Titel: Appetitlich
Autor: callisto24
* * *
Diesmal musste es klappen. Hilde war fest entschlossen, sich keine Schwäche mehr zu erlauben. Jahr für Jahr das gleiche Spiel. Der Frühling folgte auf einen Winter, in dem sie sich von Festtag zu Festtag gehangelt hatte und in der Zwischenzeit jeden kühlen Luftzug als Ausrede für eine warme Mahlzeit, eine heiße Schokolade oder eine cremige Suppe benutzte. Und mit den ersten warmen Sonnenstrahlen folgte unweigerlich die Ernüchterung, wenn die im vorigen Sommer noch perfekt sitzende Hose auf einmal an den Hüften spannte.
Jedes Jahr von neuem die Garderobe zu erneuern war nicht nur mühsam, sondern auch noch teuer. Und wie Hilde es auch drehte und wendete, die zusätzlichen Pfunde wirkten sich auf ihr Selbstvertrauen alles andere als positiv aus.
Aber damit war nun Schluss. Ab jetzt wurde abgenommen. Und wie.
Hilde hatte nicht vor, sich auch nur eine Schwäche zu erlauben. Nicht eine kleine. Andere hatten das auch geschafft. Es kam nur auf die Willensstärke an. Schluss mit den komplizierten Diät-Versuchen, die sie sich aus Zeitschriften ausschnitt und sorgfältig zusammenheftete. Nur um dann Unsummen auszugeben für Hüttenkäse, Kräuter, das trockene Knäckebrot, für das geworben wurde. Sie schnitt, wusch, hobelte und arbeitete sich einen Wolf bei der Zubereitung komplizierter und angeblich gleichermaßen gesunder wie wohlschmeckender Mahlzeiten. Ausgewogen und dennoch kalorienarm sollten sie Wunder wirken, Hilde in eine elegant dahinschwebende Elfe verwandeln, die zudem auch völlig frei von Hungergefühlen glücklich durch den Tag tanzte.
Natürlich funktionierte es nicht. Und natürlich waren die Selbstvorwürfe das Schlimmste, die sich unwiderruflich einstellten, wenn sie nach wenigen Tagen der Geschmacks- und gewürzfreien Gerichte überdrüssig, sich mit einem Schokoriegel in einer Ecke wiederfand.
Vielleicht folgten die Depressionen ihrer Schwäche, vielleicht stellten sie sich aber auch schon aufgrund des ständigen Kampfes gegen den Appetit ein, der während jeder ihrer Diät-Anfälle den größten Teil von Hildes Energie fraß.
Es kam also – und so hatte sie eindeutig und von ganzem Herzen beschlossen – darauf an, ihre Energie daraufhin zu fokussieren, nichts zu essen. Und damit meinte Hilde auch nichts. Ihre Freundinnen, ihre Familie waren allesamt vorgewarnt und hatten nach einigem Sträuben zugestimmt, sie nicht mit Einladungen und Versuchungen zu quälen. Hildes Tagespläne standen, ihre Routen, die große Bögen um Bäckereien, Konditoreien und andere Quellen der Versuchung schlugen und sie trotzdem zu ihren Zielen fühlten, waren festgelegt und Hilde verbrachte die letzten Tage des Winters damit, sich mental auf die bevorstehende Fastenkur vorzubereiten. Einen letzten nicht gerade bedauernden Gedanken schickte Hilde noch an die hohen Summen, die sie für Diäten ausgegeben hatte, die in fertigen Dosen oder Gläsern einher kamen und ihr beim Erwerb suggerierten, dass allein der Anblick die Kilos schwinden ließ. Natürlich halfen auch die darin enthaltenen Pülverchen nicht weiter, weder ob sie als Brei, als Suppe, Pudding oder Diätdrink verabreicht wurden. Hilde endete doch immer wieder mit dem obligatorischen Schokoladenriegel und der Schale Chips.
