Donnerstag, 9. Dezember 2010

Planet

Titel: Planet
Autor: callisto24
* * *
Ich habe immer geglaubt, dass es auf die Perspektive ankommt.
Dass unsere Realität so leicht von dem abweicht, was wir vor uns sehen, gehört nur zu einem der vielen Hindernisse, die sich zwischen das denkende Wesen und seinen Versuch zu begreifen stellen. Denkende Wesen, das sind wir, das ist es, wozu uns die Evolution geschaffen hat. Erschaffen, um zu forschen, um den Blick zu schärfen, das endgültige Sein einzufangen. Ob in Worten, Taten oder abstrakten Gebilden, in Analysen, die den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, spielt keine Rolle, denn darauf ziele ich letztendlich nicht ab. Nicht meine Aufgabe, nicht meine Leidenschaft.
Ich bin ein Beobachter. Und ich beobachte die Welt um mich. Wie sie sich verzerrt, dehnt, ihre Konturen wachsen und wieder verschwimmen. All das während ich dahingleite in schwebender, ewiger Existenz. Mein Bericht wird geprägt sein von Farben und Formen, von der Bedeutung, die ich diesen verleihe. Ich gebe ihnen Namen, ich kategorisiere und ordne.
Wenn ich mich um mich selbst drehe, dann verändert sich alles. Wenn ich einen Schritt vorwärtsschwebe, dann stoße ich an meine Grenzen. Glasklar sind sie und kalt. Doch kann ich sie dereinst passieren, dann fließe ich in neue Freiheit, ergieße mich in die Welt, über die Welt, an der ich bis zu diesem Moment nur als ein Zuschauer teilhabe. So bin ich gezwungen zu warten und zu lauschen. Auf die gedämpften Geräusche, die wie durch einen Filter an mein Gehör dringen. Mal gluckernd, mal kichernd, doch nie wirklich.
Aber ich kann warten. Was ich um mich sehe, wird nicht auf ewig von mir getrennt bleiben. Ich kann in mir sehen, wie ich mich mit der Außenwelt vereine, in sie hineinfließe und mich darin auflöse. Wie sich Milliarden von Atomen miteinander vermischen, Moleküle zu Kunstwerken verknoten, deren Anfang und Ende ähnlich unbekannt bleiben wie ihr Daseinszweck. Alles wird eins. Ob ich aufsteige, die Schwere verliere und in winzigen Bläschen gen Himmel fliege, mich in lebensspendenden Funken verteile oder tiefer sinke an den Grund, um abzuwarten bis über mir Schicht nach Schicht verdampft, mich austrocknet und freilegt – es bleibt alles eins. Ich existiere, um es zu sehen und davon zu erzählen.
Denn das Schiff wird kommen, mich aus meiner Position zu lösen und meiner endgültigen Bestimmung zuzuführen. Ich spüre, dass es sich nähert, als die Welt um mich herum erbebt. Fest wird frei und hart zu weich. Die fließenden Bewegungen um mich breiten sich aus, werfen mich in Schräglage, verändern meine Sicht. Ich sehe, dass sie kommen, die Wesen, die mich verstehen, zu denen ich gehöre, denen ich Rede und Antwort stehen werde und will. Aus dem anderen Universum, dem Raum um mich ziehen sie mit ihren unsichtbaren Fäden, reißen mein Gefäß, das Glas, das mich schützt in die Höhe. Ich wirble um mich selbst, verliere mich im Strudel, als sich alles seitwärts lehnt, als mich der Strom weiterhinauszieht, aus meiner illusorischen Sicherheit befreit. Ich schwebe, schwimme und werde vorwärts getrieben, paddele hilflos an der Oberfläche, suche nach Luft, nach Atem. Je länger ich nach ihm suche, desto weniger finde ich ihn, desto schwieriger erscheint mir meine Pflicht. Nicht so wie gedacht, nicht wie geplant nähere ich mich einem Ziel. Ich steige nicht hinauf in eine Unendlichkeit, die mich nach Hause führt. Ich fließe hinab. Die Schwerkraft, die mich losließ und in die Höhe wirbelte, zieht mich nun tiefer, zieht mich in eine warme Hölle. Die rote Höhle, die mir nun, da ich so kurz davor stehe, von ihr verschluckt zu werden, zum ersten Mal ohne die täuschende Verzerrung des Glases gegenübersteht, sich in ihrer ganzen Hässlichkeit und ihrem realen Schrecken offenbart. Welcher Illusion saß ich nur auf? Welch einer Verzerrung meiner Wirklichkeit? Nun, da ich mich aus der fließenden Substanz befreie, von Sauerstoffatomen durchpumpt werde, die heiße Hölle vor Augen mich von dem kühlen Nass verabschiede, weiß ich über das Ausmaß meines Irrtums. Niemals werde ich durch den Weltraum fliegen. Niemand kommt mich zu befreien, niemand interessiert sich für die Beobachtungen, die ich so sorgfältig gespeichert habe. Ich bin allein und war es immer. Ausgeliefert dem Hunger einer Welt aus Warmblütlern. Einer Welt, die fern der kalten Analyse, von ihrem Trieb beherrscht wird. Die mich verschluckt, verdaut, vernichtet. Und nur vielleicht entlässt, wenn ich in meine Einzelteile gespaltet, zu Staub und Schmutz mutiert, am äußersten Rand des Fegefeuers wieder zu mir komme und feststelle, dass ich nicht einmal hier das Ende finde. Dass sogar das Ende Illusion bleibt. Dass alles eine Frage der Perspektive ist und auf ewig sein wird.

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