu beschweren. War ich doch permanent damit beschäftigt, dem Baby hinterher zu krabbeln, welches sich mit ständigen Fluchtplänen trug. Ja, das Baby wollte hoch hinaus. Oder tief hinunter, denn es steuert mit Vorliebe die Treppe an. Und da ich keine Lust hatte, herunter kugelnde Wonneproppen aufzufangen, schnappte ich mir dieses Exemplar noch bevor sich ein Ereignis mit Tragweite abspielte.
Aber dem Elend und der Anstrengung war noch nicht genug. Denn was kam dem kleinen abwechselnd mit Hausbau und Feuerlöschen beschäftigten Piraten als nächstes in den Sinn? Zu schrecklich, um es auszusprechen?
Oh nein, denn er wollte in die Badewanne. Ausgelöst wurde dieser Wunsch durch die Entdeckung eines vollkommen verdreckten und sandigen Plastikfisches, und die notwendige Reinigung desselben. Ich hatte vollkommen vergessen, oder verdrängt, welche Folgen auch nur geringes Wasserplanschen haben kann. Und so tappte ich buchstäblich mit offenen Augen in die Falle. Und als er seinen Wunsch äußerte, blieb mir nichts, als die Hoffnung, dass die verantwortungsbewusste Mutter diesen ablehnte. Doch mitnichten. Weich wie Butter gab diese dem Bestreben des Sprösslings und seinem offensichtlich selten auftretenden Wunsch nach Reinlichkeit nach.
Und weitaus schlimmer – das Kind wünschte, meine Gesellschaft bei dieser Prozedur. Im Ernst, es war lange her, dass ich einen kleinen Mann in die Badewanne gesetzt hatte. Und trotz seiner merkwürdigen Idee, ich solle mich mit ihm in die Wanne begeben, gelang es mir doch dieses Drama abzuwenden, und mich geschickt herauszureden. Badewanne? Ich? Das kam gar nicht in Frage. Und schon gar nicht in Anwesenheit von Winzlingen. Nun gut, ich konnte ihn damit besänftigen, und ebenso die gestresste Mutter, dass ihm dabei zuzusehen, wie er sich in der Wanne wälzte, Spaß und Vergnügen sei, sowohl für mich, als auch für ihn.
Nicht dass ich etwas gegen das Baden an sich hätte, keineswegs. Ich tat es nur nicht. Das letzte Bad nahm ich während meiner Schwangerschaft, besser gesagt kurz vor der Entbindung. Und dies auf Anraten der Hebamme, der Schwester oder eines Arztes. Einzelheiten sind aus verständlichen Gründen meinem Gedächtnis entschwunden. Angeblich sollte ein Kräutermittelchen Wunder wirken gegen bestimmte Krämpfe. Nun, auf die Wunder wartete ich vergeblich. Und wie das mit Wehen so ist, so wurden sie nicht gerade besser im Verlauf der Zeit. Demzufolge verstärkte sich das gemischte Verhältnis, das ich zu Badewannen habe, zusätzlich und unwiderruflich. Sicher, auch früher, war ich nie ein Fan der Badewanne gewesen. Wie man es dreht oder wendet, irgendwie fühlt man sich doch ausgestellt, bloß und vor allem hilflos. Davon abgesehen, dass es langweilig ist, äußerst langweilig. Was soll man tun, während man so gemächlich einweicht? Ich habe es mit Lesen versucht, aber irgendwie ruiniert das die Bücher. Meine Gedanken wandern zu lassen vermeide ich tunlichst. Der Himmel weiß zu welch schrecklichen Erkenntnissen man da so kommt. Und nicht zuletzt stellt es sich doch immer wieder als eine ausgesprochen unangenehme, um nicht zu sagen qualvolle Anstrengung dar, die sich langsam abkühlende Wanne zu verlassen. Denn egal wie ungemütlich das lauwarme Wasser einem auch vorkommt, die Begegnung der aufgeschwemmten Haut mit der Luft, jagt schon allein in der Vorstellung kalte Schauer den Rücken herunter. Also unterm Strich bietet das Baden keine für mich erkennbaren Vorteile. Und selbst das gelegentlich vorgeschlagene Besteigen der Wanne mitsamt des Nachwuchses, sozusagen das Erschlagen der Fliege mit zwei Klappen, erfüllte mich persönlich mit Unbehagen. Welches soweit ging, dass ich mit meinen Sprösslingen nur die Wanne bestieg, wenn ich vorsorglich meine Blöße zuvor mit einem Badeanzug bedecken konnte. Ich gebe ja zu, vieles hat mit meinem gestörten Verhältnis zum eigenen Körper zu tun, ein Talent, das ich selbstverständlich und äußerst gründlich an meine Kinder weitergab, die dann auch herzlich froh waren, wenn ich ihnen bei der Reinigungsprozedur keine Gesellschaft mehr leistete. Keine allzu enge zumindest, denn das wachsame Auge blieb natürlich erforderlich. Und meine Kinder, wie wohl alle Kinder, liebten das Planschen im Wasser. Also ließ ich sie. Und sah mich konfrontiert mit extremer Langeweile, die von Bad zu Bad nur anstieg. Irgendwann ist es nicht mehr spannend, den Seifenschaum zu beobachten oder ein Plastikschiff durch künstlich erzeugte Wellen schwimmen zu lassen. Und irgendwann waren die Kinder zu meinem Glück und meiner Zufriedenheit groß genug, um nicht mehr der ständigen Badeaufsicht zu bedürfen.
Ob ich nun verdrängt oder schlichtweg vergessen hatte, was es bedeutete, so einem Winzling beim Baden Gesellschaft zu leisten, ist mir ebenfalls entfallen. Wie auch immer war ich gezwungen, mich meinem Schicksal zu ergeben, und daran zu arbeiten, die Wanne zu füllen. Schon dieses nicht so einfach, aber wollen wir hier nicht auf die Schwierigkeiten, mit denen Heiß- und Kaltwassertanks gerade bei frostigen Temperaturen aufwarten, eingehen. Fakt war, dass die Wanne sich irgendwann füllte und besagter Pimpf sich bereits eifrig bemühte, durch gründliches Plantschen von außen, sprich Tauchen, Springen und Spritzen seines Plastikfisches, seine eigene Kleidung zu durchnässen. Von meiner wollen wir hier gar nicht sprechen. Doppelt unangenehm, da des Vaters ausgeprägte Schimmel-Phobie mir bereits zu Gehör gebracht wurde, und mich dazu veranlasste, jedem Wassertropfen, der die Wanne verließ, entsetzt nach zu jagen. Doch wie ich es auch drehte und wendete, früher oder später ließ sich nicht mehr leugnen, dass das Kind einen Wechsel in seiner Garderobe benötigte, oder wahlweise endlich den geplanten Hopser in das Innere der Wanne ausüben sollte.