Auch damit hatte es nun ein Ende. Hilde hatte genug gehört, gelesen und sich selbst zusammengereimt, um davon überzeugt zu sein, dass in der Nulldiät die Zukunft lag. Ihre Zukunft. Und welche Zeit wäre besser geeignet, als der Frühling, um mit einer Unternehmung wie dieser zu starten?
Alles blühte, alles grünte und die ersten Sonnenstrahlen wärmten genug, um das leise Frösteln, das dem Verzicht auf Nahrung nur allzu oft folgte, zu übertünchen.
Einziges Problem in Hildes ansonsten so durchdachten, notwendigen und sinnvollen Plan trat ihr in Gestalt von Stefan entgegen. Stefan, Hildes Freund seit zwei Jahren und der Einzige, der ihren Träumen vom Erreichen des Wunschgewichts aktiv entgegentrat.
Unglücklicherweise konnte sie ihn nicht davon überzeugen, dass ihr persönliches Heil und Glück in einem schlanken Körper wohnte. Und insgeheim befürchtete Hilde von Zeit zu Zeit, dass es Stefans Absicht war, sie als die dralle, unauffällige Brünette zu behalten, die weit davon entfernt war, die Blicke anderer männlicher Wesen auf sich zu ziehen.
Nicht dass Hilde vorhätte, Stefan zu hintergehen. Nichts läge ihr ferner. Und doch wünschte sie sich, wie ihrer Meinung nach jede Frau sich wünschte und wie es zur Natur von Evas Geschlecht gehörte, ein wenig die Verführerin sein zu dürfen, als die sie geboren war.
Ohne Konsequenzen selbstverständlich, lediglich als Beweis dafür, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehörte, dass sie jung genug war, um auf Männer zu wirken, sie zu verwirren und auf ihre Weise anzuziehen.
Dieses Gefühl vermisste Hilde seit geraumer Zeit, um ehrlich zu sein, bereits seit Jahren. Und sie vermisste es schmerzlich.
Es stellte die Art von Selbstbestätigung dar, die Hilde ansonsten nirgendwo erhalten konnte, und die ihr auf eine merkwürdige, wirre und unlogische Weise mehr bedeutete, als jeden Erfolg, jedes Lob, das sie in ihrem Beruf erzielte.
Himmel, sie war nicht alt. Sie war eine junge Frau. Und auch wenn sie sich an Stefan gebunden hatte, so bedeutete das noch nicht das Aus für jeden angedeuteten Flirt, für jedes noch so kleine Amüsement.
Nur dass diese Flirts ungewollt wegfielen, dass sie nicht einmal annähernd in der Lage war, die Augen eines beliebigen Mannes, der sie zudem an sich nicht im Geringsten interessierte, auf sich zu fesseln. Und dieser Mangel an Interesse schmerzte von Jahr zu Jahr stärker.
Es half nichts, die Sache musste in Angriff genommen werden, und Hilde fühlte sich willens und in der Lage, diese auch in Angriff zu nehmen.
Natürlich verhielt sie sich nicht dumm oder gar selbstzerstörerisch. Die notwendigen Vitamine und Mineralstoffe lagen in Tablettenform bereit. Kalorienfreie Suppen und Diätsäfte sollten das ausgeklügelte Heilfasten begleiten.
Und als spirituelle Begleitung hatte Hilde sich die eine oder andere CD meditativer Gesänge angeschafft.
Auch wenn man alles andere außen vorließ, so handelte es sich bei der Fastendiät doch um eine ausgesprochen preisgünstige Form des Überlebens. Und das bedeutete, dass durchaus der eine oder andere Cent übrig blieb, mit dem sie sich Dinge leisten konnte, auf deren Anschaffung sie sonst nicht einmal annähernd käme.
Insgesamt lief es gut. Hilde wusste, dass ein großer Punkt für den Erfolg ihrer Unternehmung darin lag, sich Schwächen zu gönnen. Selbstverständlich ausschließlich kalorienfreie Schwächen.
