Titel: Vampir
Autor: callisto24
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Der Geruch war ihm unbekannt. Hin und wieder nahm er ihn wahr und konnte nicht anders, als zuzugeben, dass er ihn verstörte. Etwas Neues und nicht unbedingt Angenehmes addierte sich zu dem Duft, der ihn für gewöhnlich lockte. Der ihn mit jedem Schlagen eines Herzens lockte, das sich in seine Nähe wagte. Jenes Schlagen, das heiße, süße Ströme Blutes durch feste Adern beförderte und das ihm wie die herrlichste Musik in den Ohren klang. Nicht nur, wenn er trank. Seine Welt beherrschte dieser Klang, das regelmäßige Pochen, das köstlich erschien, ob es nun ruhig und regelmäßig oder aufgeregt und flatterhaft ertönte.
Über Jahrhunderte hatte er sowohl die Laute, als auch die Düfte genossen, die ständig variierten, aber dennoch nie so grundsätzlich voneinander abwichen, dass es ihn verschreckte.
Doch in diesem Jahrhundert entwickelte sich eine neue Seuche. Und der Vampir roch sie, schmeckte sie im Blut seiner Opfer. Sicher, sie konnte ihm nichts anhaben. So wie ihm nie zuvor eine Krankheit etwas hatte anhaben können. Infektionen, Schäden an Körper oder Geist, wuchernde Gewächse an jedem nur existierenden Organ, waren für ihn nie etwas anderes gewesen, als die pikante Würze, die eine notwendige Abwechslung in seinem sonst eintönigen Dasein verkörperte. Nichts davon hatte ihn jemals irritiert, nichts ihn abgestoßen.
Natürlich war er es gewohnt, sich im Verborgenen zu halten. Seine Aktivitäten, seine Gewohnheiten, seine Bedürfnisse vor der Welt zu verstecken, war wichtiger als jeder Luxus, als jede Lebensqualität es sein konnte.
Und so verhielt er sich schon immer eher praktisch als abenteuerlustig, eher vernünftig, als genussorientiert.
Er brauchte nicht viel. Geschichten von Vampiren, die dem Reichtum frönten, belächelte er insgeheim. Viel Fantasie war nicht vonnöten, um zu erkennen von wem sie ersonnen waren. Nur ein Mensch konnte sich vorstellen, dass die Aufmerksamkeit, die ein Leben in Wohlstand mit sich zog, Halt machte bei der Frage nach näheren Umständen. Und allzu genau brauchte keiner seiner Art betrachtet zu werden, bis offensichtlich wurde, dass er nicht von dieser Welt war. Dass ihn etwas Dunkles, etwas Böses umgab. Ein Hauch von Tod und Mord schwang mit jedem ihrer Schritte und weder Blindheit noch taube Ohren konnten die Erkenntnis verschleiern. Eine Ahnung reichte aus, ein Windstoß, ein winziger Gedanke in die richtige Richtung und die Wahrheit kam ans Licht. Unweigerlich und ohne dass einer der ihren es verhindern konnte.
Doch einen Trost gab es. Ebenso wenig wie seinesgleichen ihr wahres Wesen verbergen konnte, ebenso wenig konnte der Mensch den köstlichen Duft seines Blutes verbergen, konnte er den Geschmack verschleiern, der jedem Vampir auf der Zunge lag, gelangte er auch nur in die Nähe. Hörte er das sanfte Klopfen und das gleichmäßige Strömen des Lebenssaftes, nach dem er gierte.
Keiner von ihnen konnte sich beherrschen, wenn eine Distanz überschritten wurde, die von einer Macht höher als sie alle, festgelegt worden war.
Und so blieb es am sichersten, wenn er sein Jagdgebiet in eine Gegend ausdehnte, in der dem einzelnen Opfer, dem einzelnen Menschen wenig bis keine Beachtung geschenkt wurde. Über eine lange Zeit war es kein Problem gewesen. Die Nachrichten verbreiteten sich schleppend, Unglücke geschahen und wurden durch göttliche Gewalten erklärt. An der Aufklärung waren die wenigsten interessiert, noch erkannten sie die Möglichkeiten für eine solche.
Doch mit der zunehmenden Vernetzung, erschwerten sich die Bedingungen für ihn und seinesgleichen und sie waren gezwungen sich mehr und mehr zurückzuziehen. In Länder, die noch nicht so erschlossen, nicht derart kontrolliert geführt wurden. In denen es nicht möglich war, jeden einzelnen Menschen aufzuführen, zu notieren und zu katalogisieren.