Nur, und wie das mit Kindern so ist, pflegte auch dieses gerne und häufig seine Meinung zu ändern. Besser gesagt, erschien ihm mit plötzlich auftretender Sicherheit die Wanne nicht mehr so verlockend, wie sie ihm zuvor vorgekommen war. Aber jetzt war es zu spät. Zumindest meine Entscheidung war gefallen. Die Klamotten waren nass, das Kind gehörte unweigerlich in die Wanne. Und dorthinein würde ich es auch befördern. Das wäre doch gelacht.
Auch wenn ich auf die subtile Kunst der Manipulation zurückgreifen musste. Es war nie zu früh, ein Kind mit den Wahrheiten, Fallen und Stolpersteinen des täglichen Lebens zu konfrontieren. Und ich war immer wieder zufrieden, diesen Job übernehmen zu dürfen. Ständiges Bohren, Andeuten und Wühlen in den ersten, schwach ausgebildeten Netzwerken des kindlichen Unterbewusstseins führten über kurz oder lang doch stets zum Ziel.
Nun gut, das Kind zeigte sich widerspenstig. Offensichtlich war ihm die Erkenntnis, dass sich der Boden der Wanne seiner Sicht ebenso wie seinem Vorstellungsvermögen entzog, aus undefinierbaren Gründen und gar plötzlich ein wenig unheimlich. Er wollte doch tatsächlich nicht hinein. Doch mit süßer Zunge stellte es sich langfristig als ein Leichtes für mich heraus, ihn dorthin zu bekommen, wo ich ihn haben wollte. Und natürlich fiel er auf mich herein. Es handelt sich um ein Kind, Himmel noch mal, und leichte Drohungen sowie die Erwähnung der mütterlichen Zerknirschtheit, wenn ihr Kind auf immer und ewig gezwungen war, als Dreckspatz auf Erden zu verharren, nur weil es zu feige war, hatten die erwünschte Wirkung. Natürlich vergaß ich nicht zu betonen, dass ihm der erwähnte Dreck für sein Leben haften bliebe, konnte ich mich doch noch zu gut, an ähnliche Geschichten aus meiner eigenen Vergangenheit erinnern. Besonders beliebt blieb stets der Hinweis, auf den Schmollmund, mit dem ich bis ins Grab leben musste, wenn ich ihn nicht sofort in ein braves und charmantes Lächeln verwandelte. Ähnliche Konsequenzen zog selbstverständlich eine in Falten gezogen Stirn nach sich, eine herausgestreckte Zunge oder rollende Augen. Oh ja, man wusste früher, wie sich kleine Kinder erschrecken ließen. Und ich hatte nicht vor, wertvolles Wissen wie dieses verfallen zu lassen. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich hielt also meine kurzgeratene Verwandtschaft knapp über die Wasseroberfläche, nachdem ich sie von der Notwendigkeit überzeugen konnte, dem unheimlichen Nass eine Chance zu geben. Und auf einmal wurde mir die Begeisterung klar, mit der das geplagte Mütterchen dem Bade-Erlebnis zugestimmt hatte. Offensichtlich verweigerte der Sprössling den Kontakt mit Flüssigkeit, die der Reinigung des Körpers diente, rigoros. Na, das wollte ich ihm schon austreiben. Auch wenn ich nicht mehr zu viel in der Lage war, dann doch durchaus dazu, Zucht, Ordnung und Sauberkeit in diesen verlotterten Haushalt zu bringen. Ich spürte förmlich, wie mir der Tatendrang zu Kopf stieg. Jahrelang angestaute Langeweile floss ab von mir, als ich den Kleinen mit herzhaftem Wippen ins Badewasser stippte. Seine Zehen nur, und doch durchdrang Protestgeheul die Wände. Oder auch nicht, denn seine Mutter war wohlweislich dem offensichtlich vorherzusehenden Gebrüll geflohen. Zumindest tauchte sie nicht auf, ließ mich alleine mit der kniffeligen Aufgabe, den zurückgelassenen Nachwuchs Sitte und Anstand zu lehren.
Welches ich dann auch tat – natürlich. Und ich lehrte nicht nur den Kleinen Manieren, sondern auch dem Baby, das wieder und wieder bei seinem Versuch zu entkommen, mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Das Gepolter wurde mir einfach zu viel, und so schnappte ich mir das rosa Bündel und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, auch diesem die Sauberkeit, die sich gehörte, nahezubringen.
Der Platsch, mit dem ich es neben den Bruder beförderte, erfreute mein Herz fast ebenso wie die rötliche Färbung, die der Schaum anzunehmen begann. Mädchen sorgen doch immer wieder für optische Freuden. Und auch der Junge benahm sich erstaunlich ruhig. Vielleicht ein wenig zu still, wenigstens für einen Jungen. Doch plötzlich auftretende Beweise vornehmer Zurückhaltung, sollte man nie in Frage stellen.
Zufrieden mit meiner Arbeit warf ich der Verwandtschaft, die sich, sobald friedlich geworden, ausgesprochener Niedlichkeit erfreute, charmante Kusshände zu, und riskierte es, mich auf einen kleinen Erkundigungsgang zu begeben. Denn ob Kind Nummer drei immer noch brav und anständig an der Garderobe baumelte, wo ich es aufgehängt hatte, ließ sich nicht mit Gewissheit sagen. Kinder sind doch immer wieder unberechenbar. Doch auch das Kleinste zeigte sich ruhig und anständig. Vollends zufrieden konnte ich allerdings erst sein, nachdem auch meine Schwägerin sich nicht der Mühe unterzog, meinen höflichen Gruß zu erwidern. Nein, mit zur Decke verdrehten Augen und der Kruste, die sich in ihrem Mundwinkel bildete, nachdem das unschöne Rinnsal roter Flüssigkeit endlich gestoppt hatte, ignorierte sie mich mal wieder. Aber nicht umsonst war ich Kummer gewohnt, ebenso wie die Missachtung meiner Bemühungen. Ich überlegte einen Augenblick, ob das Messer in ihrer Brust demnächst Verwendung finden sollte, beschloss dann jedoch, es an seinem Ort zu belassen. Gott wusste, dass ich genug getan hatte. Ich dachte einen Moment an die grimmige Kälte außerhalb des Hauses, aber letztlich existierte kein Weg dieser zu entkommen. Ich schlüpfte in meine Stiefel und wickelte mich möglichst eng in meine viel zu dünne Jacke. Nichtsdestotrotz war es immer wieder ein gutes Gefühl, einen Job erledigt zu haben.