Sie besuchte mit Stefan das Kino und war erleichtert, dass der ohrenbetäubende Lärm des Actionkrachers, den sie sich ausgesucht hatten, das Knurren ihres Magens übertönte.
Mit einer gleichgesinnten Freundin, die unter ähnlichen Frühlingsgefühlen wie Hilde selbst litt, ging sie joggen und ließ sich haarklein die Rezepte aufzählen, mit denen diese sich über die Runden half und die allesamt aus rein biologisch angebautem und ohne Garmethode zubereitetem, ungesalzenem, ungewürztem Gemüse bestand.
Hilde verkniff sich die abschätzigen Bemerkungen, die ihr durch den Kopf wanderten. Sie hielt sich ebenso mit den Geschichten, die ihrer eigenen Erfahrungswelt entstammten, zurück. Jeder musste, was Diäten anging, seine eigenen Erfahrungen machen, zu diesem Schluss war sie innerhalb der letzten Jahre eindeutig gelangt.
Eine Woche hielt Hilde bereits durch und strich voller Stolz über ihren abgeflachten Bauch. Es stimmte doch, dass Abnehmen das Selbstbewusstsein steigerte. Wenn nur nicht das unangenehme Grummeln im Magen gewesen wäre, das sie bereits in der Früh weckte und unweigerlich wach hielt, obwohl sie ohne weiteres noch Zeit für einen ausgedehnten Schlummer gefunden hätte.
Nichtsdestotrotz, eine Diät steigerte angeblich auch die Energie und so stand Hilde doch, trotz Wochenendes, trotz Erschöpfung in den Gliedern, kurz nach Sonnenaufgang auf und braute sich einen Kräutertee, von dem sie allerdings bereits wusste, dass er dem Magenknurren an sich kaum Einhalt gebieten konnte.
Dennoch trank sie ihn hastig, gönnte sich eine Extra-Dosis Süßstoff, obwohl sie tief innerlich fest davon überzeugt war, dass diese chemischen Mittelchen den Appetit auf Süßes unweigerlich anregten. Aber in diesem Moment zählte das nicht, war Hilde sich doch sicher, dass ihr Appetit auf Süßes ohnehin kaum noch zu steigern wäre. Oder auf Salziges, Saures, Würziges … im Grunde auf alles.
Stöhnend machte sie sich an den Frühjahrsputz und vermied es tunlichst, daran zu denken, dass der Samstagvormittag sich stets als perfekt geeignet für Wocheneinkäufe geeignet hatte.
Doch sich den unüberschaubaren Versuchungen auszusetzen, die in jedem Supermarkt, jedem Schaufenster, jeder frisch aufgebrühten Kaffeebohne, die ihren Duft auf die Straße verströmte, auszusetzen, gliche grober Fahrlässigkeit.
Also beschränkte Hilde sich darauf, Staub zu wischen, zu saugen, die Fenster zu putzen und sich den anderen Vergnügungen hinzugeben, für die das Wochenende Zeit bot.
Sie hatte vor, sich in einen Zustand der Erschöpfung zu arbeiten, in dem selbst der bloße Gedanke an Nahrungsaufnahme zu anstrengend sei, als dass sie in Versuchung käme, ihrer Diät abtrünnig zu werden.
Am späten Nachmittag war es Hilde tatsächlich gelungen, müde genug zu werden, um dem Wunsch nach Essen die Dringlichkeit und die bohrende Spitze zu nehmen.
Auf wackligen Füßen schwankte sie in ihr blitzsauberes und nach Zitrone duftendes Badezimmer und brachte gerade noch die Energie auf, sich eine Wanne einzulassen und auf einen geruhsamen Abend vor dem Fernseher zu freuen.