Diese Länder wurden weniger. Aber sie verschwanden nicht. Eine große Hilfe waren ihm wie immer die Kriege, derer die Menschheit nie überdrüssig wurde. Bürgerkriege, innere Unruhen und Flüchtlingsströme boten ihm eine besondere Auswahl an Leckereien.
Und er dankte seinem Schicksal, das diese Welt zu einem grausamen und rücksichtslosen Ort gemacht hatte, zu einem Paradies für Wesen, dominiert von Bedürfnissen, die in die Dunkelheit gehörten.
Auch wenn er sich der Unstimmigkeiten hin und wieder bewusst wurde, die nicht nur ihn in eine Welt trieben, die ohnehin von Gewalttätigkeit regiert wurde. Als ob das Grauen sich selbst anzog, so wandelte er auf ausgetretenen Pfaden, betrachtete aus sicherer Entfernung den Schrecken, der sich vor ihm abspielte, während er geduldig auf seine Stunde wartete. In welcher er der dem Grauen einen Gipfel verlieh, von dem sich die durch Angst und Schrecken gemarterte Bevölkerung keine Vorstellung bildete. Und selbst wenn, dann bezweifelte er, dass sich der Terror vergrößern ließe unter dem sie litten.
War er wirklich um so vieles schlimmer wie sie oder das, was sie sich gegenseitig antaten?
Der Vampir gehorchte nur seinem Durst. Ihn trieben keine Beweggründe wie Machthunger oder Gier. Seine Grausamkeit lag in der Notwendigkeit. Er tötete vielleicht nicht schnell, vielleicht nicht schmerzlos, aber er tötete nicht um der Schmerzen willen. Er quälte und folterte nicht. Es fiele ihm nicht ein zu vergewaltigen oder zu verstümmeln. Er war anders, ein anderes Wesen, und hin und wieder fühlte er sich dem Menschen überlegen. Fühlte sich besser, als dieser es war. Reiner und ehrlicher. Und wenn es einen Gott gab, so nähme dieser den Vampir in sein Himmelreich, bevor er einen Gedanken an den Menschen und die Abgründe, die der in sich trug, verschwendete.
Doch als der Vampir den neuen Geruch bemerkte, fühlte, wie er sich entfaltete und verbreitete und seine Folgen zu Gesicht bekam, das Leid, das er mit sich brachte, da erkannte er, dass der Mensch mehr Gründe für sein Verhalten besaß, als er geglaubt hatte.
Der Mensch wurde geboren um zu leiden, der Schmerz begleitete seinen Weg. Und dieser Weg endete zwangsläufig in Qualen. War es wirklich so unverständlich, dass der Mensch für seine Qual, für seine Angst und für seinen Schmerz ein Ventil suchte? Und dies in einem anderen Menschen fand und in dem, was der ihm geben konnte? Ob es sich nun um Schmerzensschreie oder sinnlos vergossenes Blut handelte. Blut, das die Erde tränkte, auf der ein Sieger tanzte. Sich für einen Augenblick nur unsterblich wähnte.
Bis zu einem gewissen Grad konnte der Vampir verstehen, was in dem Menschen vorging. Der Kampf, der sein Überleben war, ließ ihm keine Atempause und führte ihn durch sein eigenes Elend. Ein Elend, das er glauben musste, nur abwenden zu können, indem er es anderen auferlegte. Anderen, die er als nicht zugehörig empfand. Nicht zu sich selbst, nicht zu seinem Clan.
Und darin lag der Vorteil des Vampirs. In den Löchern dieses Netzes konnte er verschwinden und wieder auftauchen. Lücken nutzte er, Haltlosigkeit, die ihm zum Vorteil geriet.
Viel Mühe war nicht vonnöten. Viel gehörte nicht dazu. Er griff zu, wenn ihn jemand verlockte, wenn er Hunger hatte, und ließ die Reste liegen, ohne dass es jemanden interessierte. Nicht in einem Maße interessierte, dass er sich darüber Sorgen zu machen hatte.
Bis der Duft auftauchte. Der strenge Beigeschmack, die neue Krankheit, die um sich griff. Die in rasender Eile durch das Land zog. Durch die Länder, denn der Vampir erweiterte sein Jagdgebiert. Dem Geruch zu entgehen war eine Sache. Die Ursache aufzuspüren eine andere.
