Titel: Alternatives Ende
Autor: callisto24
* * *
„Weißt du noch, als wir zum ersten Mal hier waren?“
Ismael sah sich um. Sein Blick wanderte über die Wasseroberfläche, das tiefe Grün des Waldes und die sanfte weiche Oberfläche der duftenden Erde.
„Natürlich weiß ich das.“ Leon schüttelte den Kopf und legte sein Buch zur Seite. „Und ich habe schon damals nicht verstanden, was du so toll hier findest.“
Ismael lächelte. „Also trennen uns doch Welten.“
Leon sprang auf und legte ihm die Arme um den Hals. „Davon träumst du vielleicht.“
Ismael küsste ihn langsam. „In meinen Albträumen vielleicht“, murmelte er dann. Leons Hände wanderten an Ismaels Seiten hinab und er verhakte seine Finger in Ismaels Gürtelschlaufen. „Was redest du von Albträumen“, flüsterte er. Ismael lehnte seine Stirn gegen die von Leon. „Keine Albträume“, sagte er leise. „Keine Albträume, weil wir nie getrennt sein werden.“
Leon atmete aus. „Ich verlasse mich darauf.“
Ismael nickte leicht. „Und das kannst du auch.“ Er küsste Leons Wange und ließ seine Lippen dann in einer Linie Leons Hals hinab laufen, saugte dann leicht an der Haut am Nacken, bis Leon seufzte.
Der Jüngere wand sich aus Ismaels Griff. „Und wenn uns jemand sieht?“
Ismael lachte und fing ihn wieder ein. „An unserem geheimen Ort?“ Er küsste Leon erneut, ließ ihn dann los. „Und außerdem dachte ich, ich hätte dir schon bewiesen, dass es keine Geheimnisse mehr für mich gibt.“
„Das hast du.“ Leon schmiegte sich an ihn. „Trotzdem ziehe ich es vor, kein Schauspiel für Käfer, Mücken und Fliegen zu bieten.“
„Oder zufällig vorbeikommende Camper, nicht wahr?“
Leon lachte. „Ganz genau. Es reicht schon, wenn wir das gemütliche Leben in einer verschlafenen Kleinstadt durcheinanderbringen.“
Ismael schüttelte den Kopf. „Nur weil ein Geschäftsmann seinen Mitbewohner auf offener Straße auf den Mund küsst? Das sollte doch heute niemanden mehr schockieren?“
Leon gab ihm einen Klaps auf die Wange. „Vor ein paar Wochen hast du das aber noch anders gesehen.“
Ismael fing Leons Hand und presste sie gegen seine Lippen. „Vor ein paar Wochen wusste ich aber auch noch nicht, was ich jetzt weiß.“
„Und das wäre?“
Ismael sah ihn ernst an. „Dass das Leben kurz ist und kostbar. Und dass die Liebe zuzulassen unsere Herzen höher schlagen lässt.“
Leon knabberte an Ismaels Unterlippe. „Wenn du poetisch wirst, weißt du genau, dass ich dir nicht widerstehen kann.“
Ismael küsste Leons Ohr. „Und das war meine Absicht.“ Er ließ ihn los, um die Habseligkeiten einzupacken, die sie mit an ihren Angelplatz genommen hatten.
Sie küssten sich, als sie den Kofferraum ausräumten. Und sie küssten sich, als sie das Haus betraten. Das Leben lag in einer weiten Straße vor ihnen. Und nichts konnte ihnen etwas anhaben. Nicht in diesem Augenblick.
Bis es an der Tür läutete. Ismael stellte die Packung Brotstangen wieder ab und Leon stand mit der Flasche Wein, die er im Begriff war zu öffnen, an einer Seitenkommode.
„Ich mach schon“, lächelte Ismael, nichts anderes annehmend als den Besuch eines der Nachbarn, der vielleicht die Post vorbeibrachte. Nichts Schlimmeres erwartend als den Protest eines Menschen, der die Zuschaustellung ihrer Gefühle füreinander in den falschen Hals bekommen hatte.