Der Job II

Titel: Der Job II
Autor: callisto24
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Der Job, Teil II

Selbstverständlich habe ich niemanden umgebracht. Und schon gar kein Kind. So etwas fiele mir selbstverständlich nicht einmal in meinen allerschrecklichsten Albträumen ein. Und wie auch immer, vor allem wäre es doch niemals zu dieser Fortsetzung gekommen, hätte ich mich meiner unausgereiften Verwandtschaft bereits in diesem frühen Stadium entledigt. Dies tat ich selbstverständlich nicht. Dafür stand ich selbstlos und opferbereit genau eine Woche später wieder auf der Matte, um mir ein oder mehrere Beine auszureißen. Doch sollte dieses Mal alles anders kommen. Denn höhere Mächte als ich beschlossen eiskalt, dass diesmal die ganze Sache nicht im Heime des jungen Nachwuchses stattfinden sollte, sondern stattdessen in meinen eigenen vier Wänden. Mein Heim, missbraucht als Babyaufbewahrungsklappe. Wie gewohnt, war ich natürlich nicht in der Lage abzulehnen, sprich einfach ‚Nein‘ zu sagen. Weshalb ich es auch nicht tat, sondern äußerlich freudig zustimmte. Und so trudelten sie ein. Einer nach dem anderen. Füllten mein Heim mit Lärm, Geschrei, Tränen, Windeln und Kinderkotze. Gut, eigentlich war ich es, der mein Heim mit Lärm füllte. Denn da ich keine Stille ertrage, und schon gar keine Stille, die von mir erwartet mit Dialogen gefüllt zu werden, die ich mit Minderjährigen führe, welche der Sprache kaum oder überhaupt nicht mächtig waren, griff ich wie immer in einer Notlage zur CD. Und da ich kein Unmensch bin, sondern ein äußerst verantwortungsbewusstes Stück Mensch wählte ich in diesem Fall nicht meine üblich bevorzugten Stücke mit leichtem Death Metal Einschlag und den gewaltverherrlichenden Texten, sondern die extra für Fälle wie diese angeschaffte Liedersammlung für Minder-Bemittelte, zusammengestellt und vorgetragen mit schmalziger Stimme eines Möchtegern-Barden, der sich von einem aufgeregten Kinderchor begleiten ließ. Und diese Kinder-CD ließ ich dementsprechend hinauf und hinunter dudeln, wieder und wieder von vorne. Was den Vorteil besaß, dass Kinder älteren Geburtsdatums bereits begannen, sich Gedanken um die Texte zu machen, während Kinder, deren Existenz gerade erst begonnen hatten, sich von dem Rhythmus, dem auditiven Vergnügen oder auch nur den blinkenden Lichtern auf dem Apparat, der das Abspielen übernahm, leiten und ablenken ließen. Und eine Grundregel bestand doch immer darin, die Aufmerksamkeit der lieben Kleinen zu binden, sie gut genug zu beschäftigen, dass sie sich die vor ihnen liegenden Stunden zumindest nicht über das Maß des Erträglichen hinaus, beschwerten. Was ich nicht dabei bedacht hatte, war die Belastung, der ich selbst mein eigenes Nervenkostüm aussetzte. Eine Belastung, die alleine schon schwer zu ertragen wäre. Denn permanentes Gedudel Hirn- und Talent-loser Versuche von unbegabten Nichtskönnern, bei denen es nicht dazu reichte, sich als echter Musiker zu etablieren, und die deshalb als Kinderkomponist ihre Nische suchten, musste über kurz oder lang den auch nur mäßig musikalischen Zuhörer die Wände hochtreiben.
Meine Nerven begannen demnach schon nach kürzester Zeit zu beben. Und das blieb beileibe nicht alles. Nehmen wir die Spielsachen. Natürlich verteilte ich diese in regelmäßigen Abständen über den Fußboden. Hauptsächlich natürlich um den Kurzen kleine, möglichst abgetrennte Inseln zu bieten, auf denen sie sich auf unbestimmte Zeit weitgehend ruhig aufhalten und beschäftigen konnten. Natürlich taten sie dies nicht. So wie Kinder nie das tun, was man ihnen aufträgt. Nicht einmal in diesem zarten Alter. Und wenn sie es in diesem nicht lernen, wann sollten sie es je tun? Ehrlich gesagt, hege ich nicht viel Hoffnung für diese Generation. Oder für die davor, oder die danach.
Wie auch immer. Diese Kinder weigerten sich also, auf den abgegrenzten und wohl ausgeklügelten Plätzen zu bleiben, die ich strategisch angelegt hatte. Nicht zuletzt unter Beachtung eines Mindestabstands, der vermeiden sollte, dass sich die zu Betreuenden untereinander zu nahe kamen. Ganz besonders nicht nahe genug, um Differenzen irgendwelcher wie auch immer gearteter Gestalt, zu entwickeln oder gar auszutragen.
Natürlich blieben alle diese Vorsichtsmaßnahmen vollkommen und insgesamt nutz- und funktionslos. Offenbar scheint nicht nur dem Erwachsenen das Gras auf der anderen Seite des Zaunes grüner. Nein, auch bei den Kleinsten fängt diese Unsitte bereits im zartesten aller Altersstufen an. Praktisch sobald sie krabbeln können, drängt es sie, die ihnen zugewiesenen Plätze zu verlassen. Und dies nur zu dem einen Zwecke. Um ihrem Leidensgenossen genau das wegzuschnappen, woran dieser gerade im Moment sein Herz gehängt hat. Und offenbar wird jede Begierde dieser Art nur noch angestachelt, durch den Widerstand, Protest oder die Tränen des Kontrahenten. Sie voneinander fernzuhalten, reicht also nicht aus. Man müsste sie in gesonderten Zimmern unterbringen, in Zellen sozusagen. Wände zwischen ihnen hochziehen, am besten gepolsterte, damit sie sich nicht miteinander verständigen und so von den Vorteilen ihrer differierenden Spielsachen überzeugen könnten.