Je weiter der Vampir dem Kontinent entfloh, in dem er den Duft zum ersten Mal bemerkt hatte, desto seltener fing er ihn auf. Fast begann er sich sicher zu fühlen. Doch die Zeit verging und die Seuche breitete sich aus. Der Vampir empfing den Geruch nun überall, egal wohin er floh. Ein beißender Geschmack bildete sich in seinem Mund, je öfter er auf einen Menschen traf, der sich infiziert hatte. Er wurde den Geschmack nicht mehr los. Die Welt verkleinerte sich. Fluglinien verbanden jeden Winkel mit dem anderen. Schiffe trugen den Duft von Kontinent zu Kontinent, bis niemand mehr verschont blieb.
Und der Vampir begann, sich verfolgt zu fühlen. Die Orte, an die er sich zurückziehen konnte, seine Verstecke schwanden dahin. Inzwischen glaubte er, den Geruch überall zu bemerken, fürchtete ihm nicht wieder entkommen zu können.
Sicher gab es immer noch andere Menschen, andere Opfer. Süß und verlockend duftende Exemplare, deren reines Blut seinen Hunger stillte. Doch konnte der Vampir nicht anders, als sich bei jedem Menschen, den er verfolgte, den er jagte, zu fragen, ob er den Keim bereits in sich trug, der seine Innereien vergiftete. Paranoia, so nannte er es selbst, ein Wahn, dem er unterlag, wenn er glaubte, die Warnung nicht rechtzeitig empfangen zu können. Seine feinen Sinne trogen ihn nie, schon immer hatte er sich auf sie verlassen. Es gab keinen Grund, sie jetzt anzuzweifeln.
Und doch fühlte er die Wellen des Giftes in der Atmosphäre. Eingesperrt in der einen Welt, die auch für ihn kein Entkommen bereithielt, wurde es schwieriger, dem Geruch aus dem Wege zu gehen. Er war überall. Und auch, wenn er ihn nicht spürte, so konnte er ihn doch erahnen. Allein das Wissen um seine Existenz quälte und verängstigte den Vampir auf eine neue, nie zuvor erlebte Weise.
Mit keiner anderen Woge zu vergleichen, die über Jahrhunderte die Massen an schwachen Menschen verschluckt hatte, traf dieser Duft einen Nerv, von dem der Vampir nicht gewusst hatte, dass er oder seinesgleichen ihn noch besaßen. Weder die Pest, noch Cholera, Typhus, Lepra oder die unzähligen anderen Schreckgespenste, vor der die Menschheit sich in Sicherheit zu bringen suchte, hatten ihn je derart beeinträchtigt.
Der Vampir war schlichtweg überfordert. Und während der wenigen Treffen, die ihn mit anderen Vampiren zusammenbrachten, bemerkte er, dass er mit seinen gemischten Emotionen nicht alleine stand. Kaum jemand sprach darüber. Die Vampire unterhielten sich ohnehin selten miteinander. Noch viel verschwiegener zeigten sie sich, wenn etwas sie beunruhigte. Und doch spürte jeder von ihnen die Bedrohung, sei es, dass sie auch nur in dem tiefen Bedürfnis bestand, sich von dem Duft fernzuhalten.
Selbstverständlich besaß jeder von ihnen die Möglichkeit, gefahrlos die neue Blutsorte zu testen. Zumindest glaubten sie, dass keine Gefahr bestünde. Wenn ihnen keine andere Seuche etwas anhaben konnte, kein Schmerz, der den Menschen qualvoll dahinsiechen ließ, sich über sein Blut auf einen unzerstörbaren Vampir übertrug, so sollte auch eine neue Entartung des für ihre toten Körper überlebenswichtigen Saftes, keinen Schaden bringen.
Und doch beschlich den Vampir, je länger und gründlicher er sich mit der Frage auseinandersetzte, je intensiver er in den Gehirnen der Seinen forschte, eine namenlose Furcht. Ein Unbehagen, das sich steigerte, als sich die Überzeugung herauskristallisierte, dass keiner von ihnen jemals von dem Blut derer gekostet hatte, die den Duft verströmten. Es existierten keine Daten, niemand wusste Genaues, niemand wagte es, Forschungen anzustellen.