Doch es war weder das Eine, noch das Andere, und Ismaels Mund klappte weit auf. „Das gibt es doch nicht“, entfuhr es ihm, als er hinter sich ein Klirren hörte. Er drehte sich um, und sah seinen entsetzten Gesichtsausdruck in Leon gespiegelt, der zudem die Flasche hatte fallen lassen, deren Inhalt sich über den Boden ergoss. Leon sah hinunter. „Tut mir leid“, murmelte er abwesend. Mit langsamen, traumwandlerischen Bewegungen legte Leon den Korkenzieher ab, und sank dann in die Knie, um die Scherben einzusammeln.
„Was willst du hier?“ Ismaels Stimme klang heiser, bevor er sich umdrehte, Angela stehen ließ, um Leon zu helfen.
„Ich fühle mich so schlecht wegen allem“, weinte Angela laut und trat ein, schloss sorgfältig die Tür hinter sich. „Es ist alles so furchtbar, und ich wusste mir nicht mehr zu helfen.“
Ismael sah von der Bescherung auf. „Du wusstest dir nicht mehr zu helfen?“, wiederholte er ungläubig.
„Ja“, schluchzte sie. „Ich habe euch im Stich gelassen. Und die Strafe holte mich ein.“
„Welche Strafe?“ Ismael schluckte und blickte auf Leon, der stumm zu Boden blickte.
„Er wollte mich nicht mehr“, weinte Angela wieder. „Er sagte, dass er mich loswerden muss. Und da wurde mir alles klar.“
„Was wurde dir klar?“ Ismael entwickelte langsam eine Vorstellung.
Angela trat ein paar Schritte auf sie zu, sah auf Leon, presste dann beide Hände gegen die Brust. „Mein Junge“, klagte sie. „Ich weiß jetzt, wie sehr ich an dir versagt habe.“
Leon sah nicht auf, aber dafür Ismael. „Das fällt dir reichlich früh ein“, brummte er ärgerlich.
Angela legte den Kopf schief und ihre Lippen bildeten einen Schmollmund. „Das ist nicht fair, Ismael“, sagte sie dann. „Ich bin eine Mutter. Du wirst nie verstehen, was Mutterliebe für mich bedeutet.“
„Oh Mann.“ Ismael stand auf, klopfte sich die Knie ab. „Du hast wahrscheinlich Recht. Und jetzt sag uns, was dich hierher führt.“
Angela blinzelte unsicher. „Mein Junge“, sagte sie dann. „Ich sorge mich um meinen Jungen.“
Leon räusperte sich, sah dann auf. „Mir geht es gut“, antwortete er leise. „Es ist alles in Ordnung.“
„Nun.“ Angela rang die Hände. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich mich davon überzeugen könnte.“ Ihr Blick fiel auf Ismael, der sie mit gerunzelter Stirn ansah. „Immerhin ist einiges geschehen. Und … und Leon lebt hier doch mit einem … einem Fremden sozusagen. Keinem Blutsverwandten.“
Ismael verdrehte die Augen. „Das meinst du jetzt nicht ernst.“
„Doch.“ Angela nickte heftig. „Die Familie geht über alles. Das wirst du erst verstehen, wenn du diese Erfahrung machst. Bedingungslose Liebe gibt es nur unter Verwandten. Eltern und Kind …“
Ismael hob seine Hand und schüttelte den Kopf. „Das reicht“, sagte er dann langsam. „Ich verstehe, dass du Leon im Stich gelassen hast. Und das nicht nur einmal. Er ist jetzt erwachsen und braucht dich nicht mehr.“
„Ein Junge braucht immer seine Mutter“, protestierte Angela.
