Freitag, 2. April 2010

Shangri-La

Titel: Shangri-La
Autor: callisto24
* * *

Susanne


Nicht zum ersten Mal hörte sie von der Lage, in der sie sich befand. Wenngleich es sich kaum um eine Lage, sondern eher um einen Lebensabschnitt handelte. Den vergessenen Lebensabschnitt, wie man ihr sagte. Und doch wusste Susanne, dass sie sich nicht allein in dem Zwischenbereich befand, der offenkundig von der Mehrzahl ihrer Altersgenossinnen verleugnet wurde.
Die große Vierzig hatte sie hinter sich gelassen, aber sie fühlte sich nicht alt. Gut, die Zipperlein, die sie hin und wieder plagten, nahmen zu. Das zu leugnen half nicht weiter. Ihr Körper nutzte sich wie jeder andere nach der offiziell überschrittenen Lebensmitte ab, kleine Fältchen ließen sich nicht mehr übertünchen, Gelenke knackten unangenehm und die Vorsorgeuntersuchungen, zu denen der Arzt ihr riet, gingen mehr und mehr ins Detail.
Dennoch gehörte es sich nicht, davon zu sprechen. Es gehörte sich nicht einmal, es zuzugeben.
Und dass es überraschend kam, konnte nun wirklich niemand behaupten.
Ihre ersten weißen Haare entdeckte Susanne bereits mit Anfang zwanzig. Das stete Färben war ihr somit bereits seit zwei Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen, auch wenn sie von Jahr zu Jahr mehr darauf achten musste, dass der verräterische, weiße Ansatz nicht zu auffallend hervortrat.
Immerhin existierten ausreichend Industrien in diesem Lande, die es auch zu einem bezahlbaren Preis ermöglichten, die Illusion von Jugend aufrecht zu erhalten.
Eine Illusion, die Pflicht geworden war in einer Gesellschaft wie ihrer. Eine Frau wurde nicht alt. Nicht einmal reif. Und wen interessierte die Entwicklung des Geistes oder der Seele? Das waren Luxusartikel, mit denen sich Männer schmückten, die nicht ihre Lebenszeit damit zubrachten zu zupfen, zu peelen, zu färben und stetig, mit vollem Einsatz an der äußeren Erscheinung zu arbeiten.
Dabei war Susanne nicht einmal eitel. Nicht besonders. Und zudem auch nicht sonderlich erfolgreich in ihren Bemühungen.
Wie sollte es auch anders sein, fühlte sie sich doch in den anderen Bereichen ihres Lebens als ebensolcher Versager.
Worauf konnte sie zurückblicken? Susanne stellte sich diese Frage mit den Jahren immer häufiger.
Sie war verheiratet, mehr oder weniger glücklich. Zwei Söhne, die sich unweigerlich auf die Schwierigkeiten zubewegten, die in der Pubertät lauerten, zog sie mehr oder weniger alleine groß.
Nicht dass es leicht war. Zu einer Frau dieser Zeit, auch wenn sie sich zu der verlorenen Generation zählte, zu jener, die weder alterte, noch jung sein durfte, gehörten Kinder, die allgegenwärtige Probleme spiegelten.
Und so befand sie sich auf dem Weg von Berater zu Therapeuten zu Psychologen, seit ihre Söhne das Laufen lernten und eine eigene Persönlichkeit entwickelten. Mit Schlagworten wurde sie beworfen, von ADHS bis Legasthenie, von Test zu Test geschickt, ohne dass konkrete Anhaltspunkte das einzig wichtige Rätsel lösten: Die Frage, was sie zu tun hatte, in welche Richtung sie sich bewegen sollte.
Fast war sie froh über kleine und allgemein verbreitete Probleme wie Allergien oder die üblichen Kinderkrankheiten. Themen über die sie sich gepflegt mit anderen Müttern austauschen konnte, die wussten, wovon sie sprach und nicht erst einer Einführung in das Wesen und Unwesen noch ungeklärter Unstimmigkeiten im Gehirnstoffwechsel bedurften.
Wie schwierig es auch war, die Zeit verging und die Kinder wurden größer. Und Jahre wie diese, Monate die in Erwartung eines Ergebnisses oder eines Attestes verbracht wurden, das letztendlich doch nicht weiterhalf, beschleunigten rapide den Alterungsprozess.
Ganz zu schweigen von Notwendigkeiten und Umständen finanzieller und beruflicher Art.