Die Angst, die er verspürte, Angst vor dem Unbekannten, die Vampire teilten sie. Der Geruch der Seuche stieß sie ab und vor die Wahl gestellt, zogen sie sich vor ihr zurück. Sie griffen nach den Menschen, deren Geschmack sie kannten, deren Duft unbefleckt und gewohnt in ihre Nasen drang. Das stechende Aroma der Infizierten hielt jeden einzelnen ab, sich sein Opfer unter den Erkrankten zu suchen.
Gut, dass sie wenige waren. Gut, dass es ihnen nicht schwer fiel, sich aus dem Weg zu gehen und ihre Jagdgebiete auszudehnen. Schwieriger wurde es, doch nicht unmöglich. Immer noch fanden sich Zentren der Gewalt, die unbelastet blieben von übermäßiger Kontrolle. Zentren, die wie geschaffen waren, um sich an ihnen gütlich zu tun, um die Zähne in williges Fleisch zu schlagen, bis der letzte Atemzug gehaucht war. Auch wenn die Krankheit überall bestand, so fanden sich immer Exemplare vertrauter Konsistenz und Ausdünstung zwischen den wandelnden, stinkenden Leichen.
Den Vampiren war Schuld fremd, es spielte keine Rolle, dass sie die letzten resistenten Exemplare aus einem Moloch der Verdammnis zerrten. Die Welt war immer noch unüberschaubar groß, eine Festtafel, auf der sie selbst neben vielen Seuchen Platz fänden.
Sie sahen zu, wie die Krankheit Menschen dahinraffte, andere geboren wurden. Die Gattung auszurotten schien schon immer unmöglich. Keine Kraft, der sie sich bewusst waren, hatte jemals vermocht, ihr einen größeren Schaden zuzufügen, als sie selbst imstande wären. Letztendlich trugen die Vampire selbst auch kein Interesse daran, die Menschheit zu vernichten. Ebenso wenig wie die Seuche davon profitieren sollte, sich ihren eigenen Nährboden zu zerstören.
Wenn der Vampir darüber nachdachte, so fragte er sich, ob die Seuche vielleicht eine ähnliche Liebe zu den Menschen verband, wie er sie in sich trug. Eine Liebe, die nicht nur von dem köstlichen Geschmack herrührte, mit dem sie ihn verlockte, der seinen Mund und seine Nase zu füllen imstande war wie nichts Vergleichbares, und die zu dem Kostbarsten gehörte, dessen er sich entsinnen konnte. Vielleicht lag darin der Grund. Vielleicht verlieh die Krankheit den Menschen ihren stechenden, beißenden Geruch, um sie damit für sich zu behalten, um sicher zu stellen, dass keiner von ihnen, keiner, der sich auf die profane und schlicht brutale Art der Vampire von den Menschen ernährte, sie für sich beanspruchte. Als versuchte die Seuche den Mensch, der sie befiel nicht nur zu vergiften und ihm das Leben zu rauben, sondern auch noch daran zu hindern, dass ein übernatürliches Wesen an seiner Lebenskraft sauge.
Der Vampir wanderte durch die Nacht. War es wirklich so unklug, so unvorsichtig, den eigenen Instinkten zuwider zu handeln, wie die anderen ihm klarzumachen suchten?
Er empfing ihre Gefühle, ihre Gedanken, vernahm ihre Warnung so deutlich, als gingen sie direkt neben ihm. Und doch war er nicht bereit, auf sie zu hören. Es war leicht, ihre Stimmen auszublenden, leichter noch, da er die vergangenen Jahrhunderte nichts anderes getan hatte. Er wollte nicht glauben, dass eine vage Bedrohung alleine ausreichte, um seinesgleichen wie eine Schar aufgeschreckte Schafe zusammenzutreiben. Dass der Gestank genug war, ein starkes, unverwundbares Geschlecht in Angst und Schrecken zu versetzen, dazu zu bringen, ihre natürliche Sehnsucht nach Einsamkeit aufzugeben um gemeinsame Zuflucht zu suchen.
Der Vampir hatte nicht vor, ein Teil dieser Farce zu werden. Und er hatte nicht vor, noch länger dabei zuzusehen, wie die Welt sich in einen stinkenden, üblen Ort verwandelte, die ihm seinen Lebensraum nahm. Wenn es nicht anders ging, dann sorgte er selbst für die Ausrottung der Seuche. Wenn es sein musste, dann würde er jeden Infizierten töten und die Überlebenden dazu bringen, ihre gesunden Blutlinien fortzuführen.
