Samstag, 7. November 2009

Mentor

Titel: Mentor
Autor: callisto24
* * *

Von Anfang an.
Es war immer schwer, jemanden zu etwas zu überreden, was er nicht tun wollte. Noch schwieriger, wenn es sich bei demjenigen um das eigene Kind, sprich die eigene Tochter handelte. Doch was war zu tun, wenn die Betreffende von vornherein alles, und wirklich alles ablehnte? Und was sollte er tun, wenn ihm die Beweggründe und die Gefühle an sich so vertraut waren, dass nichts leichter wäre, als diesen ohne weitere Zweifel und Umschweife nachzugeben.
Natürlich konnte er ihnen nicht nachgeben, wusste er doch nur zu gut, und auch aus eigener Erfahrung, wohin Verhalten wie dieses letztendlich führte. Zur Vermeidung von allem und jedem, sämtlicher Risiken und damit auch sämtlicher Erfolge, sämtlicher Möglichkeiten jene Erfolge zu sammeln und damit, letztendlich sich zu dem Menschen zu entwickeln, als der man gedacht war.
Es führte dazu, dass die Entwicklung als solche abgelehnt wurde, ebenso wie jedwede Tendenz in einer entsprechenden Richtung.
Doch langsam konnte er nicht mehr. Hatte es doch schon vor langer Zeit begonnen, im frühesten Alter, begann mit der Erkenntnis erwähnter Tochter, dass Gefahren da draußen existierten, die es zu meiden galt. Und natürlich besaß sie diese Erkenntnis oder Veranlagung nicht von ungefähr, sondern übernahm sie direkt von ihm. Nein, auch er vollbrachte nichts. Niemals. Risiken waren ihm eine Gräuel und er unternahm keinerlei Ansätze einer Anstrengung, deren sofortiger Sinn und Zweck sich ihm nicht sofort erschloss.
Wieso sollte er sich also wundern, dass sein kleines Mädchen sich weigerte zu versuchen, was er, der Große, der Vater ihm vor die Nase hielt.
Es erschöpfte ihn. Er wusste es, dass er der Schuldige war, mit seiner Schlamperei, seiner Pflichtvergessenheit, seiner Haltlosigkeit. Er zeigte eindeutig verantwortlich dafür, dass trotz aller Bemühungen nichts von Erfolg gekrönt sein konnte. Kein bisschen, kein Stückchen, verpuffte Zeit, Energie, verschleudertes Geld. Sie tauchte nicht auf, sie würde nie auftauchen. Es war zum Heulen. Richtig zum Heulen. Und er war schuld. Er hatte versagt, als Mentor versagt. Er hatte sie verraten.

