Sonntag, 19. Dezember 2010

Have yourself a merry little christmas

Seasons Greetings to my lovely friendslist.
WikiLeaks

Im letzten Jahr hab ich tatsächlich keine einzige Fanfiction geschrieben. (Wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern.) Und ich weiß nicht einmal, wie man einen traurigen Smiley herstellt, sonst würde ich ihn hier einsetzen. So kann ich nur vermuten: :(, :)
Aber ein paar originale Fictions sind dazugekommen, meistens extrem deprimierend. Daher die neue Weihnachtsliste:

Weihnachten im Camp
Original Slash
Weihnachten - Bann
Fremd
Weihnachtselfen
Original Femslash
Krieger
Sommer
Sylvester







Eine Petrelli-Weihnacht
Heroes, comedy
Unvermeidlich
24, comedy
Ein Numb3rs Weihnachtsfest
Numb3rs, comedy
Weihnachten in San Francisco
Crossover, comedy
Mourning
Crossover Slash Drabble, Heroes/24, english, Peter Petrelli/Jack Bauer

Damals
Heroes, drama
Allein
24, drama
Xmas
24, english, gen
A Jack/Chase Christmas
24, english, slash, smut
Willi Wonka's - Before Christmas
Crossover,english, slash, sylum

Weihnachten in Stars Hollow
Gilmore girls, drama
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Noch etwas Schmuddeliges?
gratis e-books



Fast vergessen - mein Weihnachtsbuch:
Leseprobe aus 'Kimberleys Weihnacht - Schlimmer geht's immer'!
Erschienen 2010, Aavaa Verlag
Alle Rechte vorbehalten.

Photobucket

Erna schubste inzwischen Armin vorwärts. „Wir gehen“, verkündete sie. „Diese Umgebung kann und will ich unschuldigen Gemütern nicht länger zumuten. Emil, kommst du?“
„Also ich …“ Emil tauschte mit Tessa einen Blick. Das gab es doch gar nicht. War die Welt denn jetzt voller Paare? Und ich der einzige Single in meinem eigenen Haus?
Ich fing einen Blick Samiras auf. Sicher, sie teilte mein Schicksal. Aber im Gegensatz zu mir, war sie noch jung. Ich kippte den Inhalt des Glases, das ich noch in meiner Hand hielt, meine Kehle hinunter.
„Ich denke, wir bleiben noch ein wenig“, meinte Emil dann. „Ist doch so nette Gesellschaft hier.“ Tessa lächelte. Doch als Erna Armin nun auf ihren Bruder zu dirigierte, offenkundig in der Hoffnung, dass ein Mann ihm Verstand einprügeln konnte, sprang sie auf und nahm mich am Arm. „Wieso hast du mir nie verraten, was für einen hinreißenden Bruder du hast?“
„Emil?“ Ich brauchte unbedingt noch einen Drink.
„Natürlich Emil, er ist entzückend.“
„Er ist ein Zwangsneurotiker. Putzt den ganzen Tag. Deshalb hat seine Frau es nicht mehr ausgehalten.“
Tessa schnalzte mit der Zunge. „Du redest wirr. Er putzt, kocht, räumt auf, hat einen Job und ist zuverlässig. Zieht alleine ein Kind auf, um Himmels willen. Er ist ein Traummann.“
„Emil?“ Eindeutig brauchte ich einen Drink. „Das willst du mir nicht wirklich antun.“
„Ach du, Witzbold.“ Sie knuffte mich in die Seite. „Ich bin so froh, dass du mich heute eingeladen hast. Deine Familie ist Gold wert.“
Ich sah auf Erna. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“
„Ach komm“, meinte Tessa. „Sieh sie dir doch an.“ Ich warf einen Blick auf Clarissa, die gerade ihren Kopf zur Seite neigte und ihrem Neffen Tamino durch sein Haar fuhr. Es störte sie keineswegs, dass er gerade dabei war, dem Lebkuchenmann seine Puderzuckerknöpfe abzureißen, die sie vermutlich in sorgfältiger Kleinarbeit hergestellt hatte. Mich störte allerdings der Anblick der roten Flecken an ihrem Hals, die sichtbar wurden, als ihr Tuch verrutschte. Zuerst dachte ich an Knutschflecken und unterdrückte einen Würgereiz. Doch dann fiel mir auf, dass die Male erheblich kleiner und auch dunkler aussahen, punktförmig, fast wie Bisswunden.
Ich packte Tessa am Arm. „Jacques“, keuchte ich und fühlte mich ein wenig bestätigt, als Tessa tatsächlich erstarrte. „Was ist mit dem Jungen?“, fragte sie vorsichtig. „Hast du nicht Angst …“
„Ich wollte es dir sagen“, unterbrach Tessa mich rasch. „Nur fand ich nicht den richtigen Zeitpunkt. Du warst so beschäftigt. Und dann überschlug sich alles.“
„Ich meine Clarissa …“
Plötzlich und ohne dass ich mehr gesagt hatte, richteten sich kühle Augen auf mich. Die Valizianer verfügten über ein erstaunlich gutes Gehör.
Ich senkte meine Stimme. „Es sieht fast aus, als sei sie gebissen worden. In den Hals.“
„Und du denkst … nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht nachdem ich mich mit dem Gedanken angefreundet habe …“ Sie unterbrach sich und stürzte zur Tür. „Tanja! Du kommst sofort rein.“
„Aber Mama, was ist denn?“ Tanja kraulte Jacques im Nacken und kam widerstrebend näher. Tessa stemmte die Hände in die Seiten, starrte den Wolf an, der seinerseits einen Hundeblick auf sie richtete. Fast tat er mir leid. „Wir haben uns gerade erst ausgesprochen“, schmollte Tanja weiter. „Du weißt doch, wie unglücklich ich war. Aber jetzt ist alles geklärt.“
Tessa starrte den Wolf ärgerlich an, der sich tiefer duckte und leicht zurückwich.
„Jacques.“ Der Wolf winselte.
„Hast du jemanden gebissen? Jemanden aus diesem Haus, dieser Familie?“
„Aber Mama, wie kannst du nur? Das hatten wir doch alles.“
„Würde ich nie tun“, sagte Jacques zu meinem Erstaunen. Er war schwierig zu verstehen, die Zähne behinderten ihn ein wenig.
„Ich weiß nichts über die Glaubwürdigkeit von Wölfen“, schimpfte Tessa. „Vielleicht war es auch einer von seinen Freunden. Ich sehe keine anderen bissigen Wesen hier.“
„Wir sind nicht bissig“, brummelte Jacques.
Im Hintergrund räusperte sich jemand. „Da haben die Vierbeiner Recht.“
„Wie bitte?“ Tessa fuhr herum und stand plötzlich vor Arminius. Der hatte sich so schnell vor ihr aufgebaut, dass auch ich sein Nahen nicht bemerkt hatte.
„Kommen Sie doch lieber herein. Sie alle.“ Er nickte in Richtung der Wölfe. Die sahen sich an, zogen ihre Schwänze ein und kamen ins Haus, noch bevor ich wiedersprechen konnte. Eigentlich war ich auch nicht mehr zum Widerspruch fähig. Wölfe im Haus? Warum auch nicht? Und wenn sie schon zugaben, nicht bissig zu sein, dann konnte doch wirklich nichts geschehen. Außerdem schneite es inzwischen in dicken Flocken. Da jagte man keinen Hund vor die Tür. Oder Wolf.
Es war ein bisschen eng im Wohnzimmer, dennoch passten wir alle hinein. Ich ignorierte Ernas entsetzten Aufschrei beim Anblick der Wölfe, die sich vermutlich mehr erschreckten als sie und hinter dem Sofa zusammenkauerten.
„Sie können sich nicht zurückverwandeln“, warf Tanja Erna vor. „Egal wie sehr sie sich aufregen. Erst wenn die Sonne aufgeht, nehmen sie wieder ihre normale Gestalt an.“
„Armin!“
„Ist schon gut, Liebling.“ Armin, sichtlich ausgebrannt, murmelte nur noch leere Phrasen.
Arminius hingegen hatte wieder das Strahlen aufgesetzt, das mich bereits am Vortag genervt hatte. „Erst einmal meinen Dank für dieses wunderbare Fest.“ Er deutete eine Verbeugung in meine Richtung an. „Dass wir nun zu dieser Familie gehören, erfüllt uns mit Glück und Stolz.“
Erna starrte auf die Wölfe. Die ihrerseits starrten sie an. „Ich will nach Hause.“
„Aber sicher, meine Gnädigste.“ Nun verbeugte Arminius sich in ihre Richtung. „Und es wäre mir eine Freude, wenn wir Sie nach Hause bringen dürften.“
„Wir sind mit dem Auto da“, flüsterte Erna erschrocken. „Und wir haben Schneeketten“, bemerkte Armin.
„Aber natürlich“, nickte Arminius und reichte unvermutet Armin seine Hand. Dessen Mund klappte auf, dennoch gab er einen kräftigen Händedruck zurück.
„Sie sind betrunken und draußen ist es glatt“, sagte Arminius. „Wir werden Sie heimbringen. Ihr Bruder und unsere Tochter sind verlobt. Nun sind wir auf ewig verbunden und füreinander verantwortlich.“
„Öh, nun übertreiben Sie aber“, meinte Armin.
„Mitnichten, lieber Freund. Ist Ihnen überhaupt aufgefallen, dass wir uns einen Namen teilen? Auch wenn meiner ein wenig klassischer anmutet. Aber das liegt in der Natur der Sache und in meinem Alter begründet.“
„Was faseln Sie da nur?“, murrte Armin. „Für den Fall, dass es Ihnen nicht aufgefallen ist, meine Frau ist sehr skeptisch, was die Verlobung betrifft. Sehr skeptisch.“
„Mann, das ist doch egal“, fiel ich ein. „Was ist mit dem Biss? Wir haben hier ganz andere Probleme.“ Es kam nicht sehr überzeugend heraus, da mich ein Schluckauf peinigte. „Hicks, ich meine – Clarissa?“
Clarissa hob die Augenbrauen. „Was ist mit mir?“
„Hast du dich verletzt?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ach ich dachte nur – hicks – da!“
Sie hatte ihren Schal abgelegt und ich zeigte aufgeregt auf die Wunden. „Das sind doch … ich meine … hicks!“
„Ach das.“ Clarissa kicherte. „Ist nicht so wie du denkst. Das war ganz allein meine Entscheidung. Ich wollte es.“
„Du wolltest dich von einem Werwolf beißen lassen?“
„Was? Nein – natürlich nicht.“
Clarissa sah sich hilflos um, bis sie Theobald entdeckte, der bereits wieder auf gewohnt missmutige Art in der Ecke stand. „Ich hab mich von ihm beißen lassen.“
„Wie bitte?“ Ich traute meinen Ohren nicht. Und offenbar ging es anderen ebenso.
„Wieso solltest du so etwas tun?“, fragte Emil entgeistert.
„Das ist doch krank“, murmelte Isabelle. „Du brauchst Hilfe, Mädchen.“
„Nein, jetzt nicht mehr“, lachte Clarissa glücklich.
„In was für eine Familie willst du da einheiraten?“ ging Erna nun auf Konrad los, der den Austausch stumm verfolgte, nur seinen Arm schützend um Amalia gelegt hielt. „Beißt du etwa auch andere Menschen?“
Nun richtete Konrad sich gerade auf. „Jetzt reicht es aber. Nein, ich beiße nicht. Und wenn Clarissa das will, dann ist das ihre Sache.“
„Aber doch nicht vor den Kindern“, protestierte Erna.
„Das ist doch alles ganz anders“, mischte sich Pandora ein. „Der Abend hat so schön angefangen …“
„Himmel – Herrgott“, schimpfte Konrad. „Jetzt hab ich aber genug. Seid ihr denn alle völlig von gestern? Muss ich euch wirklich mit der Nase drauf stoßen? Wir haben Wölfe im Wohnzimmer. Wollt ihr mir erzählen, dass ihr nicht von selbst darauf kommt.“
„Worauf – hicks – denn?“
„Darauf dass mehr Dinge zwischen Himmel und Erde existieren, als das Fernsehen uns beibringt.“
„Und zwar?“ Ich hatte ehrlich gesagt genug von dem Geschwafel.
„Kim!“ Clarissa kam strahlend und bleich auf mich zu. Eine irritierende Kombination, wenn auch nicht so irritierend, wie ihre Worte. „Ich habe mich beißen lassen. Ist das nicht großartig?“
„Das kann ich gar – hicks – nicht finden.“
„Du siehst die Konsequenzen nicht“, fuhr sie eifrig fort. „Stell dir nur vor, nie wieder Kalorien zählen? Nie wieder in den Spiegel sehen müssen. Ich kann für immer dünn bleiben.“
„Für die Ewigkeit“, ergänzte Arminius.
„Ach nein“, seufzte Konrad. „Du willst tatsächlich einer von ihnen werden?“
„Schon passiert“, verkündete Clarissa stolz. „War ganz leicht. Hat auch fast nicht weh getan.“
„Da hörst du es“, schubste Amalia Konrad an. „Es tut nicht weh.“