Wie auch immer, da mir jede Möglichkeit, die in diese Richtung führt, aus Platzmangel und anderen praktischen Gründen von vorneherein verwehrt blieb, musste ich mich damit abfinden, dass ein gewisser Geräuschpegel zusätzlich zu dem permanenten Gedudel nicht zu vermeiden war. Doch nicht nur dies. Auch das hin und wieder leider Gottes notwendige Hochheben, Herumtragen und in den Armen Schaukeln der weniger selbstständigen, um nicht zu sagen, labilen Kurzen, erwies sich als wachsende Belastung. Hauptsächlich in Hinblick auf meine nicht sonderlich ausgeprägte Rückenmuskulatur. Im Klartext, meine Bandscheiben protestierten nach einer Weile. Bücken und Hochheben konnte nicht angenehm, und langfristig sogar unerträglich werden. Dennoch ließ es sich nicht stoppen, sollte geplant sein, den Nachmittag ohne nachbarlichen Besuch, beziehungsweise dem Auftreten auf den Plan gerufener Ordnungshüter oder Beamten des Jugendamtes hinter mich zu bringen, so musste doch zumindest den Lautstärksten aller Beschwerden nachgegeben werden. Und ich tat so bis ich… ja bis ich buchstäblich nicht mehr konnte. Jeder Mensch hat seine Grenzen. Und meine lagen bei schmerzendem Rücken, schmerzenden Ohren und dem permanenten Treten auf scharfe und kantige Gegenstände, welche die lieben Kleinen mit Begeisterung durch die Gegend warfen. Denn so sah es aus, nicht einmal diese Unart konnte ich ihnen abgewöhnen. Nein, meine sorgfältig verteilten und aufgetürmten Spielsachen konnten nicht an den Plätzen verbleiben, die ich ihnen zugewiesen hatte. Sie bewegten sich praktisch selbststätig. Und dieses genau vor oder unter meine Füße. Mit der Konsequenz, dass ich entweder vor Schmerzen aufschrie, weil sich eine gefährliche Spitze in meine empfindliche Fußsohle bohrte, oder dass ich sogar Gefahr lief zu stolpern, und in voller Länge auf den Fußboden, gespickt mit zerklüfteten Landschaften zu fallen. Schrammen, Beulen und Blessuren waren logische Folge. Doch nicht mit mir. Nicht lange. Ich erkannte meine Grenzen. Gute Vorsätze waren eine Sache. Gutes Benehmen eine andere. Diese Kinder konnten sich einfach nicht benehmen. Und als das momentan meinen Rücken ruinierende Exemplar seinen Mageninhalt auf meinem Seidenpullover ausleerte, während mir ein anderes freudig demonstrierte, wie schön es einen Strahl in die Ecke stellen konnte, lief das Fass über. Das Monster in mir kam zum Vorschein, so sehr ich auch geglaubt hatte, es bändigen zu können. Zum Glück hatte ich mein Domizil in einem der oberen Stockwerke gewählt. Vielleicht lag der Grund bereits in einer entsprechenden Ahnung. Vielleicht war es auch Zufall oder handelte sich einfach nur um Glück. Auf jeden Fall, egal was man ihnen vorwerfen will, die Bälger waren doch erfreulich leicht. Und der Innenhof, in den ich sie warf, wurde so gut wie nie benutzt. Zeit genug, um das Nötigste zu packen und einen neuen Aufenthalt zu suchen. Vielleicht fände ich dort Kinder, die sich meinen erzieherischen Fähigkeiten eher anpassten. Die Hoffnung stirbt nun mal nie.

Abseitig

Titel: Abseitig
Autor: callisto24
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Abseitig


Irgendwann ist genug. Ich bin ein netter Mensch. Ehrlich, ich bin sogar ein guter Mensch, ein ziemlich guter. Meine Absichten sind durch die Bank anständig und ehrenwert. Ich nehme Rücksicht auf meine Mitmenschen, bin aufrichtig und tugendhaft. Mein Leben ist beispielhaft in jeder Hinsicht. Und ich gehe sogar noch weiter. Jawohl, ich opfere meine Freizeit, meine Energie und Lebenskraft für die gute Sache. Genauer gesagt, für die wohl edelste Sache, die existiert. Andernfalls hätte ich sie nicht ausgewählt. Mein Plus lag schon immer in meinem brillanten Verstand, beziehungsweise in meiner Fähigkeit, Ursachen und Zusammenhänge zu erkennen. Kein Wunder, dass ich bereits in jungen Jahren erkannte, dass im globalen Spiel der Kräfte, eine zahlenmäßig nicht unbedeutende Gruppe Menschen rücksichtslos untergebuttert wird und somit die Folgen der Ungerechtigkeiten gezwungen ist, auszubaden.
Was soll ich sagen? Selbstverständlich wählte ich zu einem ersten meiner Ziele, den Welthunger zu beenden, ein Unterfangen, das jedem halbwegs menschenfreundlich gesonnenen Menschen, von primärer Bedeutung sein sollte. Als Entschuldigung, dass mir gleich dieses erste aller Lebensziele misslungen ist, kann ich eigentlich nur angeben, dass es sich bei meiner Wenigkeit doch auch nur um ein Exemplar des normal Sterblichen handelt. Leider ließ ich mich gleich zu Beginn meiner Laufbahn doch allzu rasch ablenken und frönte mittelmäßigen Arten des Zeitvertreibes. Nicht nur meinen aufreibenden Beruf darf ich dafür verantwortlich machen. Nein, eine Mitschuld trägt auch die Begeisterung, mit der ich mich in die weite Welt stürzte, nachdem ich endlich die Fesseln bayrischen Kleinstädterdaseins abgelegt hatte.
Doch was soll ich sagen? Trotz allem blieb das Gute in mir bestehen, und auch wenn der jugendliche Höhenflug einem resignierten Pragmatismus weichen musste, so konnte ich doch von meinem Vorhaben nicht gänzlich lassen und entschied mich für einen gemäßigten Beitrag zur Errichtung einer faireren Weltordnung. Selbstverständlich erst, nachdem ich meinen Lebensabend eingeleitet und mich in das idyllische Städtchen zurückgezogen, in dem meine unschuldige Kindheit ihren Anfang genommen hatte. Es ergab sich demnach und nach meiner Rückkehr in das gemütliche Mammendorf, dass ich für die ortsansässige Kirche, je nach Gelegenheit, einen kleinen Stand mit fair gehandelten Waren aufbaute, und diese, so gut es eben meinen Fähigkeiten entsprach, an nichtsahnende Gottesdienstbesucher verkaufte. Leider hatte es sich nicht vermeiden lassen, dass auch in dem kleinen Ort meiner frühen Tage der Fortschritt einzog. Ich merkte es nicht nur an der S-Bahnlinie, die das Tor zur Welt bedeutete, sondern auch an dem Klientel Zugezogener, mit dem sich auch der einfache Kirchenbesucher von Zeit zu Zeit befassen musste, vor allem, wenn er im Verkaufsbereich tätig war.
Der Faire Handel in der Kirche besitzt bereits eine gewisse Tradition, die sich langsam, aber sicher auch in die kleinen Vororte einer Großstadt Münchens, wie das im tiefen Bayern gelegene Mammendorf ausgebreitet hat. Gerade gegenübergestellt dem Prunk einer dörflichen Kirche, wirken die schlicht angerichteten Produkte geradezu herzergreifend erbärmlich.