Eine Stunde später stieg sie, halbwegs erfrischt aus ihrer Wanne, stieg in ihre flauschigen Pantoffeln und wickelte sich in einen warmen Frotteemantel. Als es an der Tür klingelte.
Hilde unterdrückte einen Fluch, seufzte mitleiderregend und begab sich dann doch zur Tür um durch das Guckloch zu spähen.
Ein breit lächelnder Stefan baute sich im Gang des Hauses auf und Hilde seufzte erneut.
Der einzige Effekt lag jedoch darin, dass Stefan sich vorbeugte. „Ich weiß, dass du da bist“, verkündete er durch die Tür hindurch.
Hilde stöhnte leise. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich mir einen ruhigen Abend wünsche“, sagte sie dann und zögerte immer noch, die Tür zu öffnen.
„Das hast du“, gab Stefan zu, doch unternahm keine Anstalten von der Stelle zu weichen. „Und es liegt mir fern, deinen Wünschen zuwiderzuhandeln.“
„Und was willst du?“
Stefan blinzelte. „Du verwendest bereits die ganze Woche die Ausrede vom ruhigen Abend“, erklärte er schließlich. „Und ich dachte, dass ich dir heute dabei helfen könnte, dass der Abend auch wirklich ruhig wird.“
Hilde öffnete die Tür einen Spalt und zog die Augenbrauen hoch. „Ich wollte fernsehen“, sagte sie und ließ ihre Lippen den Schmollmund bilden, von dem sie wusste, dass er Stefan immer wieder zum Lächeln brachte.
„Dann sehe ich mit dir fern“, verkündete der Mann und drängte sich an ihr vorbei in die Wohnung.
Hilde sah an sich und an ihrem Bademantel herunter. „Ich bin überhaupt nicht auf Besuch eingerichtet.“
„Das macht nichts.“ Stefan beugte sich über sie und drückte ihr einen dicken Kuss auf den immer noch schmollenden Mund.
Hilde schnupperte alarmiert. „Was ist das?“, fragte sie zweifelnd. „Ich rieche etwas.“
Stefan versteckte mit unschuldigem Gesichtsausdruck seine Hände hinter dem Rücken. „Was meinst du?“
„Das ist doch etwas zu essen“, warf Hilde ihm vor. „Du weißt doch, dass ich auf Diät bin.“
Unverkennbar wallte Ärger in ihr auf, gemischt mit der unmöglich zu ignorierenden Frage, was es sein konnte, das Stefan versuchte, in ihre Wohnung zu schmuggeln.
Stefan stöhnte auf. „Du und dein Diätfimmel.“ Er wandte sich ab und setzte rasch eine kleine Tüte auf den Sofatisch. „Siehst du?“, drehte er sich zu ihr um. „Das ist nicht einmal richtiges Essen. In diese Tüte passt nichts.“
Hilde runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, warum du mich immer sabotieren willst“, klagte sie laut. „Wenn ich sage, ich will nichts zu essen, dann will ich auch nichts. Kein Dinner, kein Ausgehen, keinen Cocktail. Kino und Sport ist okay. Aber abends will ich meine Ruhe haben.“
„Es ist Samstag“, gab Stefan zu bedenken. „Niemand will Samstag seine Ruhe haben.“
„Also ich schon“, seufzte Hilde. „Wenigstens bis ich wieder in meinen Minirock hineinpasse.“
Stefan verdrehte die Augen. „Du bist wunderschön, so wie du bist.“
Hilde ließ sich frustriert auf in ihr Sofa sinken. „Wunderschön, ach was. Was du für wunderschön hältst. Und dass es mich überall zwickt und kneift und ich dauernd neue Sachen brauche, ist dir egal.“
Stefan setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Solange du gesund und so zum Anbeißen bist, wie gerade jetzt, habe ich keine Einwände.“ Er versuchte sie auf den Hals zu küssen, aber Hilde entwand sich schmollend seinem Griff. „Ich bin überhaupt nicht zum Anbeißen. Ich kugele durch die Gegend und weiß wirklich nicht, warum du das nicht siehst.“
„Ich sehe es nicht, weil es nichts zu sehen gibt“, murmelte Stefan und küsste ihr Ohrläppchen. Es kitzelte und Hilde konnte nicht anders als zu lachen. „Du hast doch etwas vor“, vermutete sie und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Ich kenne dich, wenn du etwas im Schilde führst.“ Sie lehnte sich zurück und legte ihren Kopf schief.