TBC im Aavaa Verlag auf www.buchfeinkost.de

Jasmin

Titel: Jasmin
Autor: callisto24
* * *

Das Leben erscheint immer wieder seltsam, nicht zuletzt, weil es die merkwürdigsten Verbindungen erschafft. Auch wenn sich heutzutage niemand mehr über Altersunterschiede wundern sollte, so wird doch die Frau, die sich den jüngeren Mann angelt, vielleicht zu heiß beneidet, als dass ihr Verhalten Schule machte.
Isabelle war eine erfolgreiche Frau. Sie kannte es nicht anders, aber war auch nicht eingebildet genug, um zu leugnen, dass ihr Erfolg in erster Linie mit ihrem Erbe zusammenhing. Ein guter Name schadete nie und schon gar nicht in ihrem Geschäft. Hatte ihr Vater als Parfümeur bereits Geschichte geschrieben, so war es ihr doch immerhin gelungen, trotz der schwierigen Wirtschaftslage, keine Verluste einzufahren. Vererbt wurde ihr nicht nur das Unternehmen, sondern auch die Liebe zu den Düften und zur Erschaffung bemerkenswerter Kreationen. Ganz zu schweigen von der Liebe zu dem Glamour, der sie und ihre Profession umgab.
Dennoch fehlte Isabelle das Wichtigste zu ihrem Glück. Von Tag zu Tag hörte sie ihre biologische Uhr lauter ticken und von Tag zu Tag sah sie sich weiter davon entfernt, einen Menschen zu finden, an den sie sich zu binden bereit sei.
Dabei hatte sie nie viel auf die Meinung anderer gegeben. Die Blicke und Bemerkungen, die sie trafen, wann immer sie sich mit einem ihrer männlichen Models im Arm zeigte, erwiderte sie mit einem Lächeln. Auch als ihre Begleiter immer jünger wurden, wenigstens im Gegensatz zu ihr selbst. Isabell war sich durchaus darüber im Klaren, dass es der Neid war, der ihr die Kritik an ihren Beziehungen einbrachte. Und warum sollte sie nicht beneidet werden, wenn die schönsten Männer der Welt ihr zu Füßen lagen, ihr alle Wünsche von den Lippen ablasen.
Dennoch konnte ihr keiner geben, was sie sich ersehnte. Keinem einzigen war sie bis jetzt begegnet, der auch nur das entfernteste Verständnis für ihre Welt, für ihre Besessenheit, für ihre Liebe zu den Düften dieser Welt aufbrachte. Keiner, der eine Saite in ihr zum Klingen brachte, von der sie selbst nur ahnte, dass sie existierte.
Manchmal klagte Isabelle Mathilda ihr Leid, der einzigen Vertrauten, die sie neben ihrem Therapeuten in ihr Leben ließ. Gemeinsam lauschten sie auf das Ticken der Uhr und Mathilda unternahm, was ihr in den Sinn kam, um Isabelle von ihrer Einsamkeit abzulenken. Doch alle Bemühungen resultierten nur darin, dass Isabelle sich mehr denn je in ihrer Arbeit vergrub, dass ihre Suche nach neuen Düften sich zu einer Obsession auswuchs, die jedes andere Gefühl zu ersticken drohte.
Mathilda floh von Zeit zu Zeit aus dem bedrückenden Umfeld, gewöhnte sich ab, die Freundin zu beobachten, die Tag für Tag missmutiger und freudloser erschien. Mathilda floh weit, suchte dann ihre einzige Verwandte auf, eine Tante aus Kindheitstagen, die aus eigener Kraft eine Gärtnerei aufgebaut hatte. Was Mathilda nicht wusste: ihrer Tante Helene war es zur Gewohnheit geworden, dem eigenen Schicksal zu danken, indem sie immer wieder eine verlorene Seele in ihr Haus und in ihren Betrieb aufnahm. Jemanden, der ohne Abschluss, ohne Familie und ohne Zukunftsaussichten auf die schiefe Bahn geraten war oder andere finstere Gefilde durchwanderte.
Mathilda sah ihn selten und Helene erklärte ihr auch den Grund. Der junge Mann sprach nicht viel. Er bewegte sich in Gesellschaft anderer Menschen unsicher und ungelenk. Seine Ängste waren wohl begründet und die Flucht in die Welt der Pflanzen nur allzu verständlich. In Helenes Gewächshäusern fand er Ruhe und Frieden. Die Blumen wurden ihm zu besseren Vertrauten, als jeder Mensch es gewesen wäre. Sie sprachen zu ihm und er antwortete. Er säte, pflanzte und pflegte mit jener rückhaltlosen Liebe, die selten war und die weder Mathilda noch Helena jemals wieder beobachteten.
Peter war ein Segen für ihr Geschäft, so vertraute Helene ihrer Nichte an. Ihre Pflanzen wuchsen und gediehen, als versuchten sie, ihm damit eine Freude zu bereiten, ihn für seine Vergangenheit zu entschädigen.
Manchmal bekam sie ihn tagelang nicht zu Gesicht. Nur die Spuren seiner Arbeit, die sorgfältig gewässerten Töpfe und Kästen, die liebevoll geschnittenen Hecken und die immer wieder vorwitzig aus der dunklen, reichen Erde sprießenden Keime, erzählten von seiner Anwesenheit.
Und wenn er zurückkehrte, dann duftete er nach Jasmin, betäubend genug, als bedeckten ihn die Blüten der Pflanze immer noch. Der Duft haftete an ihm, ließ ihn über das gesamte Jahr nicht los, entfaltete sich zur Blütezeit jedoch zu nahezu atemberaubender Fülle. Wenn er an Helene vorüberging, so vertraute sie Mathilda an, dann umhüllte ihn eine Süße, die jeden rationalen Gedanken flüchten ließ. Zurück blieb nur ein Gefühl des Glücks, das mit keinem Wort zu erfassen war. Er duftete reiner als jede Blüte es könnte, klarer, als ein Hain gepflanzt aus Jasmin es im Zauber des Mondlichtes vermochte.
Sein Duft verband die Trauer seines Wesens mit dem Wunder der Natur und niemand konnte sich ihm entziehen.
Mathilda lachte, als sie Helene zuhörte. Sie kannte die teuersten Parfums, ihr Leben bestand aus den exquisitesten Gerüchen, und allein die Vorstellung, der Duft einer gewöhnlichen und nicht einmal exotischen Pflanze überträfe das fachliche Geschick der Meister auf ihrem Gebiet, entlockte ihr ein Lächeln.
Doch Helene blieb überzeugt und als Mathilde aufsah, entdeckte sie Peter, der, weit genug fort von dem lauschigen Plätzchen, an das sie sich zurückgezogen hatten, aber doch nah genug, damit sie seine hochgewachsene Gestalt bewundern konnte, mit anmutigen Bewegungen Unkraut jätete.
Mathilde betrachtete ihn sich genauer, das dunkle Haar, das ihm locker in die Stirn fiel und das er sich nicht selten mit einem ärgerlichen Kopfschütteln zurückwarf. Dennoch fiel es ihm unablässig erneut in sein Gesicht. Und als Mathilde ihre Aufmerksamkeit auf die großen, braunen Augen richtete, die so gedankenverloren in die Ferne zu blicken schienen, da wurde ihr klar, dass sie nie zuvor einen schöneren Mann gesehen hatte.
Helene sah sie lächelnd an. „Hat was der Knabe, oder nicht?“
Mathilde nickte widerstrebend. „Du weißt ja, dass meine Vorlieben nicht in den männlichen Reihen der Schöpfung liegen, aber er sieht tatsächlich hübsch aus.“
„So dumm es sich anhört“, seufzte Helene. „Aber wenn du erst neben ihm stehst und seinen Duft einatmest, dann orientierst du dich vielleicht um.“
Mathilde lachte. „Ich glaube nicht, dass sich vierzig Jahre so rasch auslöschen lassen.“
Worauf Helene den Kopf schüttelte. „Weißt du, wenn sogar ein betagtes Frauenzimmer wie ich, das eigentlich jenseits von Gut und Böse sein sollte, Attraktivität bemerkt, dann ist nichts unmöglich.“
Mathilde lachte noch, als ihr ein Gedanke kam und sie runzelte ihre Stirn. „Bezweifle ich zwar, aber ich habe eine jüngere Freundin, die momentan in einer Krise steckt. Vielleicht sogar in mehreren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bekanntschaft mit jemandem, der nicht von seinem guten Aussehen oder dem Geschäft allzu abgelenkt wird, ihr weiterhelfen kann.“
Helene biss sich auf die Unterlippe, zögerte mit der Antwort. „Ich wünsche dem Jungen mehr als alles andere ein besseres Leben. Aber er zieht sich sehr zurück. Du weißt wie das ist mit den gebrannten Kindern. Ob er sich in deiner Welt zurechtfände, wage ich zu bezweifeln.“
Mathilda setzte sich eifrig auf. „Das soll er auch gar nicht. Ich dachte eher, dass Isabelle aus ihrem Trott ausbrechen könnte, aus ihrer künstlichen Laborwelt, in der sie Düfte zusammenmischt, deren Ursprünge ihr nicht einmal bewusst sind.“
Helene schüttelte den Kopf. „Nach allem, was du mir über sie erzählst, glaube ich kaum, dass du sie dazu bewegen kannst, hier heraus in die Einöde zu fahren. Und womit willst du sie überzeugen, meiner Gärtnerei oder einem einfachen Angestellten ihre Aufmerksamkeit zu schenken?“
Mathilda seufzte. Aber eine Idee hatte sich in ihr festgesetzt und wollte nicht weichen.
Nicht, als sie sich verabschiedete, ohne Peter nähere Beachtung geschenkt zu haben.
Auch nicht, als sie sich wieder in der Tretmühle befand. Und schon gar nicht, wenn ihr Blick auf Isabelles verkniffenes Gesicht fiel, als sie zusah, wie die Freundin sich in ihre Arbeit stürzte, ohne einen Erfolg für sich verbuchen zu können. Nicht in privater und auch nicht in beruflicher Hinsicht. Ein Umstand, der Isabelle zusätzlich zu belasten begann. Sie wusste sehr gut, dass es an der Zeit war, eine neue Kreation auszurufen. Wer sich nicht rührte, ging in der Menge unter, und sie hatte sich schon allzu lange ablenken lassen, viel zu lange nicht mehr auf dem gesellschaftlichen Parkett und in der Geschäfts- und Modewelt blicken lassen.
„Ich wollte einen triumphalen Einzug halten“, klagte sie Mathilde ihr Leid. „Ich wollte mit einem neuen Duft, einem Ehemann und Familie aufwarten. Die Zeitungen sollten über mich schreiben, die Menschen sich den Mund zerreißen. Und nun bin ich nichts als eine einsame, alte Jungfer, die nur noch ihre Arbeit hat. Und nicht einmal die vermag ich zu erledigen.“ Isabelle schluchzte auf und Mathilda litt mit ihr.
Sie räusperte sich überlegt. „Dass die Zeitungen über dich schreiben, lässt sich doch sicher auch anders erreichen. Es kommt nur auf eine ausreichend bombastisch aufgezogene Werbeaktion an. Nach meinem Empfinden brauchst du nicht mehr als ein gesellschaftliches Ereignis. Ob nun mit oder ohne Mann.“
Isabelle stöhnte. „Was soll ich mir darunter denn vorstellen? So eine Art Ball ausgerichtet für ein Aschenputtel? Nur dass ich in diesem Fall der Prinz bin?“
Mathilda schnalzte mit der Zunge. „An was du nur wieder denkst. Kann es sein, dass du so auf die Suche nach einem Mann fixiert bist, dass nichts anderes mehr für dich existiert?“
Isabelle senkte den Kopf. „Möglich“, gab sie zu und stöhnte. „Und ich weiß auch nicht, wie ich aus diesem Karussell aussteigen kann. Es dreht und dreht sich, bis ich zu alt und vertrocknet bin, um mich sogar nach Hirn- und gefühllosen Dressmen umzusehen.“
„Hm.“ Mathilda blinzelte. „Ich dachte an eine Werbeaktion revolutionärer Ausmaße. Warum nicht mit der Suche nach einen Prinzen verbinden?“
„Ach du.“ Isabelle versuchte ihr einen Klaps zu verabreichen, aber Mathilda drehte sich rasch genug weg. „Im Ernst – wir suchen den neuen Duft. Jeder der dazu beitragen kann, darf sich vorstellen. Und das im Rahmen eines gigantischen, von den Medien live übertragenen Events.“
Isabelle hielt in der Bewegung inne. „Du meinst, die letzte Komponente meiner neuen Kreation. Der zarte Hauch, nach dem ich suche. Wir sollen versuchen, ihn mit Hilfe einer Ausschreibung zu finden?“
Mathilda zuckte mit den Schultern. „Was haben wir zu verlieren? Selbst wenn der Duft kein durchschlagender Erfolg wird, so dürfte die Strategie ausreichen, um die Ausgaben wieder hereinzuholen. Und du bist wieder im Gespräch.“
Isabelle atmete tief durch und nickte. Die Saat war gesetzt und Mathilde blieb es nun übrig darüber nachzudenken, wie sie ihre heimliche Vision in die Realität umsetzen konnte.