Nebelscheinwerfer

Titel: Nebelscheinwerfer
Autor: callisto24
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Es war einer ihrer üblichen Träume. Daniela träumte stets nahe der Realität. Nahe genug, so dass sie beim Erwachen mehr als nur einen Moment benötigte, bis sie sich darüber klar wurde, dass sie soeben Erlebtes ihrer Fantasiewelt zuordnen konnte. Und in den meisten Fällen erleichterte Daniela diese Zuordnung kolossal. Nicht unbedingt, dass die Wirklichkeit es ihr leichter machte, als ihre Träume es taten. Doch zumindest verlief diese in der Regel weitaus ruhiger und ohne die merkwürdigen Schnitzer und absurden Verläufe, welche ihre Träume für gewöhnlich nahmen.
Dieses Mal begann alles mit einem Ausflug, mit der konfusen Mischung aus der regelmäßigen, wöchentlich stattfindenden Wahrnehmung eines Termins, der es erforderte, dass sie mit ihren Kindern den Ansatz einer Reise unternahm, welche am Bahnhof des Ortes startete. Nur, dass sich diese Reise auf einmal ausdehnte, von einer Reise in ein Ereignis verwandelte. Eines, das nicht nur sie und ihren Nachwuchs, sondern auch Danielas Eltern mit einbezog. Eine Tatsache, die darauf schließen ließ, dass es sich um ein Ereignis handelte, das in erster Linie mit Kultur und stadtinterner Politik zu tun hatte. Und nicht nur, dass Daniela sich in einer Welt wiederfand, die sie nicht kannte, nie besuchte, nie kennenlernen wollte, sie fand sich zusätzlich mit einer Handvoll Kinder dort, für die ausgerechnet sie allein die Verantwortung trug, wenigstens zeitweise, und ohne ihre Gesichter Personen zuordnen zu können, die Daniela bekannt waren. Die Kinder liefen zwischen ihren Füßen herum, irritierten Daniela und erhöhten ihre Besorgnis.
Bis ihr plötzlich eine hohle Stimme aus einem ebenso hohlen Körper mitzuteilen geruhte, welcher Pflicht, sie sich zu unterziehen hatte, dass diese darin bestand, betreffende Kinder von dem Eindringen in eine, wie sie nun bemerkte, sorgfältig errichtete Szenerie abzuhalten. Dabei handelte es sich um nicht weniger als um eine Einweihung, ein festlicher Akt, der offizielle und nicht unerhebliche Bedeutung besaß. Ein Akt, zu dem jeder Zugang erhielt, doch zu dem nicht jeder Zugang besaß. Ganz sicher nicht jeder. Die Prominenz in ihren edlen Kleidern war willkommen ebenso wie ihr gepflegtes Benehmen. Herumlaufende, unkontrollierbare Kinder jedoch durften in einer Welt wie dieser nicht existieren.
Natürlich ließen sich Kinder wie diese, wie die ihr Anvertrauten, Kinder, die ihren eigenen Kopf, ihren eigenen Willen behielten, nicht von den Zielen abhalten, die nur sie in ihrem Kindergemüt verstehen konnten. Unabhängig davon wie sehr Einrichtungen wie Schule oder auch schon Kindergärten sich mühten, ihnen diese zu nehmen, in Bahnen zu lenken, die der Gesellschaft genehm waren. Ihre Kinder blieben dabei zu forschen und zu entdecken, wohin es sie zog und was ihre Aufmerksamkeit fesselte. Und wenn es sich um mühsam errichtete Dekorationen, kunstvoll verlaufende Wasserbäche und arrangierte Zierfiguren handelte, so änderte dies nichts in ihren Kinderaugen. Und es änderte auch nichts in den Augen Danielas. Zumindest solange bis sie auf die Reaktion und die Beschwerden der Menschen stieß, die hart daran arbeiteten, die Vorstellung perfekt, das Ereignis denkwürdig und elegant zu gestalten.
Ein Vorsatz an dem Daniela in jeder Beziehung und bereits im Vornherein scheiterte. Sie war nicht elegant. Sie machte sich nichts aus ihrem Äußeren, und schon gar nichts daraus, wie sie auf die Gesellschaft wirkte. Was einfach war, bewegte sie sich doch in der Regel außerhalb der Gesellschaft als solcher, außerhalb jeder Gesellschaft und definitiv außerhalb derer, die sich als fein oder gar vornehm bezeichnete. Es spielte also keine Rolle, wie sie sich präsentierte, vermied sie es doch tunlichst sich überhaupt zu präsentieren.
