Donnerstag, 9. Dezember 2010

Feiertagssuppe

Titel: Feiertagssuppe
Autor: callisto24
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Der kräftige Duft der Brühe stieg hoch und Henriette wich zurück, bevor der kräuselnde Dampf ihr allzu streng in die Nase steigen konnte.
Feiertage bedeuteten Henriette viel, um nicht zu sagen alles. Sie gaben dem Leben Struktur, verliehen dem Jahr seine Höhepunkte und ihr die Möglichkeit auf ein Ziel hinzuarbeiten, ihre Gedanken und Pläne auf ein Ereignis zu konzentrieren, das es wert war, als solches beachtet zu werden.
Und selbstverständlich gehörte auch ihr Hochzeitstag zu einem dieser Feiertage, denen es galt, besondere Beachtung zu schenken. Nicht dass Egon es wirklich wert war, dass sie sich so um ihn bemühte. Dennoch, er war nun einmal ihr Mann und sie hatte geschworen, ihn zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie schied. So abgedroschen dies auch klingen mochte.
Ihr Zusammenleben, die vielen Jahre, die sie miteinander durch Dick und Dünn gegangen waren bedeuteten Henriette viel. Deshalb hatte sie sich entschlossen, diesem Hochzeitstag mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als ihre spärliche, übrig gebliebene Verwandtschaft für akzeptabel hielte.
Natürlich lag der größte Teil ihrer Familie schon längst im Grab, ein Umstand, an dem man sich in ihrem Alter gewöhnt und mit dem man sich wohl oder übel abgefunden hatte. Selbst wenn Henriettes selige Mutter nicht müde geworden war, Egon zu wünschen und zu prophezeien, dass er das Zeitliche lange vor ihr selbst segnen sollte. Selbst auf dem Totenbett drückte sie noch ihren Unmut darüber aus, dass Egon trotz seines Übergewichts, seiner Trinkerei und den übelriechenden Zigarren, nach denen er ständig roch, kein Anzeichen einer Erkrankung oder Schwäche zeigte.
Das war eine schwere Zeit für Henriette gewesen, hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihren Ehemann zu verteidigen und dem Wunsch ihrer Mutter das Verständnis entgegenzubringen, das sie am Ende ihres Lebens verdient hatte.
Letztendlich spielte all das auch keine Rolle. Egon und sie hatten ihre Mutter ebenso begraben wie ihren Vater und Bruder, ihre Tanten und Onkel. Lediglich zwei Cousinen besuchte sie noch ab und an, von denen eine nicht fit genug war, um die Bedeutung des Tages zu begreifen und die andere sich schlichtweg weigerte, mit Egon eine Mahlzeit zu teilen.
Aber an all das wollte Henriette an diesem besonderen Tag auch nicht denken. Stattdessen verbrachte sie bereits die Zeit seit den frühen Morgenstunden mit der sorgfältigen Vorbereitung eines Abendessens, das Egon ihrer Liebe und Treue versichern und den heiligen Bund ihrer Ehe erneuern sollte.
Zwar war Henriette es gewohnt, sich nach dem Geschmack ihres Mannes zu richten, zumindest wenn es um das tägliche Kochen ging, doch an den Ehrentagen nahm sie sich heraus, ein gewisses Maß an Kreativität, wenn nicht gar Experimentierfreudigkeit an den Tag zu legen.
Daher hatte sie sich auch entschlossen, mehrere Gänge zu servieren und mit jedem einzelnen ihre Liebe und Hingabe erneut unter Beweis zu stellen.
Der Kühlschrank war gefüllt mit den Speisen und Beilagen, die kalt serviert wurden, die Gefriertruhe beinhaltete Egons Lieblingseissorte und im Ofen brutzelte ein raffiniert gewürzter Braten.
Henriette hatte sich die Freiheit genommen anstelle der Salzstangen auf dem Esstisch zur Feier des Tages eine ausladende Platte mit Frischkäse bestrichener Cracker anzurichten und das Naserümpfen ihres Mannes geflissentlich ignoriert.