Peter strich sich sein Haar zurück und legte den Kopf schief, als Helene näher kam. Er stützte sich auf den Spaten und wartete, beobachtete wie Helene vorsichtig schnupperte, lächelte und dann in sicherem Abstand stehen blieb. Er hatte damit aufgehört, darüber nachzudenken, was es war, das sie fernhielt. Bis jetzt machte sie noch keine Anstalten, ihn herauszuwerfen. Das Einzige, wovor er sich fürchtete, denn der Garten, die Gewächshäuser und vor allem die Jasmin-Sträucher, die er hegte und pflegte und in deren Mitte, gut versteckt vor der Welt, sein Lieblingsplatz lag, waren ihm ein Zuhause geworden. Das einzige Zuhause, an das er sich erinnern konnte.
Helena warf einen Blick auf die weißen Blütenblättern, die auf seine Schultern gefallen waren und sich in seinem Haar verfangen hatten, ohne dass er sich dessen bewusst war, und seufzte leise.
„Du solltest einmal raus hier“, schlug sie vorsichtig vor. Nicht unerwartet erstarrte der Mann.
„Was ist geschehen?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Nichts“, beeilte Helene sich zu versichern. Es war nicht fair, dass ein Junge, der durch Waisenhäuser, Jugendgefängnisse und üble Erfahrungen gegangen war, sich so sehr vor dem Leben fürchtete, dass er sich in einem Garten verkroch. Nicht einmal, wenn es ihr Garten war.
Helene rief sich in Erinnerung, was Mathilda zu ihr gesagt hatte. Sie nickte in Richtung des Jasmins. „Ich brauche deine Hilfe.“
Sie räusperte sich verlegen. „Das Geschäft läuft im Augenblick ein wenig schleppend. Das bedeutet, ich muss jede Chance ergreifen, um ein wenig Aufheben um den Betrieb zu machen. Wenigstens wenn ich meine Rente sichern will. Und da wurde mir angetragen, ein paar meiner besonders wohlriechenden Pflanzen vorzustellen. Im Rahmen einer Gala.“
Peter verzog kurz den Mund, presste dann die Lippen zusammen.
Helene seufzte leise. „Ich würde selbst gehen, aber mein Bein macht mir wieder Schwierigkeiten. Und außerdem würde ich mir wünschen, dass du öfter unter die Leute kommst.“
„Mir geht es gut“, antwortete Peter ruhig.
„Ich weiß, natürlich. Ich weiß auch, dass du dich hier wohler fühlst. Aber manchmal muss man dem Glück auch eine Möglichkeit geben, sich zu entfalten.“
Peter runzelte die Stirn. „Ich bin glücklich.“
Helene ging einen Schritt auf ihn zu und atmete genießerisch ein. „Sei so gut und tu mir den Gefallen. Ich bitte dich.“
Worauf Peter nicht anders konnte, als den Kopf zu senken und zuzustimmen.
Und noch ehe er sich versah, war der Tag gekommen. Nach Helenes Anweisung lud er den Laster voller Blütenzweige, die er mit blutendem Herzen abgeschnitten hatte. Arme voller herrlicher weißer und betäubend duftender, sich gerade erst öffnender Knospen trug er durch den Garten, strich liebevoll über die zusammengebundenen Äste.
Immer wieder stoppte er die Fahrt, um die Blüten mit Wasser zu benetzen, sie in einem feuchten Nebel zu umfangen, der ihre Farben erstrahlen ließ und ihre Frische erhielt.
Als Peter den Empfang erreichte, zögerte er. Und als man ihn, anstatt ihn zum Personal zu dirigieren, in eine Reihe Bewerber einfügte, die mit Flakons, Töpfen oder ihrerseits gewaltigen Blumensträußen ungeduldig warteten, glaubte Peter sich einem Irrtum zum Opfer gefallen.
Er trug immer noch das Hemd, in dem er Gartenarbeit verrichtet hatte. Seine Hose wies Gras-Flecken auf und sein Haar wirkte ungekämmt. Die Gestalten neben ihm jedoch sahen aus, als bereiteten sie sich auf ein Bewerbungsgespräch vor, als stünden sie kurz davor, eine wichtige Erfindung zu präsentieren.
Peter drückte die Zweige näher an seinen Körper und duckte sich in einem unbewachten Moment zur Seitentür heraus. Rasch fand er den Ausgang und stand einen Moment später auf einer weitläufigen Terrasse.
Er lauschte auf die Musik, die Geräusche der Festlichkeit, deren bunte Lichter bis zu ihm flackerten. Unentschlossen verharrte er, überlegte krampfhaft, wie er seiner Verwirrung Herr werden konnte, ohne Helene zu enttäuschen.
Ein plötzliches Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Türen wurden zugeschlagen und geöffnet, bis rechts von ihm ein oranger Schein aus dem Gebäude drang, gefolgt von raschen Schritten.
„Nun stell dich nicht an“, rief Mathilda hinter Isabelle her. „Du weißt, warum wir das veranstalten und kannst mir nicht erzählen, dass es so furchtbar für dich ist.“
Isabelle fuhr herum. „Ich schnuppere an wildfremden, merkwürdigen Gestalten und das zur Belustigung von Film und Fernsehen. Sag mir nicht, dass ich mich anstelle. Wenn ich gewusst hätte …“
Sie stoppte in ihrem Schritt. Der Moment, in dem sie Peter sah, war zugleich der Moment, in dem ein Windhauch den köstlichsten Duft zu ihr schickte. Unübertroffen in seiner Süße und zugleich von einer dunklen Schwermut, die mit unendlicher Zärtlichkeit ihre Sinne streichelte. Ihr Blick weitete sich. Sie erblickte die hohen Zweige, an denen unzählige weiße Blüten hafteten und zugleich die Gestalt, deren Arme sie mühsam umfingen.
Große dunkle Augen fanden ihre und Isabelle stockte der Atem, als sich die fein geschwungenen Lippen in Erstaunen öffneten.
Eine samtene Stimme drang leise an ihr Ohr, doch der Sinn der Worte entging ihr, als sie die zarten seidigen Blütenblätter bemerkte, die sich an seine Kleidung schmiegten, aus seinem Haar aufblitzten.
„Entschuldigung. Ich … sollte nicht hier sein“, murmelte Peter und wich zurück, als die Frau einen Schritt auf ihn zuging.
Mathilda verharrte im Hintergrund. Sie versuchte Isabelle Peters Anwesenheit, Helenes Idee zu erklären, doch ihre Worte verhallten ungehört.
Isabelle streckte langsam ihre Hand aus und diesmal wich Peter nicht zurück.
„Jasmin“, wisperte sie. „Jasmin hat gefehlt, ist es nicht so?“
„Jasmin fehlt immer“, antwortete Peter zögernd, als Isabelles Augen aufleuchteten. Ihr dunkles Grau glänzte im orangen Licht, das sie wie ein sanfter Schimmer umgab, und Peter wusste, dass er nie etwas Schöneres gesehen hatte. Keine Blüte, keine noch so perfekte Rose glich dieser Frau, die so selbstbewusst, so elegant, so königlich erschien. Und die ihn zugleich ansah, als trüge er die Lösung für alle Geheimnisse des Universums in sich. Deren Hand immer noch ausgestreckt war, als suchte sie seine Hilfe, als bräuchte sie ihn und sonst niemanden.
Peter bemerkte nicht, wie ihm ein Teil der Zweige aus den Armen rutschte, als er zögernd nach ihren Fingern tastete, als seine warmen Hände ihr schmales, kaltes Handgelenk berührte, bevor sie sich ineinander verschlangen.
Isabelle schloss die Augen, als sein Duft sich entfaltete, sie liebkoste und schließlich umfing. Fast fühlte sie sich, als schwänden ihr die Sinne und als sie ihre Augen wieder öffnete, blickte sie in ein fragendes Gesicht, umrahmt von weißen Blütenblättern.
„Bleib bei mir“, bat sie, noch ehe sie zu sich kommen konnte. „Ich möchte nicht mehr ohne dich sein.“
Ein Laut hinter Isabelle ließ sie zusammenzucken, als sie aus den Augenwinkeln Mathilda auf sich zukommen sah. Die Freundin strahlte.
„Ich verstehe nicht“, stieß Peter heiser hervor, ohne seinen Blick von Isabelle zu nehmen.
„Das ist Schicksal“, jubilierte Mathilda. „Davon hätte ich nicht zu träumen gewagt, aber Helene hatte Recht. Ihr gehört zusammen.“
Isabelle schluckte, blinzelte und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, die wild durcheinanderwirbelten. Bilder und Düfte von nie zuvor empfundener Intensität beschleunigten ihren Herzschlag. Und Peter befand sich in ihrem Zentrum, er nahm ihre Gefühle für sich ein, wie sie es nie zuvor gekannt hatte.
„Was ist mir dir?“, fragte sie leise, als Peter seinen Blick senkte.
„Ich kann nicht“, antwortete er und seine Stimme brach. „Ich bin nicht, was du denkst.“
Isabelle kam näher. Sie hob ihre verschlungenen Hände und legte seinen Arm um ihren Hals. Zwischen ihnen barsten die Knospen, brachten die Welt dazu stillzustehen, als sie flüsterte: „Du bist genau der, den ich gesucht habe“, flüsterte sie. „Was vorher war spielt keine Rolle. Die Zukunft existiert nicht. Aber jetzt halte ich dich fest und lasse nicht mehr los, solange du mich willst.“
Als er seinen Kopf an ihrer Schulter barg, funkelten Blitzlichter, brandete der Applaus auf. Und der Duft des Jasmin füllte ihre Herzen und trug sie davon in die Schönheit der Nacht.