Doch nun und ohne Vorwarnung purzelte Daniela in diese künstlich gestaltete Welt, die direkt dem Werbefernsehen entsprungen schien, inklusive Sonnenschein und blauem Himmel. Helle Säulen ragten in den Himmel, gepflegte Menschen, gekleidet in ansprechend leichten Farben schritten bedächtig die perfekt dekorierten Tische ab, inspizierten funkelndes Besteck, feines Porzellan und kostbare Blumengebinde. Und hin und wieder streiften die Blicke dieser perfekten Gestalten Danielas Erscheinung, die unter dem prüfenden Blick förmlich schrumpfte, während es ihr endlich gelang, die Kinder aus der Gefahrenzone, den Bereichen, die Zerbrechliches aufwiesen, zurückzuziehen.
Nur dass es damit nicht beendet war. Nur, dass sie sich mit einem Mal wieder in der Mitte von Menschen wiederfand, die sie kritisch begutachteten, die Flecken auf ihren Schultern, die Spuren von Erbrochenem bemerkten. Spuren, die Kinder jeden Alters, Spuren, die das Leben an ihr hinterlassen hatte.
Und als er, die Autorität, der Verantwortliche des Ereignisses sie mit diesem eindeutig einzuordnenden, abschätzigen Blick begutachtete, und aufforderte, darüber nachzudenken, wo sie sich befand, da wusste Daniela, dass es Zeit war zu gehen, dass sie sich zurückziehen musste, verschwinden aus einer Variante des Lebens, in die sie nicht gehörte. Zurückkehren in die Existenz, die ihr vertraut war. In ein Leben, das Verstecken und Verbergen beinhaltete. Dessen Credo darin bestand unsichtbar, unauffindbar zu bleiben. Aus der Entfernung zu beobachten, nicht mehr.
So gab Daniela dem Impuls nach, der ihr vertraut geworden war. Sie blieb die Beobachterin, doch floh der Verantwortung, dem Geschehen, dem Leben. Sie zog sich in den Nebel zurück der alles umgab, wartete auf das Ende der Veranstaltung, betrachte diese aus der Entfernung, spielte den Verfolger aus der Dunkelheit. Sie befasste sich mit Hintergründen, Analyse und der Suche nach Inspiration für die eventuelle Möglichkeit, ihre eigene Lage und die ihrer Kinder zu verändern.
Wäre diese Suche von Erfolg gekrönt worden, hätte sich niemand mehr gewundert, als sie selbst. Doch tat sich eine ganz andere, und vollkommen unerwartete Möglichkeit auf. Eine Schicksalswendung, mit der niemand und am wenigsten Daniela selbst rechneten. Ein Botengang nur, der ihr nebenbei aufgetragen wurde, und den zu erledigen lediglich eine kleine Aufgabe außerhalb der natürlichen Ordnung sein sollte. Er hatte nichts mit der Suche und den Fragen zu tun, die sie sich stellte, und doch bot er eine Beschäftigung, einen Grund und eine Herausforderung, die zu erfüllen nicht leicht, wenngleich auch nicht derart schwierig war, wie sie es sich ausmalte. Wie sie es sich ihr Leben lang ausgemalt hatte, Grund genug, um auszuweichen, anstatt diese Herausforderungen als das anzunehmen, was sie waren. Doch nun war sie es, die den Nebel durchdrang, die Scheinwerfer ausrichtete. Ihre Verantwortung, dass die Kinder den Weg fanden, auch wenn sie niemals erfuhren, wer das Licht angestellt hatte.
Den Auftrag zu erledigen war verwirrend, nicht einfach, nicht schwierig, doch am Ende verstörend. Und zugleich aufregend genug, um ihren Blick zu erweitern, jene Aufgeschlossenheit in ihr zu erwecken, die Veränderungen vorausgehen. Sie fand Kontakte, traf Menschen. Menschen, die sich unfreundlich zeigten, abweisend, denen ihre Anwesenheit eine Last war, aber auch Menschen, die ihr halfen, die sie als Gleichgestellte betrachteten, als eine von ihnen, unter ihnen, mit ihnen.
Und so entschied sie sich dafür, diesen Weg gehen zu wollen, es zu versuchen. Sie ging, sie fragte, sie erkundigte sich, versuchte, hoffte und trieb sich an.
Und scheiterte. Die Voraussetzungen, ihr Leben stimmte nicht. Sie war nicht ausgebildet, Anforderungen wie den vor ihr liegenden zu begegnen. Und so begegnete sie ihnen nicht, versagte ein weiteres Mal, enttäuschte ihre eigenen Erwartungen, ebenso wie die stummen, bereits nicht mehr ausgesprochenen Erwartungen anderer. Der Nebel senkte sich über sie herab und der Weg führte sie zurück, zurück auf den Bahnhof, zurück zu der regelmäßigen Reise, an die sie sich gewöhnt hatte. Und es war nicht alles schlecht. Daniela hatte dazugelernt. Und als sie aufwachte, lächelte sie.