Dass er die einzelne Rose, die sie mitsamt der Lieblingsvase ihrer Mutter neben der Platte in die Mitte des Tisches gestellt hatte, beachtete Egon nicht, aber Henriette hatte das auch nicht erwartet. Auch die Kerzen am Fenstersims oder die Biskuitrolle, die das trockene Mürbegebäck zum Kaffee ersetzt hatte, entlockten ihrem Mann kein Augenzwinkern. Und dass sie selbst ihren Tag in der Küche verbrachte, anstatt mit der Wäsche, dem Putzen des Bades oder dem Staubwischen, um nur wenige ihrer bevorzugten Beschäftigungen zu nennen, war Egon natürlich ebenfalls nicht aufgefallen.
Nun, Henriette erwartete das auch nicht, keineswegs. Er war ihr Mann und er gehörte zu ihr. Das musste genügen. Vor Jahrzehnten hatten sie sich einander versprochen. Sie liebte ihn und er liebte sie. Und das Mindeste war, dass sie diese Liebe mit einem Festessen unter Beweis stellte.
Trotzdem fühlte ihr Herz sich schwer an, wollte sich die Festtagsstimmung, auf die sie gewartet hatte, nicht einstellen.
Henriette rieb sorgfältig die Suppenschüssel mit einer Knoblauchzehe aus. Sicher, Egon konnte Knoblauch nicht ausstehen, aber in jeder Frauenzeitschrift stand doch, dass diese Knolle besonders gut für das Herz und den Blutdruck sei. Zwei Schwachpunkte, die Egons Arzt von Zeit zu Zeit zu bemängeln pflegte. Nicht dass es Egon etwas ausmachte, oder er auf die Idee käme, seine Lebensweise zu überdenken, geschweige denn dass er auf den Rat des Mannes hörte, doch Henriette hatte nicht vor mit der Gesundheit ihres Mannes Poker zu spielen. Wo es ging, mogelte sie ihm ein wenig Grünzeug unter. Ein paar Vitamine hier und da, ein Hauch von Ballaststoffen konnten doch nicht schaden.
Und was Egon nicht wusste, das konnte ihn auch nicht stören. Soweit war Henriette sich sicher, dass ein schwaches Knoblaucharoma den Geschmacksknospen ihres Mannes nicht auffiele.
Ein unanständiges Schimpfwort entkam ihren Lippen, als sie mit Schwung die Suppe in die feine Porzellanschüssel füllte, die ihre Mutter ihr bei der Heirat als besonders exquisiten Bestandteil des Sonntagsgeschirrs präsentiert hatte. Wie immer stellte sie sich zu ungeschickte an und trotz all ihrer zuvor ausgefeilten Kunstgriffe, landete ein geraumer Teil der Flüssigkeit auf dem Küchentisch neben dem Herd.
Henriette stellte den Topf zurück und fragte sich einen Moment, ob sie die Grießklöße vor dem obligatorischen Umfüllen aus der Schüssel hätte fischen sollen. Doch dann verdrehte sie ihre Augen und beschloss keinen Gedanken mehr an die weichen, weißen Knödel zu verschwenden, die sie mit soviel Mühe aus der klebrigen Masse geformt hatte, und die trotz allem jetzt wie unförmige Beulen in der klaren Brühe schwammen.
Henriette hatte noch nie verstanden, warum Egon diese besondere Vorliebe für Grießnockerlsuppe hegte. Sie selbst konnte Suppen eher etwas abgewinnen, wenn sie mit einer auffallend cremigen Konsistenz ihrem Gaumen schmeichelten. Etwas Sahne, ein Stich Butter und vielleicht ein wenig geschmolzener Käse waren die Bestandteile, mit der sich eine Suppe genießen ließ. Aber auch da schieden sich ihr Geist und der ihres Mannes. Egon liebte die klare Brühe und Henriette musste, wenn auch widerstrebend zugeben, dass in diesem Fall und im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich mit der Suppe nur um den ersten warmen Gang der Mahlzeit handelte, es sinnvoller war, mit etwas Leichtem zu beginnen.