Vampir

Titel: Vampir
Autor: callisto24
* * *

Der Geruch war ihm unbekannt. Hin und wieder nahm er ihn wahr und konnte nicht anders, als zuzugeben, dass er ihn verstörte. Etwas Neues und nicht unbedingt Angenehmes addierte sich zu dem Duft, der ihn für gewöhnlich lockte. Der ihn mit jedem Schlagen eines Herzens lockte, das sich in seine Nähe wagte. Jenes Schlagen, das heiße, süße Ströme Blutes durch feste Adern beförderte und das ihm wie die herrlichste Musik in den Ohren klang. Nicht nur, wenn er trank. Seine Welt beherrschte dieser Klang, das regelmäßige Pochen, das köstlich erschien, ob es nun ruhig und regelmäßig oder aufgeregt und flatterhaft ertönte.
Über Jahrhunderte hatte er sowohl die Laute, als auch die Düfte genossen, die ständig variierten, aber dennoch nie so grundsätzlich voneinander abwichen, dass es ihn verschreckte.
Doch in diesem Jahrhundert entwickelte sich eine neue Seuche. Und der Vampir roch sie, schmeckte sie im Blut seiner Opfer. Sicher, sie konnte ihm nichts anhaben. So wie ihm nie zuvor eine Krankheit etwas hatte anhaben können. Infektionen, Schäden an Körper oder Geist, wuchernde Gewächse an jedem nur existierenden Organ, waren für ihn nie etwas anderes gewesen, als die pikante Würze, die eine notwendige Abwechslung in seinem sonst eintönigen Dasein verkörperte. Nichts davon hatte ihn jemals irritiert, nichts ihn abgestoßen.
Natürlich war er es gewohnt, sich im Verborgenen zu halten. Seine Aktivitäten, seine Gewohnheiten, seine Bedürfnisse vor der Welt zu verstecken, war wichtiger als jeder Luxus, als jede Lebensqualität es sein konnte.
Und so verhielt er sich schon immer eher praktisch als abenteuerlustig, eher vernünftig, als genussorientiert.
Er brauchte nicht viel. Geschichten von Vampiren, die dem Reichtum frönten, belächelte er insgeheim. Viel Fantasie war nicht vonnöten, um zu erkennen von wem sie ersonnen waren. Nur ein Mensch konnte sich vorstellen, dass die Aufmerksamkeit, die ein Leben in Wohlstand mit sich zog, Halt machte bei der Frage nach näheren Umständen. Und allzu genau brauchte keiner seiner Art betrachtet zu werden, bis offensichtlich wurde, dass er nicht von dieser Welt war. Dass ihn etwas Dunkles, etwas Böses umgab. Ein Hauch von Tod und Mord schwang mit jedem ihrer Schritte und weder Blindheit noch taube Ohren konnten die Erkenntnis verschleiern. Eine Ahnung reichte aus, ein Windstoß, ein winziger Gedanke in die richtige Richtung und die Wahrheit kam ans Licht. Unweigerlich und ohne dass einer der ihren es verhindern konnte.
Doch einen Trost gab es. Ebenso wenig wie seinesgleichen ihr wahres Wesen verbergen konnte, ebenso wenig konnte der Mensch den köstlichen Duft seines Blutes verbergen, konnte er den Geschmack verschleiern, der jedem Vampir auf der Zunge lag, gelangte er auch nur in die Nähe. Hörte er das sanfte Klopfen und das gleichmäßige Strömen des Lebenssaftes, nach dem er gierte.
Keiner von ihnen konnte sich beherrschen, wenn eine Distanz überschritten wurde, die von einer Macht höher als sie alle, festgelegt worden war.
Und so blieb es am sichersten, wenn er sein Jagdgebiet in eine Gegend ausdehnte, in der dem einzelnen Opfer, dem einzelnen Menschen wenig bis keine Beachtung geschenkt wurde. Über eine lange Zeit war es kein Problem gewesen. Die Nachrichten verbreiteten sich schleppend, Unglücke geschahen und wurden durch göttliche Gewalten erklärt. An der Aufklärung waren die wenigsten interessiert, noch erkannten sie die Möglichkeiten für eine solche.
Doch mit der zunehmenden Vernetzung, erschwerten sich die Bedingungen für ihn und seinesgleichen und sie waren gezwungen sich mehr und mehr zurückzuziehen. In Länder, die noch nicht so erschlossen, nicht derart kontrolliert geführt wurden. In denen es nicht möglich war, jeden einzelnen Menschen aufzuführen, zu notieren und zu katalogisieren.
Diese Länder wurden weniger. Aber sie verschwanden nicht. Eine große Hilfe waren ihm wie immer die Kriege, derer die Menschheit nie überdrüssig wurde. Bürgerkriege, innere Unruhen und Flüchtlingsströme boten ihm eine besondere Auswahl an Leckereien.
Und er dankte seinem Schicksal, das diese Welt zu einem grausamen und rücksichtslosen Ort gemacht hatte, zu einem Paradies für Wesen, dominiert von Bedürfnissen, die in die Dunkelheit gehörten.
Auch wenn er sich der Unstimmigkeiten hin und wieder bewusst wurde, die nicht nur ihn in eine Welt trieben, die ohnehin von Gewalttätigkeit regiert wurde. Als ob das Grauen sich selbst anzog, so wandelte er auf ausgetretenen Pfaden, betrachtete aus sicherer Entfernung den Schrecken, der sich vor ihm abspielte, während er geduldig auf seine Stunde wartete. In welcher er der dem Grauen einen Gipfel verlieh, von dem sich die durch Angst und Schrecken gemarterte Bevölkerung keine Vorstellung bildete. Und selbst wenn, dann bezweifelte er, dass sich der Terror vergrößern ließe unter dem sie litten.
War er wirklich um so vieles schlimmer wie sie oder das, was sie sich gegenseitig antaten?
Der Vampir gehorchte nur seinem Durst. Ihn trieben keine Beweggründe wie Machthunger oder Gier. Seine Grausamkeit lag in der Notwendigkeit. Er tötete vielleicht nicht schnell, vielleicht nicht schmerzlos, aber er tötete nicht um der Schmerzen willen. Er quälte und folterte nicht. Es fiele ihm nicht ein zu vergewaltigen oder zu verstümmeln. Er war anders, ein anderes Wesen, und hin und wieder fühlte er sich dem Menschen überlegen. Fühlte sich besser, als dieser es war. Reiner und ehrlicher. Und wenn es einen Gott gab, so nähme dieser den Vampir in sein Himmelreich, bevor er einen Gedanken an den Menschen und die Abgründe, die der in sich trug, verschwendete.
Doch als der Vampir den neuen Geruch bemerkte, fühlte, wie er sich entfaltete und verbreitete und seine Folgen zu Gesicht bekam, das Leid, das er mit sich brachte, da erkannte er, dass der Mensch mehr Gründe für sein Verhalten besaß, als er geglaubt hatte.
Der Mensch wurde geboren um zu leiden, der Schmerz begleitete seinen Weg. Und dieser Weg endete zwangsläufig in Qualen. War es wirklich so unverständlich, dass der Mensch für seine Qual, für seine Angst und für seinen Schmerz ein Ventil suchte? Und dies in einem anderen Menschen fand und in dem, was der ihm geben konnte? Ob es sich nun um Schmerzensschreie oder sinnlos vergossenes Blut handelte. Blut, das die Erde tränkte, auf der ein Sieger tanzte. Sich für einen Augenblick nur unsterblich wähnte.
Bis zu einem gewissen Grad konnte der Vampir verstehen, was in dem Menschen vorging. Der Kampf, der sein Überleben war, ließ ihm keine Atempause und führte ihn durch sein eigenes Elend. Ein Elend, das er glauben musste, nur abwenden zu können, indem er es anderen auferlegte. Anderen, die er als nicht zugehörig empfand. Nicht zu sich selbst, nicht zu seinem Clan.
Und darin lag der Vorteil des Vampirs. In den Löchern dieses Netzes konnte er verschwinden und wieder auftauchen. Lücken nutzte er, Haltlosigkeit, die ihm zum Vorteil geriet.
Viel Mühe war nicht vonnöten. Viel gehörte nicht dazu. Er griff zu, wenn ihn jemand verlockte, wenn er Hunger hatte, und ließ die Reste liegen, ohne dass es jemanden interessierte. Nicht in einem Maße interessierte, dass er sich darüber Sorgen zu machen hatte.
Bis der Duft auftauchte. Der strenge Beigeschmack, die neue Krankheit, die um sich griff. Die in rasender Eile durch das Land zog. Durch die Länder, denn der Vampir erweiterte sein Jagdgebiert. Dem Geruch zu entgehen war eine Sache. Die Ursache aufzuspüren eine andere.
Je weiter der Vampir dem Kontinent entfloh, in dem er den Duft zum ersten Mal bemerkt hatte, desto seltener fing er ihn auf. Fast begann er sich sicher zu fühlen. Doch die Zeit verging und die Seuche breitete sich aus. Der Vampir empfing den Geruch nun überall, egal wohin er floh. Ein beißender Geschmack bildete sich in seinem Mund, je öfter er auf einen Menschen traf, der sich infiziert hatte. Er wurde den Geschmack nicht mehr los. Die Welt verkleinerte sich. Fluglinien verbanden jeden Winkel mit dem anderen. Schiffe trugen den Duft von Kontinent zu Kontinent, bis niemand mehr verschont blieb.
Und der Vampir begann, sich verfolgt zu fühlen. Die Orte, an die er sich zurückziehen konnte, seine Verstecke schwanden dahin. Inzwischen glaubte er, den Geruch überall zu bemerken, fürchtete ihm nicht wieder entkommen zu können.
Sicher gab es immer noch andere Menschen, andere Opfer. Süß und verlockend duftende Exemplare, deren reines Blut seinen Hunger stillte. Doch konnte der Vampir nicht anders, als sich bei jedem Menschen, den er verfolgte, den er jagte, zu fragen, ob er den Keim bereits in sich trug, der seine Innereien vergiftete. Paranoia, so nannte er es selbst, ein Wahn, dem er unterlag, wenn er glaubte, die Warnung nicht rechtzeitig empfangen zu können. Seine feinen Sinne trogen ihn nie, schon immer hatte er sich auf sie verlassen. Es gab keinen Grund, sie jetzt anzuzweifeln.
Und doch fühlte er die Wellen des Giftes in der Atmosphäre. Eingesperrt in der einen Welt, die auch für ihn kein Entkommen bereithielt, wurde es schwieriger, dem Geruch aus dem Wege zu gehen. Er war überall. Und auch, wenn er ihn nicht spürte, so konnte er ihn doch erahnen. Allein das Wissen um seine Existenz quälte und verängstigte den Vampir auf eine neue, nie zuvor erlebte Weise.
Mit keiner anderen Woge zu vergleichen, die über Jahrhunderte die Massen an schwachen Menschen verschluckt hatte, traf dieser Duft einen Nerv, von dem der Vampir nicht gewusst hatte, dass er oder seinesgleichen ihn noch besaßen. Weder die Pest, noch Cholera, Typhus, Lepra oder die unzähligen anderen Schreckgespenste, vor der die Menschheit sich in Sicherheit zu bringen suchte, hatten ihn je derart beeinträchtigt.
Der Vampir war schlichtweg überfordert. Und während der wenigen Treffen, die ihn mit anderen Vampiren zusammenbrachten, bemerkte er, dass er mit seinen gemischten Emotionen nicht alleine stand. Kaum jemand sprach darüber. Die Vampire unterhielten sich ohnehin selten miteinander. Noch viel verschwiegener zeigten sie sich, wenn etwas sie beunruhigte. Und doch spürte jeder von ihnen die Bedrohung, sei es, dass sie auch nur in dem tiefen Bedürfnis bestand, sich von dem Duft fernzuhalten.
Selbstverständlich besaß jeder von ihnen die Möglichkeit, gefahrlos die neue Blutsorte zu testen. Zumindest glaubten sie, dass keine Gefahr bestünde. Wenn ihnen keine andere Seuche etwas anhaben konnte, kein Schmerz, der den Menschen qualvoll dahinsiechen ließ, sich über sein Blut auf einen unzerstörbaren Vampir übertrug, so sollte auch eine neue Entartung des für ihre toten Körper überlebenswichtigen Saftes, keinen Schaden bringen.
Und doch beschlich den Vampir, je länger und gründlicher er sich mit der Frage auseinandersetzte, je intensiver er in den Gehirnen der Seinen forschte, eine namenlose Furcht. Ein Unbehagen, das sich steigerte, als sich die Überzeugung herauskristallisierte, dass keiner von ihnen jemals von dem Blut derer gekostet hatte, die den Duft verströmten. Es existierten keine Daten, niemand wusste Genaues, niemand wagte es, Forschungen anzustellen.
Die Angst, die er verspürte, Angst vor dem Unbekannten, die Vampire teilten sie. Der Geruch der Seuche stieß sie ab und vor die Wahl gestellt, zogen sie sich vor ihr zurück. Sie griffen nach den Menschen, deren Geschmack sie kannten, deren Duft unbefleckt und gewohnt in ihre Nasen drang. Das stechende Aroma der Infizierten hielt jeden einzelnen ab, sich sein Opfer unter den Erkrankten zu suchen.
Gut, dass sie wenige waren. Gut, dass es ihnen nicht schwer fiel, sich aus dem Weg zu gehen und ihre Jagdgebiete auszudehnen. Schwieriger wurde es, doch nicht unmöglich. Immer noch fanden sich Zentren der Gewalt, die unbelastet blieben von übermäßiger Kontrolle. Zentren, die wie geschaffen waren, um sich an ihnen gütlich zu tun, um die Zähne in williges Fleisch zu schlagen, bis der letzte Atemzug gehaucht war. Auch wenn die Krankheit überall bestand, so fanden sich immer Exemplare vertrauter Konsistenz und Ausdünstung zwischen den wandelnden, stinkenden Leichen.
Den Vampiren war Schuld fremd, es spielte keine Rolle, dass sie die letzten resistenten Exemplare aus einem Moloch der Verdammnis zerrten. Die Welt war immer noch unüberschaubar groß, eine Festtafel, auf der sie selbst neben vielen Seuchen Platz fänden.
Sie sahen zu, wie die Krankheit Menschen dahinraffte, andere geboren wurden. Die Gattung auszurotten schien schon immer unmöglich. Keine Kraft, der sie sich bewusst waren, hatte jemals vermocht, ihr einen größeren Schaden zuzufügen, als sie selbst imstande wären. Letztendlich trugen die Vampire selbst auch kein Interesse daran, die Menschheit zu vernichten. Ebenso wenig wie die Seuche davon profitieren sollte, sich ihren eigenen Nährboden zu zerstören.
Wenn der Vampir darüber nachdachte, so fragte er sich, ob die Seuche vielleicht eine ähnliche Liebe zu den Menschen verband, wie er sie in sich trug. Eine Liebe, die nicht nur von dem köstlichen Geschmack herrührte, mit dem sie ihn verlockte, der seinen Mund und seine Nase zu füllen imstande war wie nichts Vergleichbares, und die zu dem Kostbarsten gehörte, dessen er sich entsinnen konnte. Vielleicht lag darin der Grund. Vielleicht verlieh die Krankheit den Menschen ihren stechenden, beißenden Geruch, um sie damit für sich zu behalten, um sicher zu stellen, dass keiner von ihnen, keiner, der sich auf die profane und schlicht brutale Art der Vampire von den Menschen ernährte, sie für sich beanspruchte. Als versuchte die Seuche den Mensch, der sie befiel nicht nur zu vergiften und ihm das Leben zu rauben, sondern auch noch daran zu hindern, dass ein übernatürliches Wesen an seiner Lebenskraft sauge.
Der Vampir wanderte durch die Nacht. War es wirklich so unklug, so unvorsichtig, den eigenen Instinkten zuwider zu handeln, wie die anderen ihm klarzumachen suchten?
Er empfing ihre Gefühle, ihre Gedanken, vernahm ihre Warnung so deutlich, als gingen sie direkt neben ihm. Und doch war er nicht bereit, auf sie zu hören. Es war leicht, ihre Stimmen auszublenden, leichter noch, da er die vergangenen Jahrhunderte nichts anderes getan hatte. Er wollte nicht glauben, dass eine vage Bedrohung alleine ausreichte, um seinesgleichen wie eine Schar aufgeschreckte Schafe zusammenzutreiben. Dass der Gestank genug war, ein starkes, unverwundbares Geschlecht in Angst und Schrecken zu versetzen, dazu zu bringen, ihre natürliche Sehnsucht nach Einsamkeit aufzugeben um gemeinsame Zuflucht zu suchen.
Der Vampir hatte nicht vor, ein Teil dieser Farce zu werden. Und er hatte nicht vor, noch länger dabei zuzusehen, wie die Welt sich in einen stinkenden, üblen Ort verwandelte, die ihm seinen Lebensraum nahm. Wenn es nicht anders ging, dann sorgte er selbst für die Ausrottung der Seuche. Wenn es sein musste, dann würde er jeden Infizierten töten und die Überlebenden dazu bringen, ihre gesunden Blutlinien fortzuführen.
Doch was wenn nicht? Der Vampir blieb stehen. Handelte es sich nicht um ein Zeichen von Schwäche, wenn er es zuließ, dass ein einfacher Geruch ihn abstieß? Ein Duft, der nicht mehr war als Luft, flüchtig und vergänglich. So ganz anders als er selbst, dem nichts und niemand je etwas anhaben konnte.
War es nur das Unbekannte, was sie alle fürchteten? Lag ihre Angst darin begründet, dass sie nicht wussten, wie es sich auswirkte, sollte einer von ihnen über die Grenze treten, sollte wider seine Gefühle handeln.
Der Vampir straffte seine hagere Gestalt. Vor langer Zeit schon hatte er aufgehört zu kämpfen, doch das bedeutete nicht, dass er es vergessen hatte. Er erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, sich selbst zu überwinden. Dem Bedürfnis zuwider zu handeln, der Verlockung zu widerstehen, um einen Schritt vorwärts zu wagen.
Es war soweit, er ginge vorwärts. Weder wollte er das Unbekannte, das ihn beunruhigte, ausrotten, noch vor ihm fliehen.
Sich mutig dem Neuen in den Weg stellen, von der Gefahr zu kosten und einen fremden Weg zu beschreiten, das hatte sein Blut in Wallung gebracht, als er noch ein Mensch gewesen war. Als sein Herz pumpte und das Adrenalin in ihm tobte. Beinahe glaubte der Vampir auch jetzt das Adrenalin zu spüren, wie es sich seinen Weg durch vertrocknete Kanäle suchte.
Er setzte sich wieder in Bewegung. Doch diesmal wich er dem Gestank nicht aus, er suchte ihn.
Und er fand ihn. Die angstvollen Schreie seiner Gefährten klangen ihm in den Ohren, doch er weigerte sich, inne zu halten, beugte sich über das ärmliche Strohlager und sah in die großen, furchtsamen Augen, die aus dem hageren Gesicht hervortraten.
Das Herz seines zukünftigen Opfers flatterte. Der Vampir hörte es wie einen kleinen Vogel in seinem hageren Brustkorb schlagen. Er roch das vergiftete Blut, fühlte, wie es in den Adern rollte, schwach und dennoch blieb es Blut. Der Vampir schnupperte. Und je stärker er sich konzentrierte, umso deutlicher empfing er die Süße des roten Saftes, nahmen seine Geruchsknospen den reinen, unverfälschten Geschmack unter dem Deckmantel des fauligen Eiters wahr.
Da war er wieder, der Hunger. Seine Lust stieg, Wärme umfing ihn mit jedem Atemzug seines Opfers.
Der Kranke blinzelte. Erschrocken, aber nicht ängstlich. Als wüsste er wie ihm geschah. Als habe er auf ihn gewartet.
„Bist du der Tod?“, fragte er den Vampir. Der stockte noch vor dem letzten Kuss.
„Nur, wenn du dir das wünscht“, antwortete er schließlich und sein Opfer schloss die Augen.
„Nein“, sagte es. „Aber ich wusste, dass du zu mir kommst.“
Die dünnen Lippen des Vampirs verzerrten sich zu einem Lächeln, bevor er sie auf die kalte, schweißnasse Haut presste. Der Gestank stieg ihm zu Kopf, verwirrte seine Sinne, und der Vampir klammerte sich an die süße Note, die ihm vertraut war, die sein Opfer immer noch ausströmte. Scharfe Zähne durchbrachen das Fleisch und der Vampir begann zu trinken. Er hatte nicht gewusst, wie durstig er gewesen war. Und als der erste warme Tropfen seine Zunge berührte, vergaß er, wovor er sich gefürchtet hatte. Das Blut schmeckte wie es schmecken sollte, reich und süß. Es pulsierte in seiner Kehle. Der Vampir atmete tief durch die Nase ein und erkannte den Geruch als das, was er von Anfang an gewesen war. Mit einem gierigen Laut trank er weiter, saugte den erschlaffenden Körper aus, bis der aus seinen Armen sank wie eine leere Hülle. Doch nicht wertlos, nicht vergebens gestorben. Der Vampir leckte sich die Lippen. Das war es, was gesucht hatte, was sie alle gesucht hatten. Die Seuche gab ihm, was er so lange vermisst hatte. Sie gab ihm das Leben zurück. Und mit dem Leben seinen Tod.