„Du trägst genau denselben Gesichtsausdruck, den du im letzten Jahr aufgesetzt hast, als du mich mit der Buttercremetorte überrascht hast. Das werde ich dir nie verzeihen.“
Stefan streckte ihr beide Handflächen entgegen. „Siehst du hier irgendwo eine Torte? Schon gar nicht eine mit Buttercreme.“ Er nickte eifrig. „Ich habe ja auch dazu gelernt und weiß inzwischen, was sich gehört.“
Er drehte seine Hände vor ihrer Nase. „Siehst du? Keine Torte, keine Eiscreme, keinen Braten oder Topf mit Nudeln. Ich bin vollkommen unschuldig.“
„Hm.“ Hilde rümpfte skeptisch die Nase und zeigte auf die Tüte. „Und was ist das?“
Stefan zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, das ist gar nichts.“
„Gar nichts“, wiederholte Hilde. „Und warum hast du dann ‚gar nichts‘ mitgebracht?“
Stefan beugte sich vor, griff nach der Tüte und zog aus ihrem Inneren eine zart gelbe Serviette hervor, in die etwas eingeschlagen war.
Sorgfältig platzierte er das betreffende Objekt vor Hilde und begann damit langsam, Ecke für Ecke die Serviette zurückzuschlagen und ihren Inhalt zu enthüllen.
„Und – was ist das jetzt?“, stieß Hilde hervor, während sie versuchte, noch ein Mindestmaß an Würde und Zurückhaltung zu bewahren.“
Stefan sah sie mit einem betretenen Dackelblick an. „Das ist eines der Appetithäppchen, die meine Schwester für ihren Geburtstag zubereitet hat. Ich wollte es dir wenigstens zeigen. Für eines dieser Teile benötigte sie eine halbe Stunde. Du kannst dir vorstellen, wann sie heute früh aufgestanden ist, um mit den Vorbereitungen anzufangen.“
„Deine Schwester ist Küchenchefin“, gab Hilde zu bedenken. „Ganz genau“, stimmte Stefan bedrückt zu. „Das heißt, sie weiß, wie es geht. Aber das bedeutet nicht, dass sie weniger Zeit und Mühe für ihr mehrgängiges Menü benötigt.“
„Das ist heute?“, fragte Hilde unnötig und auch ein wenig schuldbewusst.
Stefan räusperte sich. „Du hast doch schon vor einer Weile abgesagt“, meinte er dann beinahe entschuldigend. „Was natürlich nicht bedeutet, dass sie sich nicht doch freute, wenn du es dir anders überlegst. Du weißt ja, dass sie immer für mindestens ein Dutzend Leute mehr kocht.“
Hilde beäugte das Appetithäppchen vor ihr, dass, wenn sie ehrlich war, nicht gerade besonders beeindruckend wirkte. Andererseits kannte sie die Kochkünste von Stefans Schwester nur zu gut und wusste, dass sich in den unscheinbarsten Gerichten, die höchsten Gaumenfreuden verbargen.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie mit betont fester Stimme und versuchte ihren Blick von dem Inhalt der Serviette zu wenden. „Und das hier werde ich auch nicht versuchen.“ Sie schüttelte erneut den Kopf. „Und wenn deine Schwester den ganzen Tag damit zugebracht hat, diese Blätterteigkringel zusammenzudrehen, dann solltest du sie ihr nicht wegnehmen und in der Gegend herumtragen.“
Stefan atmete aus. „Diese Festessen sind ein reiner Albtraum für mich“, gab er dann zu. „Und ohne dich werde ich auch nicht gehen. Das weiß sie.“ Er schluckte hörbar.