Soweit, so gut. Ich opferte also meinen Sonntagmorgen, um meinen Dienst an der weltweiten Gerechtigkeit zu verrichten. Und zumeist erntete ich auch Anerkennung und Respekt unter den wohlgesonnenen Mitarbeitern der Kirchengemeinde, sowie unter dem ein oder anderen Besucher der Messe, der sein schlechtes Gewissen durch den Kauf eines Beutels fairen Kaffees zu beruhigen suchte.
Doch nicht heute, heute war es anders. Anmerken muss ich dazu, dass ich so frei war, mein Angebot an Waren mit liebevoll gestalteten Karten zu ergänzen, die bekannt dafür waren, einen Großteil des Erlöses an bedürftige Kinder der Ärmsten der Armen weiterzugeben, in Form von Medikamenten oder Lebensmitteln. Hin und wieder verkaufte ich eine dieser Karte und hatte nie ein schlechtes Gewissen dabei. Ebenso wie mit den Lebensmittelprodukten, ergab sich als Folge der Unternehmung, dass nicht nur Zeit, sondern ebenso meine etwas knappe Rente Einbußen erlitt. Schuld daran war der Rest von Konsumgier, der auch mir innewohnte, egal wie sehr ich zeit meines Lebens versucht hatte, diesen zu unterdrücken. Manchmal gingen eben die Pferde, oder die Gelüste mit mir durch und ich gönnte mir selbst eine Tüte Rosinen überzogen mit Schokolade oder einen aromatisierten Zimt-Tee. Auch die eine oder andere Karte hatte ich selbst erworben, sei es zum Zwecke der Weiterversendung oder als Auflockerung und Blickfang, bzw. zur Vertuschung eines vergilbten Fleckes auf meiner alten Tapete.
Wie gesagt, bis heute gab es keine Beschwerden.
Erst als diese Frau auftauchte. Diese Frau, der die Missgunst und der Lebensüberdruss bereits ins Gesicht geschrieben standen. Diese Frau, die sich erdreistete, zuerst mit ihren knochigen Fingern durch mein Sortiment, das ich wie immer penibel sorgfältig auf einem klapprigen Campingtisch aufgebaut hatte, - durch dieses Sortiment zu wühlen, die eine oder andere Kaffeesorte genauestens zu beäugen, bevor sie diese wieder zurücklegte. Diese Frau war es, die, nachdem sie meinen liebevollen Aufbau geprüft hatte, ihre Finger nach den geschmackvollen Karten ausstreckte, die den Rand meines Standes zierten. Eine nach der anderen hob sie heraus, betatschte sie gründlich, nur um sie mit einem abfälligen Herunterziehen der Mundwinkel wieder zurück zu legen. Und dann kam es.
Sie sah mich an, abwertend – ich kenne diesen Blick. Ihre winzigen Schweinsäuglein blinzelten hinter der dicken Brille, als sie den Kopf schief legte, und den Mund öffnete. „Das ist aber kein Fairer Handel“, belehrte sie mich mit einem bestätigenden Nicken. „Über 80 Prozent der Einkünfte landen in der Verwaltung.“
Nun gut. Ich war geschockt. Ich starrte sie, vermutlich mit offenem Mund und keinem sehr intelligenten Gesichtsausdruck an. Natürlich hätte mir sofort eine passende Erwiderung einfallen sollen. Etwas Kluges, etwas Schnippisches. Etwas, das ihr den Mund stopfte. Doch wie immer in diesen Momenten zeigte ich mich leider zu verdattert, als dass eine passende Entgegnung sich in meinem Gehirn hätte bilden können. Ganz im Gegenteil. Die Nervenenden lagen blank, die Synapsen kollabierten und ich konnte nur etwas Unverständliches murmeln, das– wie ich leider zugeben muss – glücklicherweise im Tumult der Menge, die die Kirche verließ und sich bewusst bemühte, meinen Verkauf des guten Willens zu ignorieren, unterging.
Nun, besagte Frau drehte sich nach ihrer erfolgreich angebrachten Spitze zufrieden wieder um und verschwand im Glanze ihrer Genialität.
Was aber tat ich? Gut, ich war angebunden an diesem Stand. So wenige Kunden es waren, die meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, die mich zwangen, mir über die niedrigen Gegebenheiten der Welt, wie über das Zusammenrechnen und Abziehen geringfügiger Beträge, den Kopf zu zerbrechen, es waren immer noch genug. Genug, um mich abzuhalten von meinem geradezu überwältigenden Bedürfnis, dieser Dame von erstaunlicher Frechheit und Selbstgerechtigkeit hinterher zu stürmen und ihr ein halbes Kilo fair gehandelten Kakao um die Ohren zu schlagen.
Wie gesagt, der Augenblick war nicht günstig. Was mich jedoch nicht daran hinderte, einige Beobachtungen zu machen und in meinen Gehirnzellen abzuspeichern, sollten sie für den späteren Gebrauch notwendig werden.
Ich bemerkte also wie diese Dame hocherhobenen Hauptes, doch wohlgemerkt, ohne ein faires Produkt, so günstig und gering es auch sein mochte, zu kaufen, sich geraden Wegs aufmachte in Richtung des Gemeindehauses. Dies konnte nichts anderes bedeuten, als dass sie vorhatte, sich an dem kostenlosen Kirchenkaffee zu laben, der im Anschluss an brave Gottesdienstbesucher ausgeschenkt wurde. Wie günstig der Umstand, dass ich im Gemeindehaus ein und aus ging, sowie Schlüssel als auch Zugang zu den entlegenen Winkeln besaß und somit jede Gelegenheit, meinem neu entflammten Rachedurst zu frönen.
So einfach und geistlos würde ich natürlich trotzdem nicht vorgehen. Schließlich konnte ich nicht wissen, wann oder wie mir diese doch gemeinnützige Einrichtung noch eines Tages zu Nutzen sein würde.
Meine Pläne entwickelten sich, so wie sie das immer tun, unterbewusst und während ich noch meine Geschäfte abschloss.
Das Kirchenschiff lichtete sich, die Massen entflohen dankbar. Die meisten, indem sie einen großen Bogen um das Angebot fair gehandelter Waren machten. Und wer würde es Ihnen verdenken? Die 60 Cent, die das fair gehandelte Produkt teurer waren, als die Discount-Alternative, ließen sich wertvoll und gewinnbringender in etwas Sinnvolleres investieren. Z.B. in den Schoppen Wein beim Italiener am Abend, auch ein Beitrag zur Weltoffenheit.