Freitag, 10. Dezember 2010

Gestrichener Abschnitt aus Spuren

Titel: Alternatives Ende
Autor: callisto24

* * *
„Weißt du noch, als wir zum ersten Mal hier waren?“
Ismael sah sich um. Sein Blick wanderte über die Wasseroberfläche, das tiefe Grün des Waldes und die sanfte weiche Oberfläche der duftenden Erde.
„Natürlich weiß ich das.“ Leon schüttelte den Kopf und legte sein Buch zur Seite. „Und ich habe schon damals nicht verstanden, was du so toll hier findest.“
Ismael lächelte. „Also trennen uns doch Welten.“
Leon sprang auf und legte ihm die Arme um den Hals. „Davon träumst du vielleicht.“
Ismael küsste ihn langsam. „In meinen Albträumen vielleicht“, murmelte er dann. Leons Hände wanderten an Ismaels Seiten hinab und er verhakte seine Finger in Ismaels Gürtelschlaufen. „Was redest du von Albträumen“, flüsterte er. Ismael lehnte seine Stirn gegen die von Leon. „Keine Albträume“, sagte er leise. „Keine Albträume, weil wir nie getrennt sein werden.“
Leon atmete aus. „Ich verlasse mich darauf.“
Ismael nickte leicht. „Und das kannst du auch.“ Er küsste Leons Wange und ließ seine Lippen dann in einer Linie Leons Hals hinab laufen, saugte dann leicht an der Haut am Nacken, bis Leon seufzte.
Der Jüngere wand sich aus Ismaels Griff. „Und wenn uns jemand sieht?“
Ismael lachte und fing ihn wieder ein. „An unserem geheimen Ort?“ Er küsste Leon erneut, ließ ihn dann los. „Und außerdem dachte ich, ich hätte dir schon bewiesen, dass es keine Geheimnisse mehr für mich gibt.“
„Das hast du.“ Leon schmiegte sich an ihn. „Trotzdem ziehe ich es vor, kein Schauspiel für Käfer, Mücken und Fliegen zu bieten.“
„Oder zufällig vorbeikommende Camper, nicht wahr?“
Leon lachte. „Ganz genau. Es reicht schon, wenn wir das gemütliche Leben in einer verschlafenen Kleinstadt durcheinanderbringen.“
Ismael schüttelte den Kopf. „Nur weil ein Geschäftsmann seinen Mitbewohner auf offener Straße auf den Mund küsst? Das sollte doch heute niemanden mehr schockieren?“
Leon gab ihm einen Klaps auf die Wange. „Vor ein paar Wochen hast du das aber noch anders gesehen.“
Ismael fing Leons Hand und presste sie gegen seine Lippen. „Vor ein paar Wochen wusste ich aber auch noch nicht, was ich jetzt weiß.“
„Und das wäre?“
Ismael sah ihn ernst an. „Dass das Leben kurz ist und kostbar. Und dass die Liebe zuzulassen unsere Herzen höher schlagen lässt.“
Leon knabberte an Ismaels Unterlippe. „Wenn du poetisch wirst, weißt du genau, dass ich dir nicht widerstehen kann.“
Ismael küsste Leons Ohr. „Und das war meine Absicht.“ Er ließ ihn los, um die Habseligkeiten einzupacken, die sie mit an ihren Angelplatz genommen hatten.

Sie küssten sich, als sie den Kofferraum ausräumten. Und sie küssten sich, als sie das Haus betraten. Das Leben lag in einer weiten Straße vor ihnen. Und nichts konnte ihnen etwas anhaben. Nicht in diesem Augenblick.
Bis es an der Tür läutete. Ismael stellte die Packung Brotstangen wieder ab und Leon stand mit der Flasche Wein, die er im Begriff war zu öffnen, an einer Seitenkommode.
„Ich mach schon“, lächelte Ismael, nichts anderes annehmend als den Besuch eines der Nachbarn, der vielleicht die Post vorbeibrachte. Nichts Schlimmeres erwartend als den Protest eines Menschen, der die Zuschaustellung ihrer Gefühle füreinander in den falschen Hals bekommen hatte.
Doch es war weder das Eine, noch das Andere, und Ismaels Mund klappte weit auf. „Das gibt es doch nicht“, entfuhr es ihm, als er hinter sich ein Klirren hörte. Er drehte sich um, und sah seinen entsetzten Gesichtsausdruck in Leon gespiegelt, der zudem die Flasche hatte fallen lassen, deren Inhalt sich über den Boden ergoss. Leon sah hinunter. „Tut mir leid“, murmelte er abwesend. Mit langsamen, traumwandlerischen Bewegungen legte Leon den Korkenzieher ab, und sank dann in die Knie, um die Scherben einzusammeln.
„Was willst du hier?“ Ismaels Stimme klang heiser, bevor er sich umdrehte, Angela stehen ließ, um Leon zu helfen.
„Ich fühle mich so schlecht wegen allem“, weinte Angela laut und trat ein, schloss sorgfältig die Tür hinter sich. „Es ist alles so furchtbar, und ich wusste mir nicht mehr zu helfen.“
Ismael sah von der Bescherung auf. „Du wusstest dir nicht mehr zu helfen?“, wiederholte er ungläubig.
„Ja“, schluchzte sie. „Ich habe euch im Stich gelassen. Und die Strafe holte mich ein.“
„Welche Strafe?“ Ismael schluckte und blickte auf Leon, der stumm zu Boden blickte.
„Er wollte mich nicht mehr“, weinte Angela wieder. „Er sagte, dass er mich loswerden muss. Und da wurde mir alles klar.“
„Was wurde dir klar?“ Ismael entwickelte langsam eine Vorstellung.
Angela trat ein paar Schritte auf sie zu, sah auf Leon, presste dann beide Hände gegen die Brust. „Mein Junge“, klagte sie. „Ich weiß jetzt, wie sehr ich an dir versagt habe.“
Leon sah nicht auf, aber dafür Ismael. „Das fällt dir reichlich früh ein“, brummte er ärgerlich.
Angela legte den Kopf schief und ihre Lippen bildeten einen Schmollmund. „Das ist nicht fair, Ismael“, sagte sie dann. „Ich bin eine Mutter. Du wirst nie verstehen, was Mutterliebe für mich bedeutet.“
„Oh Mann.“ Ismael stand auf, klopfte sich die Knie ab. „Du hast wahrscheinlich Recht. Und jetzt sag uns, was dich hierher führt.“
Angela blinzelte unsicher. „Mein Junge“, sagte sie dann. „Ich sorge mich um meinen Jungen.“
Leon räusperte sich, sah dann auf. „Mir geht es gut“, antwortete er leise. „Es ist alles in Ordnung.“
„Nun.“ Angela rang die Hände. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich mich davon überzeugen könnte.“ Ihr Blick fiel auf Ismael, der sie mit gerunzelter Stirn ansah. „Immerhin ist einiges geschehen. Und … und Leon lebt hier doch mit einem … einem Fremden sozusagen. Keinem Blutsverwandten.“
Ismael verdrehte die Augen. „Das meinst du jetzt nicht ernst.“
„Doch.“ Angela nickte heftig. „Die Familie geht über alles. Das wirst du erst verstehen, wenn du diese Erfahrung machst. Bedingungslose Liebe gibt es nur unter Verwandten. Eltern und Kind …“
Ismael hob seine Hand und schüttelte den Kopf. „Das reicht“, sagte er dann langsam. „Ich verstehe, dass du Leon im Stich gelassen hast. Und das nicht nur einmal. Er ist jetzt erwachsen und braucht dich nicht mehr.“
„Ein Junge braucht immer seine Mutter“, protestierte Angela.
„Nicht diese Mutter. Und nicht dieser Junge“, widersprach Ismael. Dann sah er Leon an, streckte seine Hand aus, die dieser ergriff und zog ihn hoch. „Leon hat jetzt mich“, sagte er dann. „Es wird ihm nichts mehr geschehen.“
Angela blinzelte. „Du kannst das Band zwischen mir und ihm nicht leugnen. Ein Leben hat uns zusammengeschweißt“, behauptete sie und nickte bekräftigend. „Du ahnst gar nicht, welche Albträume ich durchgemacht habe. Es war grauenvoll.“
Leon lachte plötzlich auf. „Albträume? Ich kenne Albträume. Wie sich das anfühlt weiß ich.“
Angela sah ihn an, schluckte. „Nicht wahr? Ich glaube, wir sind verbunden. Auf einer Ebene, die über das hinausgeht, was wir sehen und hören können.“
Ismael rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. „Was willst du wirklich?“, fragte er, auf einmal von tiefer Müdigkeit befallen. „Suchst du eine Bleibe? Ist es das?“
Angela wurde rot. „Wie kannst du nur so etwas denken? Es geht mir nur um Leon.“
Ismael schüttelte den Kopf. „Wo warst du dann, als er dich gebraucht hat?“
Angelas Gesicht gewann noch mehr Farbe. Ihr Mund klappte auf, aber nur ihr schnaufender Atem war zu hören.
Leon hob Ismaels Hand in seiner an und drückte sie dann sanft, bevor er zu ihm aufblickte. „Lass es gut sein“, sagte er dann und schüttelte den Kopf. „Das bringt nichts.“
„Was bringt nichts?“ Angela kniff ihre Augen zusammen, ging einen Schritt auf sie zu. Ihr Blick fiel auf die verschlungenen Hände und wurde starr. Sie sah zu Ismael auf, dann zu Leon und presste ihre Lippen zusammen. Angela räusperte sich trocken. „Das ist doch nicht wahr?“, murmelte sie. „Das ist doch krank.“
Leon fühlte, wie Ismael zurückzuckte, aber er hielt ihn fest. „Nein“, sagte er, leise genug, dass Angela sich anstrengen musste, aber laut genug, dass sie ihn verstand. „Das ist genau das, was ich will.“ Er sah zu Ismael hoch, dessen Augenlider flatterten. „Genau das“, versicherte er und lächelte, bevor er sich wieder zu seiner Mutter drehte und leicht seinen Kopf schüttelte. „Wenn du in Schwierigkeiten bist“, sagte er dann sanft, „dann bin ich sicher, dass Ismael nichts dagegen hat, wenn du hierbleiben möchtest. Aber deine Hilfe brauchen wir nicht. Nicht mehr.“
Angelas Unterlippe zitterte, als sie von einem zum anderen sah. „So ist das also“, flüsterte sie. „Das ist der Dank.“ Sie beugte sich vorwärts, barg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. Als sie keine Reaktion erfuhr, ließ sie die Hände sinken, starrte aus tränenlosem Gesicht auf die beiden Männer. „Es ist wohl mein Schicksal“, stieß sie mit gebrochener Stimme hervor. „Von der Welt verraten und im Stich gelassen. Mein eigener Sohn …“
Ismael seufzte leise. „Natürlich kannst du hier bleiben. Du bist Leons Mutter.“
Angela trat einen Schritt zurück, schüttelte wild den Kopf. „Ich denke gar nicht dran“, fauchte sie plötzlich. „Trotz allem was passiert ist, hätte ich nie gedacht, dass du … von allen Männern … du …“
Sie warf ihr Haar zurück und reckte das Kinn in die Höhe. „So schlecht geht es mir wirklich nicht, als dass ich mit euch …“ Sie verschluckte sich fast, hustete und sah sich dann hektisch um. „Das ist nicht meine Welt“, brachte sie hervor. „Nicht das.“
Leons Griff verstärkte sich, als Angela sich umdrehte, auf dem Weg zur Tür stolperte, sich jedoch sofort wieder fing und aus dem Haus, über den Kiesweg, in die Dunkelheit verschwand.“
Noch einen Moment nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, standen sie unbeweglich nebeneinander, bevor Ismael sich zu Leon umdrehte und ihn an sich zog. „Bist du in Ordnung?“, fragte er. Und Leon lächelte zu ihm hinauf. „Noch nicht“, antwortete er leise. „Aber ich werde es sein.“
Er lehnte seinen Kopf an Ismaels Schulter und ließ es zu, dass Ismaels Lippen sich in seinem Haar verirrten.