„Aber das hier musste ich dir einfach zeigen.“
Vorsichtig schob er die Serviette näher an Hilde heran. „Die Füllung besteht aus einer Creme von Wachteleiern, Trüffeln, Sahne und der speziellen Würzmischung, deren Inhaltsstoffe nicht verraten wird.“
Hilde lief das Wasser im Munde zusammen. „Muskat, Ingwer und Chili?“, riet sie und beäugte das Blätterteiggebilde mit neu erwachtem Interesse.
Jetzt bemerkte sie auch den Glanz, den an verschiedenen, delikaten Stellen angebrachtes Eigelb den Spitzen und Kanten des Gebäcks verliehen hatte. Sie sah die helle Creme, die durch die hauchdünne und an manchen Stellen sorgfältig durchbrochene Oberfläche hindurch schimmerte. Und sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, welchen Mühen sich die Küchenfee unterzogen hatte. Den Anspruch an Perfektion, den diese an sich selbst stellte, bewunderte Hilde von jeher. Wenigstens was ihre Kunst im kulinarischen Bereich anging.
Ihr äußeres Erscheinungsbild dagegen entsprach zumindest nicht dem aktuellen Schönheitsideal, auch wenn Hilde widerstrebend zugab, dass barocke Formen auch ihre Reize besaßen.
„Ich weiß, woran du denkst“, flüsterte ihr Stefan so plötzlich ins Ohr, dass Hilde zusammenzuckte.
„Was meinst du?“, gab sie irritiert zurück.
Stefan lachte leise. „Mein Schwesterherz ist stolz auf ihre Figur. Sie sagt immer wieder, dass sie Werbung für ihre Kochkunst läuft.“ Er strich Hilde eine feuchte Strähne aus der Stirn und küsste sie leicht. „Man soll sehen, dass sie ihr Leben genießt.“
Hilde schluckte. „Ob stundenlanges Blätterteig-Formen ein Genuss ist, wage ich zu bezweifeln.“
Stefan lachte wieder und nahm das winzige Stück Gebäck zwischen Daumen und Zeigefinger. „Das Ergebnis ist es, was zählt“, bemerkte er dann. „Was für ein Mensch jemand ist, was er schafft, wie viel und wen er liebt.“ Er schüttelte den Kopf. „Purzelnde Pfunde bedeuten nichts. Nur dass sie früher oder später zurückkehren und noch mehr quälen, sinnlos Zeit und Kraft rauben, und schließlich nur eine leere Hülle zurücklassen, für die Nichts mit Ausnahme der eigenen Figur zählte.“
Er führte das Gebäck an Hildes Lippen und sie atmete tief das köstliche Aroma ein.
„Wenn deine Schwester sich so viel Mühe gemacht hat“, murmelte sie zögernd.
Stefan küsste sie auf die Wange. „Du bist perfekt, so wie du bist“, sagte er dann. „Ich möchte dir nur dabei helfen, dich auf das Wichtige im Leben zu konzentrieren.“ Er küsste sie wieder.
„Und das wäre?“, fragte Hilde leise.
„Freundschaft, Liebe, Gemeinsamkeit, um nur ein paar Dinge zu nennen“, antwortete Stefan und lächelte. „Die anderen lernst du kennen, sobald du es zulässt.“
Und Hilde ließ es zu. Sie öffnete den Mund und biss in das außen knusprige und innen göttlich zarte Appetithäppchen hinein, das ihr besser mundete, als sie sich erinnern konnte, jemals zuvor etwas gekostet zu haben. Hilde schluckte und leckte sich die Lippen.
„Also gut“, flüsterte sie. „Lass uns gehen.“
Und der Frühling begann.
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