Und warum auch nicht ihren Hochzeitstag und Egon damit erfreuen, dass sie sich mit der Suppe ganz besondere Mühe gab, ja, sich sogar an die Hinweise hielt, die Egon im Laufe der Jahre fallen gelassen hatte. In all den langen Jahren, in denen er von seiner Mutter gesprochen hatte und von ihrem ganz besonderen und von Henriette definitiv unerreichtem Können in der Küche.
Mit schiefem Blick auf die in Würfeln gepresste Brühe, die Henriette nachlässig in heißes Wasser warf, erwähnte er beiläufig, wie es in ihrer Familie Tradition gewesen war, nach klassischer Art Knochen auszukochen, die wertvollen Inhaltstoffe des Marks und den unerreichten Geschmack, den nur die Mühe dieser Arbeit erzielen konnte, sich mühselig und über Stunden hinweg zu erarbeiten.
Also hatte Henriette sich ein Herz gefasst, umgehört und es war ihr tatsächlich gelungen, die richtigen Suppenknochen aufzutreiben. Mit weit geöffnetem Fenster und einer Wäscheklammer auf der Nase hatte sie diese ausgekocht, den Sud erkalten lassen und für diesen speziellen Tag aufgehoben, an dem sie ihn mit der abgewogenen, gewaschenen und geputzten Menge an Suppengrün neu aufsetzte. An dieser Brühe sollte es nichts auszusetzen geben, das hatte sie sich geschworen. Sie bildete den Auftakt zu einem Festmahl, nach dem sich ihr Mann noch nach Jahren alle Finger lecken sollte.
Das Abseihen war nicht leicht gewesen, aber auch das war ihr gelungen, wusste Henriette doch wie sehr Egon es hasste, wenn er in seiner Brühe Bestandteile entdecken musste, die auch nur ein wenig an Gemüse erinnerten. Nicht einmal die winzigen Kräuter und Gewürze, die beim Aufgießen einer einfachen gekörnten Brühe in der Flüssigkeit schwammen, vermochte er zu tolerieren. Und Henriette war es nach den vielen Jahren gewohnt, ihm seine kleinen Vorlieben und Schwächen nachzusehen. Auch das machte Liebe aus. Auch das bedeutete eine lebenslange Partnerschaft.
Und natürlich beruhte dieses Einvernehmen auf Gegenseitigkeit. So hatte Henriette ihrem Egon im Laufe der Zeit abgetrotzt, dass sie die mühsam auf dem Balkon gezogene Petersilie benutzen und nach ihrem Belieben über die Speisen verteilen durfte.
Mit dem eigens zu diesem Zweck erworbenen Wiegemesser machte Henriette sich nun daran und zerkleinerte die liebevoll aus dem Topf herausgesuchten, schönsten und grünsten Petersilienblätter, indem sie wieder und wieder mit dem scharfen Messer über sie hinweg ging. Jede Seite des Wiegemessers in einer Hand und in einem stetigen Rhythmus wiegte sie mit der Klinge über das Brett, sah zu, wie die Blätter in ihre Einzelteile zertrennt wurden, kleiner und filigraner gehobelt, bis sie nur noch wie feiner, grüner Staub, so leicht, dass ein Windhauch sie anhoben konnte, in einem kleinen Haufen auf dem Brett lagen.
Mit einem zufriedenen Seufzer legte Henriette das Messer weg. Es war gut und richtig, darauf zu achten, dass Egon wenigstens ein Mindestmaß an Vitaminen genoss, auch wenn er sich innerlich dagegen sträubte. Wollte sie ihn doch noch so lange behalten, wie es irgend möglich war.
Mit einem weichen Küchentuch wischte sie über den Rand der Porzellanschüssel, entfernte die letzten Tropfen, die ihrer misslungenen Umfüllaktion entsprungen waren und streute dann liebevoll die feingehackte Petersilie über die in der Suppe schwimmenden Grießklöße. Deren flockiges Weiß erhielt so hübsche grüne Sprenkel und Henriette trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zufrieden zu betrachten.