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Frühlingserwachen - Zeit

Titel: Frühlingserwachen
Autor: callisto24
* * *

Es war kalt.
Und beängstigend langweilig.
Temotas hatte nicht erwartet, dass die Ewigkeit derart öde sei. Wie lange er bereits unter der Erde lag, wusste er selbst nicht, jetzt nicht mehr. Hunderte, tausende von Jahren waren vergangen. Vielleicht addierten sich die Zeiträume zu unendlichen Vielfachen, vielleicht stellte sich jeden Augenblick heraus, dass es sich lediglich um Bruchteile von Sekunden handelte. Für ihn spielte weder die eine noch die andere Alternative eine Rolle. Seine Entscheidung war endgültig gewesen. Endgültig und unverrückbar.
Seine Trauer überwältigend genug, seine Flucht eine logische Konsequenz.
Niemals wieder wollte er zurückkehren an die Oberfläche, in eine Welt, die ihm alles versagte. All das, was für ihn Bedeutung hielt.
Dass er nicht immer so empfunden hatte, gehörte zu dem, was er als die Tragödie seines Lebens bezeichnete, besäße er noch den Ehrgeiz, der ihn in seinen jungen Jahren, im Anschluss an seine Erschaffung, angetrieben hatte. Einen Wahn, so nannte er es später. Den Rausch, der ihn dazu trieb, immer wieder weiter zu gehen, als erlaubt, weiter, als die mit der Verwandlung zwangsläufig auf kaum erkennbare Spuren ihrer selbst geschrumpfte Moral, ihm zu seinen Lebzeiten erlaubt hatte.
Und später, als der Rausch verflogen war, stand er starr und stumm vor den Trümmern, die er zurückgelassen, die er aus heilen Welten erschaffen hatte.
Vergessen war die Poesie, an die er sich in seinem Wahn geklammert hatte. Ins Nichts sank der Machtrausch, der nicht enden wollende Ehrgeiz, immer wieder von neuem angestachelt durch die Erkenntnis seiner eigenen Unbesiegbarkeit. Wie besessen hatte er seine Jugend verschwendet, im Überschwang der Kräfte, die sich in ihm entfalteten und die zu beschreiben, ihm auch jetzt noch die Worte fehlten.
Damals stand er am Anfang, so wie die Menschheit sich an ihren Anfängen befand. Weder wusste er, was er war, was ihn trieb, noch war er in der Lage, seine Bedürfnisse zu steuern. Er wusste nur, dass sich keiner der Sonnenwandler mit ihm messen konnte. Durch ihre schäbigen Ansiedlungen fuhr er wie ein Gewitter, nur schneller und verheerender. Seine eigene Stärke, die Geschwindigkeit beglückten ihn und die Zeit verflog in einem Strom aus warmem Blut, köstlichen Düften und schrillen Schreien. Als er zur Ruhe kam, war er sich immer noch seiner Stärke und seiner Macht bewusst. Er begann zu beobachten. Die minderwertigen Lebensformen, die Sonnenwandler, veränderten sich. Während er der Gleiche blieb, unverändert jung und hart, entwickelten sie Form, Gestalt und Manieren. Und als sie nicht mehr dabei verharrten, ängstliche Zeichen in schmutzige Höhlenwände zu kratzen, als sie Schönheit entdeckten und ihren Welten Farbe verliehen, da spürte Temotas seine Macht auf eine gänzlich andere Art und Weise. Sein Leben veränderte sich. Er war gezwungen, Vorsicht walten zu lassen. Worte wurden zu Nachrichten, verbanden die Menschen miteinander und forderten ihn heraus. Er genoss das Spiel mehr als je zuvor. Er genoss es, aus dem Verborgenen heraus zu operieren, genoss es, sie hinters Licht zu führen und zugleich zu beeindrucken. Niemand, dem er je begegnet war, konnte Temotas für den Rest seines Lebens aus seinem Verstand verbannen. Niemand zeigte sich gegenüber seiner Wirkung immun.
Doch er wollte mehr. Seine Gier kannte kein Ende und so suchte er den Ruhm, obwohl er wusste, dass seine Suche nur zu stärkeren Ausbrüchen von Wahnsinn, Ehrgeiz und letztendlich roher Gewalt führte. Vielleicht auch genau aus diesem Grund.
Die Schönheit, die er im Aneinanderreihen von Worten, in der Sprache entdeckte, befriedigte ihn auf lange Sicht ebenso wenig wie die in der Musik enthaltene oder in jeglicher anderen Kunst erreichbare. Und über kurz oder lang fielen den Menschen, die mit den Jahrhunderten auch an Verstand zu gewinnen schienen, die Kleinigkeiten auf, die er sowohl zu verbergen, als auch zu verdrängen suchte. Nie zuvor hatte ihn seine Unfähigkeit, den Tag zu sehen, gestört. Er hegte die Erinnerung an die Sonne aus den Tagen, bevor er erwacht war, wie einen Schatz. Jedoch einen, der unangetastet bleiben sollte.
Er versuchte zu kompensieren, tötete öfter, wütete haltloser in den inzwischen gesichtslosen Mengen seiner Bewunderer. Doch nur, um aufzuwachen und sich wieder auf der Flucht zu befinden.
Die Welt veränderte sich und sie schrumpfte zusehends.
Temotas stellte fest, dass seine Worte leere Hülsen blieben, dass er nichts in sie hineinlegen konnte, bald auch nicht mehr wollte.
Er suchte das, was die Sonnenwandler Gefühle nannten und begann zu glauben, dass ihre Fähigkeiten, die Geheimnisse, die er sich als unfähig erwies zu entschlüsseln, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Sonnenlicht standen.
Und im Laufe der Jahrzehnte, der Jahrhunderte verfestigte sich diese Überzeugung, wuchs sich aus zu einer regelrechten Besessenheit.
Er beobachtete interessiert Entstehung und Verfall immer wieder anderer und doch gleich auftretender Religionen, Philosophien und der vergeblichen Versuche, Sinn und Unsinn der Welt, des Universums zu erklären.
In keiner von ihnen fand sich ein Platz für ihn, in keiner entdeckte er einen Grund, der ausreichte, sein Dasein verlängern zu wollen.
Nun wurde ihm seine Unverwundbarkeit zum Fluch.
Der Vampir suchte nach Seinesgleichen, er jagte nach einem Wesen, das ihn ergänzte, das ihm die Kraft lieferte, gegen die Sinnlosigkeit zu kämpfen, die ihn umgab, die von allen Seiten auf ihn zu kroch, ihn umfing und in sich einschloss.
Allmählich musste er erkennen, dass ihm die Fähigkeit zur Liebe fehlte, zu jenem Maß an gleichzeitiger Selbstaufgabe und Lust am Miteinander, welches die Menschen zu trösten schien, wenn die Jahre, die aus seiner Sicht nur so im Flug vergingen, sich ausdehnten, mit Elend und jenen entsetzlichen Schmerzen füllten, von denen er keine mehr Vorstellung besaß. Und es begann eine Zeit, in der er die Menschen um den Schmerz beneidete, dessen schwacher Nachklang aus seiner Erinnerung verschwunden war. Denn er begann zu glauben, dass Schmerz und Liebe sich ergänzten, und dass er, dem beides fehlte, einen Verlust erlitt, der über die Jahrtausende nur schwerer zu ertragen war.
Dennoch suchte er weiter nach ihr, nach dem Schlüssel, der ihm ein neues Reich eröffnen sollte, das Reich, von dem Mythen und Legenden sprachen, während er durch die Dunkelheit schlich, ausgestoßen und einsam.
Aus seinem Zeitalter gefallen und unfähig, in dem neuen zu erkennen, was andere Wesen in ihm sahen.
Mag sein, dass er bereits zu lange existierte, dass jede Verbindung mit dem Rest der Welt, wenn denn je eine existiert hatte, unterbrochen war.
Die Besessenheit wurde zu der Suche nach seiner Liebe als letzten Ausweg. Geprägt von den Geschichten, denen er von Anbeginn der Zeit an, beim Vorübergehen an Lagerfeuern, Festen der Mächtigen und der Ohnmächtigen gelauscht hatte, glaubte er sich verloren ohne einen Konterpart zu seiner eigenen Person. Eine fixe Idee, die der immer wiederkehrenden Romantik, marterte ihn und dennoch erlaubte er sich nicht, die Flamme erlöschen zu lassen, als handele es sich bei ihr um die letzte Faser, die ihn an sein Universum band.
Manches Mal stand er kurz davor zu erkennen, dass die Poesie, der er sich einst verschrieben hatte, dass jegliche Kunst die Wurzel des Übels bedeutete. Dass er seiner Obsession nur nicht entfliehen konnte, weil er an sie glauben wollte.
Daran glauben, dass es mehr gab, als den Durst und diesen zu löschen. Mehr als die Selbsterhaltung, als das instinktive Bedürfnis, die eigene Existenz soweit auszudehnen, wie es nur möglich sein sollte.
Er durchstreifte die Kontinente, vergeblich. Selbst wenn einst Kreaturen existiert hatten, die ihm glichen, so war es keiner von ihnen gelungen, den Wandel der Zeiten zu überstehen.
Die Erkenntnis traf ihn nicht plötzlich. Sie wuchs langsam in ihm, verfestigte sich, je öfter er einer Gestalt hinterher jagte, die mit ihrer Blässe, der hochgewachsenen Figur und der Angewohnheit unauffällig wie ein Schatten durch ihr Leben zu gehen, Hoffnungen in ihm entfachte, die zwangsläufig wieder enttäuscht werden mussten.
Es waren traurige, einsame Seelen, denen er folgte, denen er auflauerte, und von denen er sich ernährte, als sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten. Schwache Sonnenwandler, die sich ihrer eigenen Bestimmung widersetzten und die Nacht suchten, obwohl ihnen so viel mehr offenstand.
Erkannte er ihr Innerstes, so brandete Ärger in ihm auf, erhitzte für einen kurzen Augenblick die Kälte, die ihn umschloss.
Er flüchtete sich in Raubzüge, in Bluttaten und Massenmorde, die Wellen schlugen, vor deren Auswirkungen er sich noch lange in Acht nehmen musste.
Doch nichts mehr konnte ihm die Begeisterung seiner Jugend zurückgeben, die Hoffnung entfachen, die er vergeblich gehegt hatte. Und als ihm klar war, wie verloren, wie allein und wie erbärmlich seine Existenz in den Augen der Welt, aller Welten erscheinen musste, da begann er zu bereuen.
Die Reue überfiel ihn grausam und er floh vor ihr, indem er weiter mordete.
Doch als das Töten seinen Reiz verlor, als er seine eigene Hülle kaum noch ertragen konnte, wie sie vor Blut triefend und mit Schuld beladen durch eine Nacht schlich, die mit ihren neuartigen Lichtern und Geräuschen keinen Platz mehr für ihn hatte, da erkannte er die letzte Wahrheit.
Seinen Ausweg, den einzigen Weg, der sich ihm bot.
Konnte er nicht vernichtet werden, so war er gezwungen, sich selbst zu vernichten. So weit zu vernichten, wie es ihm möglich war. Seinem Gram zu gehorchen und die Strafe anzunehmen, von der er immer gewusst hatte, dass sie auf ihn lauerte.
Er wanderte lange, bis er den richtigen Ort fand, bis er durch die Höhlen schritt, die einsam und leer auf ihn gewartet hatten. Und bis er damit begann, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, sich in die Tiefe zu wühlen. Und immer trug er das Gefühl in sich, als beobachte ihn jemand. Eine Macht, größer als er. Doch er konnte nicht herausfinden, ob sie ihm wohlwollend oder verärgert zusah. Und so schloss er sie aus, konzentrierte sich auf die Erde, den Widerstand, der sich nur allzu leicht für ihn durchbrechen ließ. Wie durch Butter glitt er durch die Masse, rutschte tiefer, bis er nicht mehr wusste, wo und wann er begonnen hatte.
Erst in diesem Augenblick schloss er seine Augen und wurde still, still für eine Ewigkeit.
Sein Körper fühlte sich starr und klamm an, tot und erloschen. Im Widerspruch zu der Kälte, die ihn beherrschte, stand nur noch Geist, seine Gedanken, die nicht aufhören konnten zu wandern.
Was hätte er darum gegeben, auch seinen Geist sterben zu sehen, die endlose Folge sich aneinanderreihender Worte, die durch seine Nervenbahnen taumelten zu unterbrechen, ein für allemal zum Schweigen zu bringen?
Doch es sollte nicht sein. Der einzige Weg, der ihm blieb, lag in einem Rückzug, dem ultimativen Rückzug, dem Selbstbegräbnis. Es sollte den Hunger stillen. Den Hunger nach dem, was er einst Leben genannt hatte. Nach der Sonne, dem Licht, der Leidenschaft. Einen Hunger, den er nur noch stillen konnte, indem er die Letzte aller unverzeihlichen Sünden beging.
Und so lag er nun begraben, klaftertief unter schwerer, dunkler Erde. Stumm und reglos, der lebende Tote, der er war.
Der Albtraum sollte niemals enden. So sah sein Plan aus.