„Nicht diese Mutter. Und nicht dieser Junge“, widersprach Ismael. Dann sah er Leon an, streckte seine Hand aus, die dieser ergriff und zog ihn hoch. „Leon hat jetzt mich“, sagte er dann. „Es wird ihm nichts mehr geschehen.“
Angela blinzelte. „Du kannst das Band zwischen mir und ihm nicht leugnen. Ein Leben hat uns zusammengeschweißt“, behauptete sie und nickte bekräftigend. „Du ahnst gar nicht, welche Albträume ich durchgemacht habe. Es war grauenvoll.“
Leon lachte plötzlich auf. „Albträume? Ich kenne Albträume. Wie sich das anfühlt weiß ich.“
Angela sah ihn an, schluckte. „Nicht wahr? Ich glaube, wir sind verbunden. Auf einer Ebene, die über das hinausgeht, was wir sehen und hören können.“
Ismael rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. „Was willst du wirklich?“, fragte er, auf einmal von tiefer Müdigkeit befallen. „Suchst du eine Bleibe? Ist es das?“
Angela wurde rot. „Wie kannst du nur so etwas denken? Es geht mir nur um Leon.“
Ismael schüttelte den Kopf. „Wo warst du dann, als er dich gebraucht hat?“
Angelas Gesicht gewann noch mehr Farbe. Ihr Mund klappte auf, aber nur ihr schnaufender Atem war zu hören.
Leon hob Ismaels Hand in seiner an und drückte sie dann sanft, bevor er zu ihm aufblickte. „Lass es gut sein“, sagte er dann und schüttelte den Kopf. „Das bringt nichts.“
„Was bringt nichts?“ Angela kniff ihre Augen zusammen, ging einen Schritt auf sie zu. Ihr Blick fiel auf die verschlungenen Hände und wurde starr. Sie sah zu Ismael auf, dann zu Leon und presste ihre Lippen zusammen. Angela räusperte sich trocken. „Das ist doch nicht wahr?“, murmelte sie. „Das ist doch krank.“
Leon fühlte, wie Ismael zurückzuckte, aber er hielt ihn fest. „Nein“, sagte er, leise genug, dass Angela sich anstrengen musste, aber laut genug, dass sie ihn verstand. „Das ist genau das, was ich will.“ Er sah zu Ismael hoch, dessen Augenlider flatterten. „Genau das“, versicherte er und lächelte, bevor er sich wieder zu seiner Mutter drehte und leicht seinen Kopf schüttelte. „Wenn du in Schwierigkeiten bist“, sagte er dann sanft, „dann bin ich sicher, dass Ismael nichts dagegen hat, wenn du hierbleiben möchtest. Aber deine Hilfe brauchen wir nicht. Nicht mehr.“
Angelas Unterlippe zitterte, als sie von einem zum anderen sah. „So ist das also“, flüsterte sie. „Das ist der Dank.“ Sie beugte sich vorwärts, barg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. Als sie keine Reaktion erfuhr, ließ sie die Hände sinken, starrte aus tränenlosem Gesicht auf die beiden Männer. „Es ist wohl mein Schicksal“, stieß sie mit gebrochener Stimme hervor. „Von der Welt verraten und im Stich gelassen. Mein eigener Sohn …“
Ismael seufzte leise. „Natürlich kannst du hier bleiben. Du bist Leons Mutter.“
Angela trat einen Schritt zurück, schüttelte wild den Kopf. „Ich denke gar nicht dran“, fauchte sie plötzlich. „Trotz allem was passiert ist, hätte ich nie gedacht, dass du … von allen Männern … du …“
Sie warf ihr Haar zurück und reckte das Kinn in die Höhe. „So schlecht geht es mir wirklich nicht, als dass ich mit euch …“ Sie verschluckte sich fast, hustete und sah sich dann hektisch um. „Das ist nicht meine Welt“, brachte sie hervor. „Nicht das.“
Leons Griff verstärkte sich, als Angela sich umdrehte, auf dem Weg zur Tür stolperte, sich jedoch sofort wieder fing und aus dem Haus, über den Kiesweg, in die Dunkelheit verschwand.“
Noch einen Moment nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, standen sie unbeweglich nebeneinander, bevor Ismael sich zu Leon umdrehte und ihn an sich zog. „Bist du in Ordnung?“, fragte er. Und Leon lächelte zu ihm hinauf. „Noch nicht“, antwortete er leise. „Aber ich werde es sein.“
Er lehnte seinen Kopf an Ismaels Schulter und ließ es zu, dass Ismaels Lippen sich in seinem Haar verirrten.
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