Doch was wenn nicht? Der Vampir blieb stehen. Handelte es sich nicht um ein Zeichen von Schwäche, wenn er es zuließ, dass ein einfacher Geruch ihn abstieß? Ein Duft, der nicht mehr war als Luft, flüchtig und vergänglich. So ganz anders als er selbst, dem nichts und niemand je etwas anhaben konnte.
War es nur das Unbekannte, was sie alle fürchteten? Lag ihre Angst darin begründet, dass sie nicht wussten, wie es sich auswirkte, sollte einer von ihnen über die Grenze treten, sollte wider seine Gefühle handeln.
Der Vampir straffte seine hagere Gestalt. Vor langer Zeit schon hatte er aufgehört zu kämpfen, doch das bedeutete nicht, dass er es vergessen hatte. Er erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, sich selbst zu überwinden. Dem Bedürfnis zuwider zu handeln, der Verlockung zu widerstehen, um einen Schritt vorwärts zu wagen.
Es war soweit, er ginge vorwärts. Weder wollte er das Unbekannte, das ihn beunruhigte, ausrotten, noch vor ihm fliehen.
Sich mutig dem Neuen in den Weg stellen, von der Gefahr zu kosten und einen fremden Weg zu beschreiten, das hatte sein Blut in Wallung gebracht, als er noch ein Mensch gewesen war. Als sein Herz pumpte und das Adrenalin in ihm tobte. Beinahe glaubte der Vampir auch jetzt das Adrenalin zu spüren, wie es sich seinen Weg durch vertrocknete Kanäle suchte.
Er setzte sich wieder in Bewegung. Doch diesmal wich er dem Gestank nicht aus, er suchte ihn.
Und er fand ihn. Die angstvollen Schreie seiner Gefährten klangen ihm in den Ohren, doch er weigerte sich, inne zu halten, beugte sich über das ärmliche Strohlager und sah in die großen, furchtsamen Augen, die aus dem hageren Gesicht hervortraten.
Das Herz seines zukünftigen Opfers flatterte. Der Vampir hörte es wie einen kleinen Vogel in seinem hageren Brustkorb schlagen. Er roch das vergiftete Blut, fühlte, wie es in den Adern rollte, schwach und dennoch blieb es Blut. Der Vampir schnupperte. Und je stärker er sich konzentrierte, umso deutlicher empfing er die Süße des roten Saftes, nahmen seine Geruchsknospen den reinen, unverfälschten Geschmack unter dem Deckmantel des fauligen Eiters wahr.
Da war er wieder, der Hunger. Seine Lust stieg, Wärme umfing ihn mit jedem Atemzug seines Opfers.
Der Kranke blinzelte. Erschrocken, aber nicht ängstlich. Als wüsste er wie ihm geschah. Als habe er auf ihn gewartet.
„Bist du der Tod?“, fragte er den Vampir. Der stockte noch vor dem letzten Kuss.
„Nur, wenn du dir das wünscht“, antwortete er schließlich und sein Opfer schloss die Augen.
„Nein“, sagte es. „Aber ich wusste, dass du zu mir kommst.“
Die dünnen Lippen des Vampirs verzerrten sich zu einem Lächeln, bevor er sie auf die kalte, schweißnasse Haut presste. Der Gestank stieg ihm zu Kopf, verwirrte seine Sinne, und der Vampir klammerte sich an die süße Note, die ihm vertraut war, die sein Opfer immer noch ausströmte. Scharfe Zähne durchbrachen das Fleisch und der Vampir begann zu trinken. Er hatte nicht gewusst, wie durstig er gewesen war. Und als der erste warme Tropfen seine Zunge berührte, vergaß er, wovor er sich gefürchtet hatte. Das Blut schmeckte wie es schmecken sollte, reich und süß. Es pulsierte in seiner Kehle. Der Vampir atmete tief durch die Nase ein und erkannte den Geruch als das, was er von Anfang an gewesen war. Mit einem gierigen Laut trank er weiter, saugte den erschlaffenden Körper aus, bis der aus seinen Armen sank wie eine leere Hülle. Doch nicht wertlos, nicht vergebens gestorben. Der Vampir leckte sich die Lippen. Das war es, was gesucht hatte, was sie alle gesucht hatten. Die Seuche gab ihm, was er so lange vermisst hatte. Sie gab ihm das Leben zurück. Und mit dem Leben seinen Tod.
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