Temotas ahnte nicht, zu keiner Zeit, dass sein so sorgfältig und entschlossen gefasstes Vorhaben auf Widerstände traf, die er nicht voraussehen konnte. So tief er sich auch in den Erdboden gewühlt hatte, tief genug, um von der Wärme des Erdinneren verbrannt zu werden, es reichte nicht aus. So unerträglich auch das Gewicht der zahllosen Gesteins- und Bodenschichten auf seinem Körper lastete, ihn zusammenpresste und verformte, es war nie genug.
Er dachte, er hätte sich an die Last gewöhnt, an die Hitze, an den Druck. Doch er wusste nichts von den Veränderungen, die sich um ihn herum, mit ihm in ihrer Mitte, abspielten. Die Erde bewegte sich, sie wanderte. Die Elemente drifteten auseinander und wieder zusammen. Sie zogen ihn mit sich, schoben und zerrten. Doch im endlosen Fluss der Zeit und gefangen in seiner Schuld, spürte er davon nichts. Er vegetierte dahin, besessen nur von dem einen, dem unerfüllbaren Wunsch nach dem Ende.
So fühlte er nicht, dass sein Körper über die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte in die Höhe trieb. Er spürte nicht, dass er der Oberfläche näher kam. Die neue Kälte, die in seine Glieder kroch, akzeptierte Temotas als willkommene Qual, als weitere Strafe für seine Sünden.
Doch die Langeweile wuchs sich zu einem anderen, einem weitaus größeren Problem aus. Die Langeweile und die Geräusche, die von Zeit zu Zeit an seine Ohren drangen. An jene Ohren, die verstopft von Erde und Sand, doch in ihrer übermenschlichen Fähigkeit begannen, Laute wahrzunehmen, auf die er sich, obwohl eingehüllt in den Nebel seines eigenen Leids, keinen Reim machen konnte.
Die Jahre vergingen, und sie wurden schwieriger zu ertragen mit jeder Minute, mit jeder Sekunde. Doch Temotas erkannte die Versuchung, und er widerstand ihr. Wie er es dereinst geschworen hatte.
Er existierte nicht, durfte nicht existieren. Sein Wesen war verloschen und das, was davon übrig war, sollte von niemandes Auge je wieder erblickt werden.
Augen waren es auch nicht, die ihn erblickten. Anderes, seltsames Leben bemerkte ihn dennoch. Sich tief im Inneren der Erde windende Kreaturen von geringem Verstand. Das Hindernis, auf das sie in ihrem Überlebenskampf stießen, hielt sie nicht davon ab, aus ihrer Welt das herauszuholen, was in ihrer Macht stand. Sie gaben nicht auf, ergaben sich nicht, bis sie verendeten und wieder zu dem wurden, woraus sie entstanden waren.
Nur Temotas nahm nicht Teil an diesem Kreislauf. Er überdauerte, lag reglos in seinem Gefängnis, wartete, ohne zu wissen, worauf er wartete.
„Was bist du“, fragte die Stimme. „Rau und heiser erklang sie tief in Temotas Geist. „Was willst du, das ich sei?“, antwortete Temotas stumm und erschrak zugleich. Viel zu lange hatte er auf kein Zeichen mehr reagiert; was war es, das ihn nun bewog, sich zu erkennen zu geben?
Er öffnete seine gelben Augen nur einen Spalt, genug, um sich zu vergewissern, dass er immer noch inmitten der Erde, von Erde umgeben war.
Ein seltsames Tier befand sich vor seinem Gesicht. Weder weiß, noch durchsichtig, in Gestalt und Farbe dazwischen liegend, bewies es doch eine ausgeklügelte Angepasstheit an seinen Lebensraum. Weder Wurm, noch Made und doch die Vorzüge jedes dieser Wesen in sich vereinend, wand es sich um Brocken verschütteten Gesteins.
„Was bist du?“, fragte es erneut.
„Ich bin nicht“, antwortete Temotas.
„Aber ich spüre dich“, sagte das Wesen. „Ich spüre deine Angst.“
„Ich kenne keine Angst“, sagte Temotas.
„Und doch versteckst du dich hier“, erwähnte die Stimme. Temotas schloss seine Augen und verwandelte die Laute in körperloses Rauschen.
Doch so leicht ließ das Wesen sich nicht abweisen. „Und doch versteckst du dich hier“, wiederholte es und Temotas öffnete seinen Augen wieder. Zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit spürte er ein Gefühl in sich aufwallen. Funkelnder Ärger kroch an die Oberfläche seines Körpers, setzte sich auf die kalte Haut, sandte elektrische Impulse durch seine Glieder.
„Ich verstecke mich nicht“, brachte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich bin kein Feigling.“
Das Wesen näherte sich. Es glitt an ihn heran, um ihn herum, befeuchtete seine Ohrmuschel, wisperte in seinen Nacken, bis Temotas erschauerte.
„Warum siehst du dir dann nicht an, was um dich herum vorgeht?“, flüsterte es verlockend.
Temotas versteifte sich. „Weiche von mir.“ Der ausgesandte Strahl seiner Gedanken glich einem Schwert, bereit das Wesen zu zerteilen. Sein Herz, das so lange gefroren in seiner Brust geruht hatte, zitterte vor unterdrückter Wut. „Du hast kein Recht, mich in meiner Ruhe zu stören.“
„Aber du ruhst nicht“, flüsterte das Wesen wieder. „Du bist nicht tot, nicht einmal annähernd.“
„Ich bin nicht tot“, wiederholte Temotas. „Woher willst du das wissen?“
Die Kreatur stieß einen Laut aus, der beinahe einem Lachen ähnelte. „Weil ich den Tod erkenne. Ich weiß, was mit dem geschieht, was verscheidet. Ich sehe, wie es stirbt, verrottet, zerfällt, sich verwandelt. Du unterliegst keinem Wandel.“
Nun spürte Temotas, wie das Wesen über seine knochige Brust kroch. Er fühlte jede Rippe, die unter ihm nachgab, jeden Muskel, jede Sehne, die durch seine Berührung erwachte.
Temotas hörte die Stimme wie ein Krächzen in seinem Kopf. „Seit Jahrhunderten bleibst du unverändert, lässt dich treiben, ignorierst das Werden und Vergehen um dich herum.“
„Alles vergeht, sobald ich es berühre“, entgegnete Temotas. „Es gibt keine Rettung, keinen Ausweg. Das Sterben umgibt mich wie ein Mantel, es strahlt aus, vernichtet jeden Keim, der es wagt, mir unter die Augen zu treten.“
„Das ist nicht wahr“, wisperte die Kreatur. Sie glitt wieder an ihm hoch, benetzte sein Gesicht mit schleimiger Substanz. Angeekelt wich Temotas zurück, wand seinen Kopf. Heißer Schmerz schoss in ihm hoch, brachte ihm jede Faser seines Körpers ins Bewusstsein. Seine Wirbelsäule ächzte und sein Hals fühlte sich an, als wäre er durch die ungewohnte Bewegung gerissen. Und doch fiel ihm jetzt, und erst jetzt auf, dass die Erde, in der er lag, eine andere war.
Zu tief, zu lang hatte er in ihr geruht. Nichts war ihm zu seiner Unterhaltung geblieben, außer die Muster der namenlosen Schichten, die von einer Vergangenheit sprachen, die bereits in die Ewigkeit eingegangen war, noch bevor er geboren wurde. Nichts anderes hatte er gewollt, außer der toten, leeren Erde.
Nur, dass diese nicht mehr tot war. Etwas entstand in ihrer weichen, saftigen Masse. Feine Wurzeln kletterten einer Zukunft entgegen, die Temotas nicht sehen, von der er nichts wissen wollte.
Seine Organe, obgleich ausgedorrt und vertrocknet, revoltierten. Sein Inneres geriet in Bewegung. Ihm wurde schlecht von dem, was er zu sehen glaubte.
„Das kann nicht sein“, keuchte er. „Ich bin zu tief. Ich habe zu weit gegraben. Kein Leben darf mich stören.“
„Denkst du, ich sei kein Leben?“ Schmeichelnd klang die Stimme diesmal, erfüllt von unausgesprochenen Versprechungen.
„Du bist…“ Temotas schwieg. Er wusste nicht, welch eine Kreatur es war, die ihn aus seinem starren Schlaf zu erwecken suchte.
„Kein Leben“, vervollständigte er den Satz. „Du bist etwas anderes.“
„Wie Recht du doch hast“, zischte die Stimme in sein Ohr. „Ich bin etwas anderes, ebenso wie du. Und für uns beide gilt die gleiche Regel, das gleiche Schicksal.“
„Das denke ich nicht.“ Temotas knirschte mit seinen Zähnen, fühlte wie sie sein schmerzendes Zahnfleisch versuchten, zum Bluten zu bringen. Vergeblich, da jeder Tropfen bereits in die dunkle Erde gesackt war, jede Kraft aus ihm gestorben.
„Sieh doch!“, lockte die Kreatur. „Es ist nicht mehr weit. Dein Schlaf ist beendet, dein Traum ausgeträumt.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, wehrte sich Temotas und schloss wieder die Augen. Doch er konnte nicht verhindern, dass seine Sinne erwachten, dass er spürte, wie sich um ihn herum, jede Zelle teilte. Wie sich das mikroskopisch kleinste aller Wesen an ihn schmiegte, wie Samen aufsprangen, Keime sich in die Höhe reckten, einem Ziel entgegen, das er nicht sehen konnte.
„Wie kann das sein?“, flüsterte er. „Du weißt nicht, was du tust?“
„Ich weiß, was ich tun muss.“ Die Kreatur kroch an ihm herab, hinterließ schmerzende Spuren auf seinem Körper. „Du bist weit genug gekommen. Nun gibt es kein Zurück.“
„Ich habe mich nicht bewegt“, sagte Temotas. „Seit Jahrhunderten nicht mehr.“
„Du nicht“, wisperte das Wesen. „Doch alles um dich herum befindet sich in ständigem Fluss. Und nun bist du in meiner Welt. Hier musst du mir gehorchen.“
„Wer bist du?“, fragte Temotas.
Das Wesen kicherte, diesmal hell und schaurig. „Manche nennen mich Persephone“, hauchte es, bis er jede Silbe in seinen Eingeweiden spürte. „Ich bringe das, was tot erscheint, zurück ins Leben.“
„Ich kann nicht zurück“, krächzte Temotas. „Ich darf nicht.“
„Das ist nicht mehr unsere Entscheidung“, erwiderte Persephone. „Verstorbenes verwandelt sich. Noch bevor die Kälte der Wärme weicht, wissen die Kräfte, die uns bestimmen, von der Aufgabe, die vor ihnen liegt. Und aus dem Starren, Schlafenden wird Bewegung, entwickelt sich ein neues Sein. Jedes Mal anders, jedes Mal neu und doch jedes Mal wild und schön.“
„Doch bin ich kein Teil davon“, sagte Temotas. „Was du erschaffst, töte ich von neuem.“
„Alles stirbt“, sagte Persephone. „Alles muss sterben.“
„Wir nicht“, antwortete Temotas. „Wir gehören nicht dazu.“
„Woher willst du das wissen?“ Persephone schlängelte sich an seinem Körper hoch, presste ihre Weichheit gegen seine Härte.
„Auch wir haben unseren Teil auszuführen. Eine Aufgabe, eine Bestimmung.“
„Du vielleicht“, wisperte Temotas und umschlang sie mit seinen tauben Armen. „Meine Bestimmung ist dieses ewige Grab.“
„Dann hat deine Bestimmung sich verändert“, murmelte Persephone und ihr mundloser Körper küsste seinen Hals.
„Das ist nicht möglich“, dachte Temotas. „Das will ich nicht, ich kann nicht.“
„Doch, du kannst“, antwortete Persephone. „Du bist stark. Du bist wieder jung, du wirst die Welt mit neuen Augen sehen.“
„Meine Augen sind der Welt müde“, erwiderte Temotas. „Es existiert nichts auf Erden, das sie nicht schon zu oft gesehen, zu oft vernichtet haben.“
„Du erinnerst dich nicht an den Zauber der Nacht“, schmeichelte Persephone. „Du erinnerst dich nicht an die betäubenden Düfte der ersten Blüten des Jahres. Weißt du nicht mehr, wie das junge Grün deine Sinne erfüllt, wie der Regen zarter Apfelblüten dein Herz zum Schlagen brachte? Kurz nur, so kurz. Ein widernatürliches Ergebnis überschäumender Emotion. Weißt du nicht mehr, wie das milchige Mondlicht die zarten Opfer erster Frühlingsnächte umfließt? Wie ein funkelnder Stern, wie die Hoffnung, der Trieb die Menschen aus ihrem Schutz lockt? Weißt du nicht mehr, wie herrlich es ist, zur Jagd zu erwachen?“
Temotas Brust hob sich. Seine Lungen rasselten. Beinahe schmeckte er die Süße dieser ersten Tage, in denen die Kälte vergeblich um ihre Vorherrschaft kämpfte, doch dann weichen musste, der Kraft einer lebenerschaffenden Sonne. Einer Sonne, die er nie sehen würde.“
„Ja“, sagte er. „Ich weiß noch, wie es war. Wird es wieder so sein?“
„Besser“, versprach ihm Persephone. „Viel besser.“
Und mit ihr in seinen Armen grub er sich der Nacht entgegen. In seinen Ohren rauschten der Hunger, die Sehnsucht, das Wissen um den Tod, den seine Rückkehr brachte.
Und als der Vampir unter der Kuppel des dunklen Himmels verharrte und seine gelben Augen zu den Gestirnen wandern ließ, da roch er stärker noch, als jede Ahnung frühlingshaften Erwachens, das pulsierende Blut der Menschen, die ihm zur willigen Nahrung werden sollten. Er ließ Persephone los, die mit einem heiseren Stöhnen an ihm herabglitt.
„Du hattest Recht“, sagte der Vampir zu ihr. „Wir alle müssen sterben.“ Und seine Zähne blitzten auf, bevor er sie in ihr versenkte.