Sie schloss die Schüssel mit dem geschwungenen Deckel, stellte sie auf das Tablett, neben die dazu passenden Suppentassen und blank geputzten Löffel, bevor sie ihre Schürze abnahm und sich ihr Haar aus dem Gesicht strich.
Sicher, sie war nicht jünger geworden. Aber letztendlich war das keiner von ihnen. Und dieser Tag sollte ein Festtag werden. Die Suppe war nur der Beginn.
Henriette ging leichten Schrittes, so leicht es ihr mit der Suppenschüssel, die auf dem Tablett balancierte, möglich war, auf die Küchentür zu, drückte mit über die Jahre hinweg perfektioniertem Geschick mit Hilfe des Ellbogens den Griff herunter und betrat das Wohnzimmer in dem ihr Mann wartete.
Obwohl, dass er wartete, war eigentlich zu viel gesagt. Egon lümmelte, wie es seine Art war, auf dem Sofa. Er hatte sich zurückgelehnt, in der einen Hand die Bierflasche, während er sich mit der anderen seinen Bauch kratzte.
Aber Henriette wollte sich nicht ärgern. Nicht an diesem Tag.
Er sah nicht auf, als sie eintrat. Sein Blick blieb, wie gewohnt, auf den Bildschirm gerichtet, auf dem fast ähnliche Erscheinungen, wie er eine bot, ebenfalls auf Sofas lümmelten und sich dabei allerdings auch noch wüst beschimpften.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Henriette, dass die Platte mit den verzierten Crackern leer war und schmunzelte zufrieden in sich hinein. Sie stellte vorsichtig das Tablett auf den Sofatisch und räumte die leere Platte zur Seite. Eine leere Tasse fand ihren Platz direkt vor Egon und die andere daneben, gerade dort, wo sie selbst sich zu setzen gedachte. Jedoch nicht, bevor sie für ein passenderes Getränk gesorgt hatte, als das, welches Egon für sein ein und alles erklärt hatte, solange sie sich kannten.
Henriette brachte Tablett und Platte zurück in die Küche und ergriff dann die Flasche Rotwein, die sie sorgfältig temperiert und auch nicht vergessen hatte, die gewünschte Zeit atmen zu lassen. Es sollte nichts schief gehen, alles musste passen.
Henriette schüttelte ihr Haar zurück, versuchte sich einen Moment darauf zu konzentrieren, wie es einmal ausgesehen hatte, und trug dann die Flasche ins Wohnzimmer. Sie nahm zwei langstielige Gläser aus dem Schrank und setzte diese neben den Suppentassen ab.
Egon reagierte immer noch nicht. Also hob Henriette den Deckel von der Suppenschüssel und wartete, bis der Duft nach Brühe das Zimmer erfüllte. Mit der Suppenkelle tauchte sie in die Flüssigkeit und sagte dann schmeichelnd: „Sieh doch, Liebling, was ich dir gemacht habe.“
Egon brummte etwas Unverständliches. Also nahm Henriette seine Suppentasse und ließ einen guten Löffel der Brühe hinein gleiten. Obenauf schwammen zwei weiche Grießklößchen und Henriette bewunderte für einen Augenblick deren Lockerheit, die ihr trotz der vielleicht ungewohnt erscheinenden Form, doch bemerkenswert gut gelungen war.
Egon rümpfte die Nase. „Was ist das denn?“, bequemte er sich dann ungehalten von sich zu geben, ohne sich jedoch aufzurichten.