Aber das war nicht mein Problem. Die Strafe würde sie früher oder später alle ereilen, alle wie sie so hochnäsig durch die Gegend spazierten. Das Fegefeuer war ihnen sicher.
Mir vielleicht auch, das möchte ich hier offen gestehen. Und doch rechne ich mir noch eine geringe Chance aus, dem Unausweichlichen zu entkommen. Nicht, dass ich an die Gnade eines unsichtbaren Gottes glaubte, mit Sicherheit nicht. Doch eine gewisse universelle Gerechtigkeit liegt zumindest im Rahmen des Möglichen und bleibt es wert, ihre Existenz zumindest in Erwägung zu ziehen.
Und meine bescheidenen Beiträge, meine kleinen Anstrengungen hier und da, die Welt ein klein wenig besser zu machen, sollten meiner Ansicht nach, nicht umsonst gewesen sein.
Doch nun weiter mit der Geschichte. Nachdem sich allgemein angenehme Stille ausgebreitet hatte, kam ich dazu, meine Waren zu ordnen und sorgsam in die Kisten zu verstauen, die zur Aufbewahrung derselben vorgesehen waren. Danach galt es nur noch den Klapptisch zusammenzufalten und in die Abstellkammer zu befördern, sowie, beladen mit Waren und Kasse, den Rückweg in die niederen Gefilde des Gemeindehauses anzutreten, wo beides seinen wohlverdienten Platz fand, zumindest so lange, bis ich mich bereit erklärte für den nächsten Verkauf. Was wohl nicht so bald sein würde, bedachte ich mein aufgewühltes Gemüt nach diesem Erlebnis.
Andererseits wusste ich zu diesem Zeitpunkt bereits genau, wie es mir gelingen sollte, meinen Seelenfrieden wieder herzustellen.
Ich zögerte also nicht, meinen Plan in die Tat umzusetzen, schlich mich über die hinteren Treppen zur weitläufigen Garderobe, die, gerade in diesen kalten Tagen des Novembers, überladen war, mit Mänteln, Jacken und Hüten jeder Machart. Dank meines fotographischen Gedächtnisses erkannte ich den gesuchten Mantel auf Anhieb. Dank meiner genialen Bastelfähigkeiten auf die ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen werde, die jedoch in diesem Augenblick nichts zur Sache tun, gelang es mir mit unnachahmlichen Geschick einen meiner kleinen, selbst im Keller meines schäbigen Apartments, zusammengebastelten und mit einer Reichweite von 300 Metern ausgestatteten Sendern, im zufällig leicht aufgerissenen Saumes ihres Kleidungsstückes zu verbergen. Solche Leute haben immer einen aufgerissenen Saum, irgendwo.
Der Sender saß, der Empfänger befand sich in der Innentasche meiner Jacke und gab ein vertrautes Summen von sich. Ich liebte dieses Summen. Es erinnerte mich an frühere, bessere Zeiten, an Zeiten im Dienst. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, vielleicht vibrierte das elektronische Schätzchen nur in meiner Phantasie. Doch auch diese Befürchtung trübte meine freudige Erwartung nicht. Spürte ich doch endlich wieder den angenehmen Rausch, das süße Gefühl von Adrenalin, das wild durch meine Adern tobte. Lange vermisst und doch nicht tot. Ganz anders, als es diese Frau bald sein würde, die es geschafft hatte, mein bereits lange erkaltetes Blut wieder in Wallung zu bringen. Nicht mit den Wogen der Leidenschaft, sondern mit der viel stärkeren, viel mächtigeren Kraft des Ärgers, eines heiligen Zornes, den sie sich mehr verdient hatte, als sie es sich wohl hätte träumen lassen.
Ich schloss die Keller ab. Ich beseitigte jede Spur meiner Verkaufsaktivitäten. Höflich und mit ausgesuchter Freundlichkeit verabschiedete ich mich von den fleißigen Mitarbeitern. Ich habe stets ein Lächeln für jeden übrig, so unbedeutend er auch erscheinen mag. Man kann nie wissen, wann eine Sympathiekundgebung von entscheidender Bedeutung sein wird, wann die vielleicht nicht einmal wahrgenommene Hilfe des Geringsten unter allen Menschen zum Rettungsanker, zum Alibi, zum erlösenden Schein wird.
Solcherlei Gedanken plagten mich, während ich meinen langsamen Weg aus dem Gebäude nahm. Schritt für Schritt, gedankenverloren und ruhig, wie es sich für einen Mann meiner Jahre gebührt, ging ich unbeachtet einem Ziel entgegen, dass mit Sicherheit niemand in dieser trauten Gemeinschaft für möglich gehalten hätte.
Gut gelaunte Sonntagsmenschen, befreit von der Last des Alltags, befreit von der wöchentlichen Seelenqual, beschenkt mit dem Segen des Allmächtigen, ließen sich das heiße Gebräu schmecken, dass ihnen in weißen Jugendherbergstassen serviert wurde.
Keiner von ihnen ahnte das Hochgefühl oder konnte es auch nur annähernd nachempfinden, das mich packte, als ich die für den Laien kaum wahrnehmbaren Anzeichen identifizierte, die mir unmissverständlich mitteilten, dass das Ziel meiner Beobachtungen sich von dem besetzten Platz in nicht allzu langer Zeit lösen und hinaus schreiten würde. Hinaus in die feindliche Welt, einem unbekannten und nicht gerade rosigen Schicksal entgegen.
Ich folgte diesem Schicksal, meinem Schicksal, und dem der Frau, die sich zu viel herausgenommen hatte, als dass es gut für sie wäre. In sicherem Abstand, geleitet von unmissverständlichen Signalen folgte ich ihr bis zu dem Haus, welches genau dem entsprach, was einer Frau dieser Art gemäß sein musste. Der geradezu beleidigend langweilige Vorgarten mit den in blitzgerade ausgerichteten Blumentöpfen, die bereits allen Vorbereitungen für den nahenden Winter unterzogen worden waren, gähnte vor einer weißgeschrubbten Fassade, deren blanke Fenster geblümte Gardinen mit Schleifen schmückten.
Ich sah sie vor mir, wie sie in Plastikschuhen greller Art, mit Gartenhandschuhen bewaffnet, die Brille vorgerutscht auf die schmale Nasenspitze, im Schweiße ihres Angesichts, jeden kleinsten Halm störenden Unkrautes aus der kargen Erde rupfte und denselben mit glänzenden Kugeln oder noch schlimmer – mit kitschigen Gartenzwergen ersetzte. Ein Stadtmensch, vielleicht sogar direkt aus München zugezogen, unerlaubt eingebrochen in eine Welt, die ihm von rechts wegen hätte verschlossen bleiben sollen.