Ende

Fremd

Titel: Fremd
Autor: callisto24
* * *
Nichts ist so wie es erscheint. Die Welt unter Münchens leuchtender Decke splitterte sich auf in unzählige Facetten und nur eine einzige davon gehörte zu ihm. Eine der Welten, die Menschen wie ihn umschlossen, einschlossen, Menschen, die keine Heimat mehr hatten, die vor Armut oder Verfolgung flohen und ohne Chance auf Asyl ihr Leben im Dunst des Illegalen verlebten, war seine.
Warum auch, so fragte er, sollte er nicht das Recht besitzen, sich sein Leben nach eigenen Maßstäben einzurichten. Wie jeder andere es durfte, jeder, der in einem freien Land lebte. Warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, das Glück zu suchen und zu finden?
Auch wenn nichts dem Bild glich, das man ihm vom Paradies gemalt hatte. Manchmal lachte er fast, dachte er daran. Doch nur fast.
Wie naiv doch die Sicht aus seiner Welt auf die erschien, in der er jetzt lebte.
Sicher, er hatte es geschafft, er konnte sich glücklich schätzen. Selbst jetzt, mit dem Wissen von allem, was ihm fehlte, der festen Überzeugung, dass er niemals dazugehörte, dass er ohne Papiere ein stetes Leben auf der Flucht vor dem Gesetz führte, fiel es ihm nicht ein, seine Entscheidung auch nur eine Minute lang anzuzweifeln.
Auch wenn sein Leben in nichts dem derer glich, die von ihm nichts wussten. Jenem Teil der Bevölkerung, der sich nicht fragen musste, wann er entdeckt und über die Grenze katapultiert, manövriert oder geschifft wurde.
Jenem, der es nicht gewohnt war, dass sein Gegenüber die Augen niederschlug, noch bevor er ihm beweisen konnte, dass er selbst dem Blick jedes anderen aus reiner Notwendigkeit auswich.
Schwer war es. Aber er war jung. Und sie waren Freunde. Sie wussten von seiner Schüchternheit. Sie wussten, dass sie ihn schubsen mussten. Also schubsten sie, bis er auf diese Frau traf. Diese Frau, die sie ansah, die sie alle musterte. Und die lächelte.
Fremde Frauen in einem fremden Land, hellhäutig und geheimnisvoll. Und betrunken. Denn auch dies war ein Teil des Luxus, der gleichzeitig anzog und abstieß. Manchmal war es nicht schlecht zu wissen, dass die Sprache, in der sie sich unterhielten, nicht verstanden wurde.
Und sie fühlten sich gut. Es war einer dieser Abende, in denen sie sicher sein durften.
Der Dezember bot so viele Möglichkeiten, sich in der Anonymität der Stadt zu verlieren. Die Menschen trugen einen seligen Ausdruck freudiger Erwartung in ihren glänzenden, hellen Gesichtern, oder sie wirkten verloren in der Hektik der Festtagseinkäufe, stürmten an Menschen, an Wundern vorbei, ohne sie zu registrieren, die Lippen verbissen zusammengepresst. Manche drängten sich rücksichtslos vorwärts, jagten einem unerreichbaren Ziel hinterher.
Selten, dass jemand sich die Zeit nahm, den Glanz und den Schmuck offen zu betrachten. Selten, dass jemand lächelte.
Nicht einmal zu einer Zeit wie dieser. Nicht einmal am Abend, der doch dem Ausklang eines Tages gewidmet sein sollte.
Mit einem staunenden und einem ungläubigen Auge beobachtete er, wie die Menschen sich an den duftenden und funkelnden Buden vorbeileiten ließen. Er bemerkte wie sie sich selbst die Zeit stahlen, dass einmal kurz innezuhalten den Preis bereits in sich trug.
Er verstand nie, warum sie ihn bezahlten, warum sie Tag für Tag mit diesen leeren Gesichtern durch eine Welt hetzten, die eigentlich so viel besser sein sollte als seine.
Sie kleideten sich dunkel und grau. Sie trugen ihre schlechte Laune vor sich her wie einen Schild. Sie ehrten und verehrten die Depression, die sie zwischen den Steinklötzen festhielt. Doch wer war er, um darüber zu urteilen? Untergehen in der Menge bedeutete auch den Abschied von den Farben, die trotz des Verfalls, des Schmerzes und den Drohungen, die seine Heimat überschatteten, wie frohe Tupfer dem Bösen zu widerstehen suchten.
Aber frohe Tupfer passten nicht in diese Welt. Und so wurden sie auch zu einem Teil der Gesellschaft, an der Oberfläche.
Und leichter als jeden anderen konnten sie diese Frau täuschen. Er ahnte, dass sie ihn für ein Symbol verwehender amerikanischer Besatzungstruppen hielt, dass der Schein ihm half, in den Augen der westlichen Welt akzeptiert zu werden.
Die Frau ging an ihnen vorbei. Sie lachte nun, hinein in ihre Tasse, deren Inhalt noch ein wenig dampfte. Ihr Atem war in der Kälte zu sehen und dennoch hatte sie den Mantel aufgeknöpft, den Schal gelöst.
Er fror genauso wenig wie sie und es wunderte ihn. Eigentlich sollte er frieren, kannte es fast nicht mehr anders in diesen Monaten, in der kalten Jahreszeit.
Nicht dass es eine Rolle spielte. Nicht für ihn.
Trotz der fehlenden Sonne, trotz der trüben Grundstimmung spürte er die Bemühungen und die gelegentliche Liebe, die in manchen Ecken und Winkeln aufflammte. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, ob missverstanden oder initiiert, spielte keine Rolle. Das Leben war kurz und grausam. Es konnte jederzeit und überall enden. Er hatte seinen Teil gesehen und nicht vor, den Moment, der ihn anlachte, aufzugeben.
Er war bereit, das Weihnachtsfest zu feiern, wie er es nicht kannte. Anders und erfüllt von Gold und Silber. Mit Düften und Lichtern, optisch überwältigenden Eindrücken, mit jedem einzelnen Schritt.
Nicht in der Hütte, die sich als Kirche ausgab. Nicht unter brennender Sonne und mit dem Schall der Gewehre im Hintergrund.
Er hatte etwas, dieser Markt am Marienplatz. Strukturiert wirkte er, perfektioniert und durchdacht. Geordnet und geregelt. Sicher und vertrauenerweckend.
Pausbäckige Menschen hinter glänzenden Schmuckstücken, die keinen Sinn ergaben. Rotgesichtige Frauen in dampfenden Würstchenbuden. Handschuhe und Mützen, tief über die Ohren gezogen im Hintergrund der dicht an dicht gehängten Strohsterne.
Dazwischen Moderne, Musik in CD-Form, Lichterketten, die aussehen wollten, als tropften in regelmäßigen Abständen Eiszapfen von ihnen herab. Überhaupt die merkwürdigsten und verrücktesten Lichter. Sie blinkten und blitzten, verteilten grellen Schein in unterschiedlichen Farben.
Und doch war es nicht so, als wundere er sich darüber, was Weihnachten in dieser Stadt bedeutete. Er hatte nicht viel gesehen, wenig mit Ausnahme des Wohnheims, in dem er lebte, den Ecken, in denen man sich traf um über die wenigen Möglichkeiten zu sprechen.
Aber was er von der Stadt sah, in den Momenten wie diesen, in denen sie feierte oder zu feiern versuchte, schien der Absicht zu dienen, einem allgegenwärtigen und andauernden Tief zu entfliehen.
Manchmal und unerwartet durchstreiften zunehmend wunderliche und beinahe bunte Erscheinungen die Straßen. Frauen in Kleidern, die ihn an eine Tradition erinnerten, mit der er nichts anzufangen wusste. Männer mit Hüten und Lederhosen, die so überhaupt nicht in das Bild der Busse und Bahnen passen wollten.
Ebenso wie dieses kurze Aufflammen exotischer Ausgelassenheit mutete die unzusammenhängende Pracht, die nun an Hauswänden prangte, sich über die Gassen verteilte und zwischen den Gebäuden drängte, wie eine Maske an, die tieferliegende, schlummernde Krankheiten überdeckte. Seuchen und Plagen, die nicht erwähnt wurden, schon gar nicht zu einer Zeit der Feste.
Die Sinne wollten betäubt werden, und Sinne wurden betäubt.
Wie sie, die Frau den Markt umkreiste, sah es aus, als sei ihr schon seit geraumer Zeit gelungen, die Sinne erfolgreich zu betäuben.
Ein letzter Blick zu den anderen und er folgte ihr. Was geschah war eindeutig. Sie war immer wieder gekommen, hatte Blicke auf ihn geworfen, auf seine Leute. Nur um weiterzugehen mit langsamen, wiegenden Schritten, den Griff fest um die Tasse mit der Silhouette der Stadt darauf, in deren Zentrum sie sich befanden.
Einmal noch sah er sich um, sah wie die anderen lachten, wie sie ihm zunickten.
Vielleicht war es das. Vielleicht lebten die Frauen hier so, frei und unkompliziert. In einer Welt, deren Mechanismen ihm fremd waren.
In das kalte Wasser zu springen entbehrte nicht eines gewissen Reizes. Und so fand er sich wieder, Schulter an Schulter mit ihr. Sie gingen ein Stück nebeneinander, bevor sich ihre Augen trafen und sie blinzelte. Aber das war in Ordnung. Sie konnte seinen Blick nicht aushalten und er ihren genauso wenig. Aber er konnte weitergehen.
Für einen Augenblick zweifelte er daran, dass sie ein Ziel hatte. Ihr Gang wirkte unstet und verschwommen. Ihre blauen Augen hohl, wenn sie an ihm vorbei starrten.
Und doch wusste sie genau, wohin sie ging. Das Zentrum reichte ihr nicht aus. Sie suchte die Mitte von allem. Den Baum, der vor dem Rathaus aufragte.
Verharrte neben der Mariensäule, eines der Gebilde dieser Stadt, das zugleich Zauber und Kitsch war. Dann sah er in den Baum. Und er ahnte, was sie fühlte. Sie, die still und steif neben ihm stand, die Augen nach vorne gerichtet, als versuche sie die Lichter vor sich zu hypnotisieren. Vielleicht wollte sie eines von ihnen bewegen, zum Aufleuchten oder zum Erlöschen bringen.
Eine Krone der hiesigen Schöpfung, die Kommerz und die Gier nach Geld begonnen hatte, bildete dieser riesige Baum vor dem Rathaus, dicht bestückt mit funkelnden Glühbirnen, die je nach Stand des Alkoholpegels eines Betrachters mehr oder minder munter flackerten.
Er spürte, wie er Gefahr lief, sich bei ihr zu infizieren, von ihrem Wahnsinn zu schmecken. Sie liebte diesen Baum, unabhängig davon, woher er stammte, welch großzügige Gemeinde ihn stiftete, unabhängig davon, welche Höhe, Breite, Zweck und Ziel oder Glühweine er mitbrachte.
Sie liebte es, an ihm vorbeizulaufen, sich unter dem hohen gotischen Eingang in den Rathaushof hindurch zu ducken, die Vorstellung zu leben, sie befände sich inmitten einer Festung aus alter Zeit. Und so zog sie ihn mit sich in eine andere, eine gänzlich andere Welt.
Er zuckte zusammen, als er ihre Hand an seinem Ärmel spürte, als sie ihn durch einen Eingang führte, den er mied. Zu offiziell, zu gefährlich dieses Zeugnis städtischer Direktive.
Sein Herz klopfte schneller, als über ihm die fremdartigen Weisen ertönten, ihn zusammenzucken ließen. Seltsame, unverständliche Hymnen, getragen und traurig, gesungen von hohen Stimmen, die durch Lautsprecher verstärkt von Balkonen des Gebäudes klangen.
Sie schien sich nicht daran zu stören. Im Gegenteil. Sie strahlte, als sie den Durchgang passiert hatten und sich im Innenhof des Rathauses befanden. Nur dass es noch weniger wie ein Rathaus aussah, als bisher.
Der Innenhof war im Lichte und Klang der Festivitäten vergleichbar mit einer Burg, geheimnisvoll, dunkel, erhaben und schön. Eine Burg, so wie er sie nur aus den Medien kannte. Wie sie zur Geschichte dieses Landes, dieses Teiles der Welt gehörte. In der es kalt war, und abweisende Bauwerke aus schwerem Stein zum Leben gehörten.
Zu kalt. Sie entfloh ihm wieder und er floh mit ihr. Und fand sich wieder umgeben von Licht und Musik, dem Treiben des Christkindlmarktes, den Düften der Leckereien, die es nur zu dieser einen Zeit des Jahres genossen wurden.
Er sah sie an, und sie lachte. Sie sah jünger aus, als sei es ihr gelungen, einen Zauber wieder neu zu kreieren, den sie verloren geglaubt hatte.
Und in diesem Moment wusste er, dass sie nicht aufgab, dass der Zauber der Münchner Weihnacht den Höhepunkt ihres Jahres darstellte, den Gipfel ihrer Wünsche. Selbst wenn sie sich dazu zwingen musste, in der Zeit zurückzuwandern.
Sie lächelte. Sie lächelte wieder. Sie trank und ging. Sie verschwamm im Anblick des glitzerenden Baumes. Sie blinzelte gegen die funkelnden Lichter, den grellen Schein der Stände.
Bis er sie einholte. Und sie mitnahm.
Blicke sagten mehr als Worte und das nicht nur, weil Worte nicht ausreichten. Sie verstand nicht, er verstand nicht und doch folgte sie ihm. Es war beinahe beängstigend.
Eine besondere Nacht, eine der einsamen Weihnachtsnächte, während derer Menschen in der Großstadt anders handeln als sie gewohnt sind. Nächte, die gefährlich und doch spannend sind. Während derer die Zwischenräume sich gleichermaßen vergrößern und zusammenschrumpfen. Während derer Schritte zu Entfernungen werden, die glitzernde Märchenwelten von trostlosen Seitenstraßen trennen, von Vierteln, in denen Geheimnisse wohnen.
Und nur manchmal getraut sich jemand die Grenze zu überschreiten. Nur in bestimmten Nächten. Nur wenn das Risiko unwichtiger erscheint, als das Abenteuer.
Wie merkwürdig es doch war, dass sie ihm folgte. Wie unverständlich und doch wie passend. Ein Weihnachtsgeschenk, das ihm, fern der Heimat in den Schoß fiel.
Bis zuletzt glaubte er, dass sie sich von ihm abwende, dass sie sich umdrehe und davon liefe. Ob sie selbst nicht mehr wusste, wie sie den Weg zurück fände. Oder ob das Gebäude, in das er sie lotste, nicht nur für seine Begriffe einem wahren Palast glich im Vergleich zu den Unterkünften, die er sonst bewohnte, darüber hatte er nicht vor nachzudenken. Nicht, als sie sich bereits aus ihrem fleckigen Mantel geschält, das im erbarmungslos elektrischen Licht strähnig wirkende Haar zurückgestrichen und nach der Flasche gegriffen hatte, die er neben seinem stolzesten Besitz aufbewahrte.
Das Licht des Fernsehers waberte in bläulichen Streifen durch den Raum, als sie wieder zu sich kam. Vielleicht riss auch die Panik, die aus ihm strömte, die Frau aus ihrer Bewusstlosigkeit, in die sie nicht unerwartet gefallen war, betrachtete er den schmalen Streifen Flüssigkeit, der in der einst gefüllten Flasche zurückgeblieben war.
Als sie blinzelte, versuchte er zu fragen, ob es ihr gut ginge. Sein Herz pochte ahnungsvoll im Angesicht der Schwierigkeiten, die er vorhersah, in die er sich geritten hatte. Und nicht nur sich, auch die anderen. Jeden, der sich so wie er hier aufhielt.
Sie öffnete die Augen und fasste sich an die Stirn, als er ihr das Blut zeigte. Doch ihre Antwort bestand nur in einem Nicken und dem Lächeln, das ihm nun, im Licht des grauenden Morgens, hohl und nichtig erschien.
Und dann verschwand sie und er konnte sie nicht aufhalten, wusste nicht einmal ob er dies wollte.
Sie war fort und das war gut.
Und wie hätte er auch ahnen können, dass der Kreis damit nicht geschlossen war, dass die Reise erst begann. Dass nichts auf dieser Welt ohne Folgen blieb.
Folgen von denen er erst so viele Jahre später erfuhr. Folgen, die ihn gleichzeitig verstörten, erfreuten und mit Stolz erfüllten.
Er konnte nicht anders, er rief sie an.
Längst ausgewichen, als es eng wurde, längst dem Zugriff der Behörden entschwunden und sich dort niedergelassen, wo andere Behörden mit weniger Chancen die Suche nach ihm und seinesgleichen gelegentlich aufgaben.
Aber er rief an. Und er dachte an München. An das Zimmer, in dem er gewohnt hatte, an den Fußballplatz, an die Arbeit. Er dachte an München zur Weihnachtszeit. An den riesigen Baum, unter dem sie stand, duftend nach Gewürzen und Glühwein. An die Exotik, die sie verströmte, an die Unmöglichkeit, ihren Wortschwall zu verstehen, selbst als sie dann nüchtern gewesen war. Und wie er sich bemüht hatte, wie er ihre Telefonnummer bekam. Wie er sie wieder und wieder anrief. Wie er hartnäckig blieb. Bis sie sich auf ihn einließ, nur um ihn dann wegzustoßen. Ohne ihm mitzuteilen, dass er damals in München mehr zurückgelassen hatte, als ein Leben, das besser sein sollte, als das Leben in Hitze, Armut und Gewalt, vor dem er geflohen war. Dass er ein Leben gezeugt hatte, das ein Bindeglied sein konnte zwischen einer Welt an der Oberfläche, die er nie verstünde, so sehr er sich auch bemühte, und seiner Welt der Verborgenheit, des ewigen Suchens und Versteckens, der Unsicherheit, die nie endete, unabhängig davon wie glanzvoll eine Stadt in der Weihnachtszeit wirkte.