„Ich habe dir deine Lieblingssuppe gemacht“, zwang Henriette sich, so charmant es ihr möglich war, zu antworten. „Wie du sie gerne hast. Wie deine Mutter sie gemacht hat.“
Egon blinzelte und sah endlich zu ihr auf, schüttelte dann entschieden den Kopf. „Nein“, murrte er dann. „Das riecht komisch. So kenn ich die Suppe nicht.“
Henriette schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich habe mir viel Mühe damit gegeben“, sagte sie dann gepresst und deutete in Richtung Küche. „Es ist auch nur die Suppe. Danach kommen noch mehrere Gänge.“ Sie öffnete ihre Augen wieder und sah ihren Gatten an. „Es ist ein besonderer Tag heute“, sagte sie leise. „Schnupper doch mal, wie gut es duftet. Seit heute Vormittag stehe ich in der Küche und schufte. Warte erst, bis du den Braten siehst.“
Egon verzog das Gesicht. „Ich will nicht einmal diese Suppe hier sehen“, murrte er und richtete sich dann ächzend auf, um einen Blick in die Schüssel zu werfen. „Was soll das denn sein?“, brachte er dann verächtlich vor. „Kannst du denn gar nichts richtig machen? Bei Mutti sah ein Nockerl aus wie das andere. Gleichmäßig und perfekt geformt. So schwer kann das doch wohl nicht sein.“
Henriette presste ihre Lippen zusammen und schluckte, bevor sie weitersprach. „Probier doch erst einmal“, sagte sie leise. „Sie sind sehr leicht und locker.“
„Blödsinn.“ Egon ließ sich mit einem Stöhnen wieder auf das Sofa zurücksinken und griff nach der Fernbedienung. „Das blöde Grünzeug hast du auch wieder reingematscht. Du weißt doch, wie ich das hasse.“
„Vitamine tun dir gut“, versuchte Henriette zu erklären.
„Ach was“, schimpfte Egon nun. „Die kannst du in der Pfeife rauchen. Ich brauch etwas Richtiges zwischen die Kiemen. Nicht deinen vornehmen Edelfraß. Was hast du überhaupt mit den Crackern angestellt. Und ich wette, du servierst mir als nächstes ein Gemüse und behauptest, dass ich davon satt werde.“
Henriette nahm die Flasche und sein Glas, schenkte ihm mit zitternden Händen ein. „Liebling“, sagte sie dann. „Ich bitte dich. Es ist ein besonderer Tag für mich.“
Sie setzte das Glas vor ihm ab und ergriff ihr eigenes. „Ich weiß nicht, ob man Rotwein zu Suppe trinken kann“, fuhr sie nervös fort, „aber es kann doch auch nicht schaden, sich einmal etwas Besonderes zu gönnen.“
„Etwas Besonderes?“, lachte Egon. Und mit einem hässlichen Lachen, beugte er sich vor, ergriff sein Glas mit genügend Schwung, dass die Hälfte seines Inhaltes heraus schwappte, auf der Tischdecke, dem Teppich und sogar in ein paar Spritzern auf den Gardinen landete, hielt es einen Moment hoch, als wolle er Henriette zuprosten, bevor er damit ausholte und durch das Wohnzimmer warf in Richtung der Küchentür. Doch noch vor dieser fiel es auf den Boden und zerschellte. Der Rest des Weins hinterließ einen nassen Fleck, der sich farblich jedoch kaum von dem Ton des Teppichs abhob, wie Henriette mit Erleichterung feststellte.
Überhaupt fühlte sie sich ruhiger, als sie in einer Situation wie dieser erwartet hätte. Ihr Atem ging langsam und gleichmäßig und in ihrem Kopf war es klarer, als zu jedem anderen Zeitpunkt des Tages. Die Aufregung war wie weggepustet, nun, da sie wusste, dass die Entscheidung gefallen war.
Egon interessierte sich nicht die Bohnen für ihren gemeinsamen Tag. Er achtete weder ihre Mühe, noch kümmerten ihn Henriettes Gefühle.
Sie seufzte leise. Es war ja auch nicht direkt eine Überraschung. Sie sah langsam an ihm herab, an seinem schmutzigen Unterhemd, das er nun schon mehrere Tage trug, der ausgebeulten Jogging Hose, dem unrasierten Kinn und den blutunterlaufenen, geradezu verquollenen Augen. Das wenige schüttere Haar, das ihm geblieben war, klebte fettig an seinem Hinterkopf und das pausbäckige Gesicht zeigte das selbstzufriedene Lächeln, das er sich mit dem Beginn der Rentenzeit und der stetig entwickelnden Vorliebe für Reality-Soaps angewöhnt hatte.