Nein, es wäre kein Fehler, dieser tragischen Existenz ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil. Es war meine Pflicht. Die Pflicht eines Menschen, der sich in dem Metier auskannte. Skrupel waren für die wichtigen Dinge reserviert, nicht für eine Belanglosigkeit wie diese.
Ich schob meine Hände in die Jackentaschen und sah ihr zu, wie sie hinter der blank gestrichenen Haustür verschwand. Bald würde von ihr nichts mehr übrig sein. Genauso wenig wie von dem abstoßenden Gebäude. Statt dessen ein schwelendes Loch, eine gähnende Lücke umrahmt von entsetzten Nachbarn, die sich wohl fragten warum der gefürchtete Terrorismus sich in ihre behagliche Gemeinde begeben hatte. Ich lachte in mich hinein. Wie schön, wenn die Medien Tag für Tag einem den Sündenbock in den schillerndsten Farben vorführten. In diesem Augenblick beschloss ich den Plastiksprengstoff in Form einer Amateur-Bombe, deren simple Machart jeder Experte auf Anhieb erkennen konnte, hinter den Kellerfenstern zu platzieren. Jede Wette, dass dieses Ereignis das langweilige Vorstadtleben auf das Erfreulichste beleben würde.
Auch ein Rentner sollte sich ab und zu mal etwas gönnen. Schließlich tut es sonst keiner.

Schimmel im Haus

Titel: Schimmel im Haus
Autor: callisto24
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Schimmel im Haus

Sie hat es schon wieder getan. Meine gute Freundin Elisabeth. Sicher, Klartext reden ist immer gut. Klartext reden ist wichtig und reinigt die Luft. Es mag auch sein, dass sie einfach die Hoffnung nicht aufgibt. Die Hoffnung darauf, dass ich aus ihren Bemerkungen schließlich, letztlich, die einzig mögliche Konsequenz ziehe und das ekelhafte Gift, welches mein Haus verseucht, ein für alle Mal entfernte.
Sie hatte es zwar nie in Worte gefasst, nie deutlich gemacht, und doch war es kein Geheimnis, dass ihre Kinder die meinen nicht mehr besuchen durften, seitdem ihr das Grauen bewusst geworden war. Nur zu offensichtlich, dass die Angst vor dem Schimmel den beiden Jungens deutlich eingebläut wurde. Keinen Fuß durften sie in unser Haus setzen, es sei denn, in Notfällen. Es sei denn in Momenten, in denen beim besten Willen kein anderer Babysitter zur Verfügung stand.
Natürlich. Ich verstand das. Jeder versucht seine Kinder zu schützen. So gut wie möglich zu schützen. Das ist die Pflicht und die Verantwortung der Eltern. Wenn ich also irgendwo eine Gefahr wittere, so halte ich mein eigen Fleisch und Blut davon fern. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Niemand versteht das besser als ich, die ich mich in permanenter psychotherapeutischer Behandlung befinde aufgrund der Ängste, die mein Leben bestimmen. Die Ängste, die in erster Linie und beinahe ausschließlich mit der Sicherheit und dem Heil meiner Kinder zu tun haben. Da wäre der Straßenverkehr, die pädophile Bedrohung, um nur die am meisten verbreiteten Ängste zu nennen. Doch was mich angeht, geht der Schrecken noch weiter. Ich bin ein intelligenter, phantasiebegabter Mensch. Ich verstehe, was um mich herum vorgeht. Ich kann hinter die Fassaden blicken und über die vorgeschobene Verschleierung der Gefahren hinweg.
Das ist auch der Grund, weshalb ich mit meiner Familie in diesen Vorort gezogen bin. Weit weg aus dem Zentrum Münchens, in dem Hass und Verbrechen allgegenwärtig sind. Die Sicherheit einer Kleinstadt, auf deren Straßen noch Ball gespielt wird, aus deren Mitte es nur ein paar Schritte in die freie Natur sind, zog ich allemal vor. Natürlich ist auch hier in Maisach nicht alles eitel Sonnenschein. Mehr und mehr Verkehr verirrt sich zu uns, Gewerbegebiete und Industrieanlagen verschandeln die Orte, die ehemals noch Felder und Wiesen waren.
Wir haben vergiftete Lebensmittel, sind umgeben von den schrecklichsten Krankheiten. Strahlung bedroht unser aller Leben. Dann wären da Absturz in jeglicher Hinsicht, der sogar in Dorfschulen droht, Versuchungen, die auf die Kleinen lauern, Verlockungen und tödliche Gefahren. Jeder Hund kann zubeißen. Jede Zecke eine Borreliose übertragen, deren Folgen sich über Jahre hinziehen. Jeder Husten kann zur Lungenentzündung ausarten, jeder Kopfschmerz, jede Sinnestäuschung zum Gehirntumor. Der unglückliche Sturz auf der Treppe, das Stolpern an der Straße, während einer unschuldigen Auseinandersetzung auf dem Schulweg. Vor allem möchte man sie beschützen.
Mir fehlt einfach die Energie, mich auch noch über den Schimmel aufzuregen. Und, den Gedanken weitergesponnen, ich kann dagegen nichts unternehmen.
Meine täglichen Ängste betreffend der unzähligen Gefahren, die auf meine Kinder lauern, müssen überwunden werden. So lautet das Ziel. Ich muss die Möglichkeit der Katastrophe akzeptieren. Und ich werde sie akzeptieren. Es funktioniert auch. Unterstützt von den kleinen bunten Kapseln, wirkte ich ausgeglichener, ruhiger, fühlte mich wieder in der Lage, dem Leben die Stirn zu bieten.
Ich verfolgte meine Kinder nicht mehr heimlich. Ich beobachtete sie nicht mehr beim Spielen, bereit jeden Augenblick hinaus zu stürzen und daran zu hindern, auf einen Baum zu klettern, einen schmutzigen Stein anzufassen, oder die Katze zu streicheln, die sich vielleicht soeben mit der Vogelgrippe infiziert hatte.
Nein, ich ließ es zu. Ich schaffte es. Die Zeit war reif, sich zurückzuziehen und dem Schicksal die Entscheidung zu überlassen.
Nun mag man einwenden, der Schimmel im Haus sei nicht Sache des Schicksals. Doch im Grunde ist er dieses. Oder besser gesagt, er ist Sache meines Mannes. Wenn ich nämlich von meinem Haus spreche, so handelt es sich im Grunde um die vier Wände dieses Herren. Er besitzt die Alleinherrschaft, die endgültige Entscheidungsgewalt. Und er wird sich diese niemals nehmen lassen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als die brave Ehefrau zu spielen und auf meinen Göttergatten zu hören. Wenn er erschöpft vom täglichen Kampf um das Dasein in seinem Sessel niedersinkt, dann möchte er nichts weniger hören, als Anregungen, die das Renovieren betreffen. Nein, renoviert wird nicht, ist nicht. Ist nicht notwendig. So mein Gatte.