Gerne hätte sie wieder gearbeitet. Sie freute sich darauf, ihren Mutterschaftsurlaub zu beenden und sah der Rückkehr in ihr Büro, zu der lieb gewordenen Tätigkeit hoffnungsvoll entgegen.
Nur, dass es nicht funktionierte. Unterm Strich fand sie keine Betreuung für ihre Kinder. Das Büro forderte ihre Rückkehr in die Vollzeittätigkeit, Schule und Kindergarten boten nur begrenzte und auch dann notdürftige Sicherheit. Lange Phasen wie Ferien, Krankheiten, wurden ebenso wenig berücksichtigt wie das Auftreten von Freistunden oder Ausfällen. Ihr Mann war von früh bis spät in seiner Arbeit, die ihre Familie zwar über die Runden brachte, ihnen allerdings auch keinen Luxus erlaubte, der über die Wohnung im obersten Stock eines Blocks und das Auto hinausging. Mit ihren Eltern und insbesondere mit ihrem Vater lag sie seit jeher im Clinch. Sie hatten es ihr nie leicht gemacht und sie legten Susanne offen und ehrlich dar, dass sie nicht bereit waren, sich auf eine regelmäßige Abmachung, die das Hüten der, zugegeben, recht lebhaften Enkel beinhaltete, einzulassen.
Das war die Ironie ihrer Lage. Beide Großelternpaare befanden sich am Ort. Und beide Großelternpaare weigerten sich, Susannes Kinder für die Zeit zwischen Schule oder Kindergarten und ihrer eigenen Rückkehr von einer möglichen, beruflichen Tätigkeit aufzunehmen.
Großeltern alterten auch nicht mehr. Sie bestanden auf ihren Rechten und Freiheiten. Und zudem waren gerade Susannes Kinder besonders anstrengend. Sie sagten es ihr nicht direkt, aber Susanne spürte von allen Seiten, dass Begriffe wie ADHS, Legasthenie oder motorische Störungen für Ihre Eltern und für die Eltern ihres Mannes sich übersetzten in das Bild der schlechten Mutter.
Es half nicht. Es half auch nicht, dass sie die Abfindung kassierte, als sie auf ihre Stelle verzichten musste. Es half auch nicht, dass sie sich sagte, immer wieder sagte, ihre Kinder seien das Wichtigste und dass es keine Schande sei, ihnen ihre Zeit und Kraft zu schenken, so lange sie diese eben benötigten.
Es half nicht, wenn sie ihren Kindern dabei zusah, wie sie größer wurden, wenn sie ihre Ohren vor den Tobsuchtsanfällen zu verschließen suchte, wenn sie die Hausaufgaben kontrollierte, die kaum zu entziffern auf zerrissenen Heftseiten prangten.
Es half nicht, wenn sie vormittags in ihrer Wohnung saß und fühlte, wie die Decke immer tiefer auf sie zu sank, drohte, Susanne zu ersticken.
Sie versuchte alles. Sie renovierte. Sie putzte, sie wusch und bügelte. Es war nicht so, als gäbe es nichts zu tun.
Und sie erhielt ihre Jugend. Denn Susanne war nicht alt. Sie hing nur fest.
Susanne gab ihr spärliches Geld für Weight Watchers aus. Sie lernte Kalorien zählen und studierte das Punktesystem. Sie färbte ihre Haare und schminkte sich. Sie kaufte Kleider, nähte sie um, bis sie ihr passten.
Susanne tat viel. Und sie tat es für ihre Kinder. Kaum ein Tag, an dem sie ihnen kein Angebot machte, das ihnen weiterhelfen sollte. Ausflüge und Wanderungen wechselten mit Museen und Bibliotheken.
Susanne tat, was sie konnte.
Es half nur nichts.
Sie war eine Frau ihrer Zeit mit den Möglichkeiten, die ihre Zeit ihr bot. Und es gab Möglichkeiten.
Sobald ihre Söhne begannen, auf eigenen Füßen zu stehen. Sobald sie sich darauf verlassen konnte, dass ihre Aufsicht nicht mehr um jeden Preis vonnöten sei, begann sie damit, sich beraten zu lassen.
Sie nutzte die Schulungen, die ihr das Arbeitsamt bot. Sie kniete sich begeistert in die Tätigkeit, sie lernte mit Freude. Und sie schloss die Schulung mit großem Erfolg ab. Nur um danach wieder in ihrer Wohnung zu sitzen und die Decke anzustarren. Nachdem sie aufgehört hatte, die Bewerbungen zu zählen, die sie verschickte. Nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatte.