Nein, sie hatte ihm jede Chance gegeben, alles getan, was in ihrer Macht stand.
Henriette schenkte sich ein, nahm ihr Glas, lehnte sich im Sofa zurück und nippte versonnen daran. Ihr Blick fiel auf die einzelne Rose und sie dachte daran, welche Wünsche und Träume sie als junges Mädchen vor ihrer Heirat gehegt und Jahr für Jahr mehr vergessen hatte.
Sie hörte, wie Egon den Fernseher lauter stellte und dachte vage daran, dass sie bald aufstehen und nach dem Braten sehen sollte. Aber noch war es nicht soweit.
Henriette hörte wie das Sofa quietschte, wie Egon sich mit einem Stöhnen vorwärts beugte und einen Blick in die Schüssel warf.
Schwer ließ er sich wieder zurückfallen und warf ihr einen gnädigen Blick zu.
„Also gut“, sagte er dann. „Will ich mal nicht so sein. Gib mir was davon.“
Henriette nickte lächelnd. Oh ja, sie kannte ihren Mann, kannte ihn besser, als er sich selbst. Sie stellte ihr Glas ab, fühlte dass er sie beobachtete, als sie sich ihrerseits vorbeugte und ihm ohne zu kleckern eine weitere Kelle Suppe mit Knödeln in die Tasse gleiten ließ.
Egon rutschte mühsam an den Rand des Sofas, nahm den Löffel ohne seinen Blick vom Fernseher zu wenden, und begann damit hastig und mit vernehmlichem Schlürfen die Suppe zu essen. Mit seiner anderen Hand streckte er Henriette die Bierflasche entgegen. „Hol mir noch eins“, befahl er zwischen zwei Löffeln und während zwei der Figuren auf dem Bildschirm mit Fäusten aufeinander losgingen.
„Aber natürlich“, antwortete Henriette gehorsam, nahm die leere Flasche und begab sich zum Kühlschrank, um eine neue herauszuholen.
Selbst wenn Egon trotz Arterienverkalkung und leicht erhöhtem Blutdruck im Grunde gesund wie ein Fisch im Wasser war, so konnte sie sich doch darauf verlassen, dass seine Geschmacksknospen durch Alkohol, Nikotin und zu scharf gewürztes Essen ausreichend gelitten hatten, um den Geschmack zu verdecken, der nicht wirklich in eine Suppe passte. Auch nicht, wenn man die Freiheiten bedachte, die Henriette gewohnt war, sich seiner Gesundheit zuliebe und gegen seinen Willen zu erlauben.
Sie lächelte, als sie sich vorstellte, wie er wohl sehr bald feststellen musste, dass dieser Hochzeitstag in ihrem Sinn ablief. Nicht mehr lange, und sogar Egon fiele auf, dass ihre Suppe Inhaltsstoffe enthielt, auf die seine Mutter wohl kaum gekommen war.
Allerdings bezweifelte Henriette, dass er diese in Verbindung brächte mit den dekorativen Blumen, die sie neben der Petersilie, dem Thymian und dem Rosmarin auf ihrem Balkon züchtete. Vielleicht, wenn er sich einmal vom Fernseher und seinem Sofa getrennt und etwas frische Luft geschnappt hätte, so wie sie ihn so oft gebeten hatte, vielleicht hätte er dann die Herbstzeitlose oder die verschiedenen Nachtschattengewächse erkannt, denen sie ihre Liebe und Aufmerksamkeit schenkte, damit sie wuchsen und gediehen, bis sie eine von ihnen brauchte.
Doch Henriette bezweifelt das. Egon dachte nicht so viel nach. Sonst hätte er vielleicht gespürt, dass die letzte Chance, die sie ihm gegeben hatte, eigentlich keine mehr war.

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