Vielleicht liegt es daran, dass er sich unglaublich über jede Aktivität in dieser Richtung aufregt. Vielleicht ist Veränderung schwierig für ihn. Sehr schwierig. Vielleicht scheut er auch nur die Mühe.
Ich habe es ihm gesagt. Habe ihm gesagt, dass ich es tun würde. Ich bin stark genug. Vielleicht nicht geschickt, vielleicht nicht handwerklich begabt. Meine wenigen Versuche in dieser Richtung haben es gezeigt. Allesamt endeten sie in Katastrophen, die immer noch in verschiedenen Stockwerken unseres Hauses, seines Hauses, zu bewundern sind. Laminat Böden, die Risse und Spalten aufweisen. Deren Kanten nicht an die Wände reichen. Zwischen ihnen und der jeweiligen Wand klaffen Lücken, sticht der nackte Betonboden ins Auge, sofern ich ihn nicht notdürftig mit Folie überklebt, mit Brettern vernagelt oder auf andere, provisorische Art zugekleistert habe.
Ich kann es also verstehen, wenn er der Absicht, den Keller von Schimmel zu entfernen, den Boden herauszureißen und die Wände zu streichen, mit einiger Skepsis gegenüber steht. Da hilft es auch nichts, wenn ich ihm sage, dass es doch wohl kaum schlimmer sein kann, als es im Augenblick aussieht. Er sieht das nicht. Er riecht es auch nicht.
Anders meine Freundin. Sie riecht es, sagt sie. Sobald sie ins Haus tritt, schlägt ihr der Geruch entgegen. Der Geruch nach Verfall, nach Krankheit, nach Gift. Sie sagt, sie erkennt den Geruch. In ihrem Schlafzimmer befand sich Schimmel. Sie haben ihn professionell entfernen lassen und nun erkenne sie diesen Geruch auf Meilen Entfernung.
Ich rieche nichts. Aber das will nichts sagen. Ich rieche auch sonst nicht alles. Meine Sinne sind etwas betäubt. Jugendliche Exzesse könnten die Ursache sein. Oder einfach Verschlafenheit. Manchmal will man auch nicht alles mitkriegen. Wieso sollte ich tagtäglich riechen, wie der Schimmel mein Haus auffrisst. Und dass, wo ich nicht das Geringste dagegen tun kann. Ich bin verloren, hilflos, ausgeliefert all den Krankheiten, die sie mir aufzählt und die der Schimmel verursacht. Schimmel ist überall. Ich habe ihn immer und überall gesehen. Er ist in der Brotzeitbox, in der Tupperdose, im Kühlschrank und eben auch auf Wänden. Und dort erregt er Krebs, sagt sie. Vor Krebs habe ich Angst, große Angst. Ich habe aber auch Angst vor meinem Mann und vor seinem Ärger.
Was also soll ich tun? Es gibt Möglichkeiten. Ich entledige mich meines Mannes und rücke dem Schimmel zu Leibe? Oder ich entledige mich ihrer und muss mir ihre störenden Bemerkungen nicht mehr anhören. Eine schwere Entscheidung.
Meinen Mann loszuwerden birgt eine ungezählte Menge an Vorteilen. Ich würde weder sein Schnarchen, noch sein Rülpsen, noch seine Bierflaschen vermissen, die ich jeden Morgen aufsammle. Aber mit Sicherheit würde ich auch das Geld vermissen, das er nach Hause bringt.
Und meine Freundin?
Ihre permanente Erwähnung des schimmligen Unheils würde ich nicht vermissen. Die Gespräche mit ihr? Sie ist meine einzige Freundin. Ob das daran liegt, dass sie überall und allerorts von den Schimmelwucherungen in meinem Haus berichtet? Nein, es liegt wohl eher daran, dass ich ungern unter Menschen bin. Zum einen, weil ich es hasse, wenn man mir gute Ratschläge gibt. Und zum anderen, weil diese Menschen nichts anderes tun, als mir gute Ratschläge zu geben.
Also komme ich zu dem Schluss, dass ich sie auch nicht vermissen würde. Könnte ich sie und meinen Mann gemeinsam von der Klippe stürzen, könnte ich mich vielleicht befreit fühlen. Mit der Klippe wird es wohl nichts. Aber vielleicht hilft eine Zutat im süßen Tee. Nicht umsonst plane ich bereits seit Jahren das Anpflanzen der Herbstzeitlose. Ein wundervolles Gewächs, geschmeidig im Wuchs und vielfach verwendbar. Jetzt, wo die Kinder groß sind, und eine Warnung verstehen, steht meinem Gartentraum im Grunde nichts mehr im Wege.
Und wenn meine Freundin sich das nächste Mal einlädt, und sich über Schimmel auslässt, hätte ich etwas anzubieten. Der Rest des Tees fände vielleicht noch gute Verwendung für meinen Mann, wenn er nach getaner Arbeit in sein Heim zurückkehrt. Gesetzt den Fall, ich fühlte mich bereit dazu, den Daseinskampf auf meine Schultern zu laden, mich mit Lebensversicherung, Witwenrente und ähnlichen unverständlichen Begriffen auseinanderzusetzten.
Zudem bliebe mir eine Menge Arbeit erspart. Den Keller entschimmeln, soweit kommt es noch!
Lieber wende mich sinnvolleren Ängsten zu. Der Röntgenaufnahme zum Beispiel, die der Zahnarzt heute für meinen Jüngsten vorschlug. Nein zu sagen fiel mir von jeher schwer, also stimmte ich ohne weitere Fragen zu. Und die Konsequenz ist die gewohnte Panik. Panik vor Röntgenstrahlen, vor Krebs, vor Spätfolgen, vor Tragik, Schmerz und Katastrophen.
Ich hasse Ärzte. Sie bringen nichts als Kummer. Warum müssen sie röntgen. Ich hätte nein sagen sollen, aber natürlich konnte ich nicht. Schließlich hätte er nicht gefragt, wenn er es nicht für sinnvoll gehalten hätte.
Ich hasse mein Leben, hasse Ärzte, hasse Schimmel, hasse meine Phantasie, hasse Ängste, hasse alles. Punkt.
Ich werde den Tee wohl in größeren Mengen brauen müssen. Mein Zahnarzt wird sich über eine Tasse freuen.