Also nahm sie eine Stelle als Reinigungskraft an. Es war gutes Geld und sie bekam etwas zu tun, eine Arbeit, die verrichtet werden musste. Aber keine Arbeit, auf die sie stolz war.
Es war dumm, das wusste sie sehr gut. Was man tat, spielte keine Rolle. Wichtig war, dass man es tat und dass man es gut tat.
Und dennoch wünschte sie sich eine Tätigkeit, von der zu berichten den Stolz in ihr hervorrief, den ihre Arbeit früher in ihr geweckt hatte. Sie wünschte sich eine Perspektive, eine Hoffnung.
Sie war nicht alt. Susanne sah an sich herab. Sie strich den engen Rock glatt, begutachtete die leichte Wölbung ihres Bauches. Gut, sie hatte die Lehren der Weight Watchers schon seit geraumer Zeit in den Wind geschlagen. Ihre alte Fülle war bald wieder erreicht.
Sie betrachtete das Weiß, das ihren Haaransatz zierte, nur um dann abrupt in ein leuchtendes Henna überzugehen.
Susanne spitzte die Lippen, an denen der Lippenstift bereits im Abblättern begriffen war. Sie legte ihre Hände neben die Augen und zog die Haut ein wenig straffer.
Lachfältchen, wollte sie denken. Krähenfüße dachte sie wirklich.
War das ihr Leben? War das alles? Und wenn es das war, wozu?
Susannah dachte an den Sommer, sie dachte an den Badeanzug, der weder ihre Cellulitis noch die Besenreißer verdecken konnte, die ihre Beine verunstalteten. Sie dachte an ihre Oberarme und wie sie sorgsam das Handtuch um die Schultern schlang, um sie ebenso wie ihre Ellbogen zu verbergen.
Sie dachte an das Klassentreffen, zu dem sie letzte Woche gegangen war, und zu dem sie nicht hätte gehen sollen.
Dabei hatte sie sich darauf gefreut, die alten Freunde wiederzusehen. Susanne war immer ein herzlicher, kontaktfreudiger Mensch gewesen. Manchmal vermisste sie die Kameradschaft aus diesen Tagen, den Klassenverband, die Art, wie man gemeinsam einem Ziel entgegen steuerte. Ob Schule heute noch das war, was sie in Erinnerung hatte oder ob diese sogar verklärt und im Laufe der Jahre nichts mehr mit der Realität gemein hatte, die sie wirklich erlebt, darüber dachte sie lieber nicht nach.
Und ebenso gerne wünschte sie das Zusammentreffen mit ihren ehemaligen Klassenkameraden verdrängen zu können.
Erwachsen waren sie geworden. Elegant. Erfolgreich.
Sie zählten auf, was sie erreicht hatten. Sprachen von ihren Kindern, die offenkundig wahre Engel waren. Von ihren Häusern mit Garten und Terrasse. Von dem Stress und den Anforderungen in dem hochgeachteten Beruf, den sie ausübten. Kurzum, sie alle hatten es zu etwas gebracht. Und denen es nicht so ging, die tauchten einfach nicht auf, blieben vergessen. Und Susanne wünschte, sie hätte es ihnen gleichgetan.
Als sie von dem Ausflug zurückkehrte, fühlte sie sich schäbiger und erfolgloser als zuvor. Sie hatte gedacht, die Fotos ihrer Kinder zu zeigen, erwecke ein Gefühl der Freude in ihr, das Bewusstsein, dass auch sie etwas zuwege brachte, sich auf einem guten Weg befand.
Aber der Vergleich mit jenen, denen es gelang, ohne sichtbare Anstrengung Beruf und Kindererziehung zu bewältigen, hinterließ einen dumpfen Schmerz in ihren Eingeweiden.
Das konnte doch unmöglich alles gewesen sein.
Susanne betrachtete ihre Haut, an deren Unebenheiten sie sich schon so lange gewöhnt hatte, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnahm.
Sie sah in ihre müden Augen, die mit zu viel und zu kräftigem Schwarz umrandet waren. Sie bemerkte, dass ihr Haar an den Enden struppig wirkte, dass der Farbton sich stumpf und ungleichmäßig, wie gescheckt über ihren Kopf ausbreitete.
Ihr Busen war zu klein, ihre Hüften zu ausladend, ihre Füße zu groß.
Susanne dachte an ihren Mann und empfand nichts. Sie dachte an ihre Kinder und fühlte sich hilflos. Sie dachte an ihr Leben und an all das, was es nicht war.
Und jetzt war es zu spät. Für immer zu spät.
Und doch war sie erst 42 Jahre alt.