Montag, 29. März 2010

Palast

Titel: Palast
Autor: callisto24
* * *

Das Ganze wirkte von Anfang an merkwürdig und manchmal war sich Katharina tatsächlich nicht sicher, ob sie sich nicht doch inmitten eines verrückten Traumes befand, aus dem sie den Ausgang einfach nicht entdecken konnte.
Sie hatte sich in ihrem Leben nie unwohl gefühlt. Ihr Haus war nicht besonders groß und nicht gerade neu. Aber es gehörte zu ihr und sie gehörte zu ihm. Katharina erinnerte sich nicht daran, jemals woanders gelebt zu haben, oder an einem anderen Ort leben zu wollen.
Sie verstand auch nicht, warum sie ausgerechnet jetzt umziehen sollten.
Die ganze Entwicklung kam nicht nur unerwartet, sie erschien ihr zudem ausgesprochen suspekt.
Katharinas Vater, wie es seine Art war, hielt sich aus der ganzen Sache heraus. Seit er in Rente gegangen war, hatte er nach und nach begonnen, sich mehr und mehr aus jedem sozialen Leben zurückzuziehen. Und das schloss auch das Zusammenleben in der Familie mit ein.
Wenn Katharina ehrlich zu sich war, so wusste sie nicht einmal genau, womit er sich eigentlich den ganzen Tag beschäftigte. Es war kaum noch so, als bekäme sie oder auch ihr kleiner Bruder ihn noch viel zu Gesicht.
Natürlich führte auch Katharinas Mutter ihr eigenes Leben. Wie sollte es auch anders sein? Katharina war fast erwachsen und auch wenn ihr Bruder gerade erst kurz vor dem Eintritt ins Teenager-Alter stand, so benötigte auch er seine Mutter nicht mehr in dem Maße, in dem sie gebraucht werden wollte. Oder wenn er sie brauchte, so zeigte er es nicht.
Denn nur auf diese Weise war es wohl zu erklären, dass die Mutter von Woche zu Woche, von Monat zu Monat unruhiger geworden war. Und eigentlich stellte es sich kaum als Überraschung dar, dass sie im Geheimen begonnen hatte, nach neuen Wegen, neuen Beschäftigungen zu suchen. Immerhin war sie nicht alt. Etwas kleiner als Katharina, das nur leicht angegraute Haar kurz geschnitten, verströmte sie seit jeher eine Energie, um die Katharina sie beneidete.
Und natürlich hatte sie Recht damit, wenn sie sagte, dass ihr Haus im Grunde und bei Tageslicht betrachtet, kurz davor stand, auseinanderzubrechen.
Die beschädigten Böden, das von Rissen durchzogene Mauerwerk und den Schimmelwuchs in jeder Ecke mal außen vorgelassen, erkannte jeder Passant im Vorbeigehen, dass das Gebäude abbruchreif war.
Und natürlich hatte Brigitte, so lautete der Name von Katharinas Mutter, auch Recht damit, wenn sie feststellte, dass ihnen sowohl das Geld für die Renovierung, als auch die finanziellen Möglichkeiten dafür fehlten, sich eine neue Bleibe zu suchen.
Kam das Gespräch auf dieses Thema, sah Katharina jedes Mal schuldbewusst zu Boden. Natürlich wusste sie sehr gut, dass ihre Familie größere Sprünge machen könnte, wenn sie nur nach dem Quali eine Lehrstelle gefunden hätte. Wenn sie sich mehr Mühe gegeben, einen besseren Durchschnitt erreicht hätte.
Aber so wie es jetzt war, so wie sie jeden Aushilfsjob in den Sand setzte, konnte sie keinen Cent zu dem Familieneinkommen beitragen.
Umso mehr Sinn ergab es, als Brigitte von diesem neuen Job erzählte, den sie ergattert hatte. Nicht, dass sie die anderen fragte, fragen musste. Weder Katharinas Vater, noch ihr Bruder Bernd kämen auch nur auf den Gedanken, einen Einwand zu erheben. Und Katharina selbst lag es fern sich einzubringen, nicht nachdem sie selbst auf der ganzen Linie versagt hatte.
Und doch fühlte sie sich von Anfang an mulmig. Nicht nur, dass sie Hals über Kopf packen und umziehen mussten, auch die wenigen Informationen, die ihr über Brigittes Arbeit oder ihr neues Umfeld preisgegeben wurden, hinterließen einen unangenehmen Beigeschmack in ihrem Mund.
Doch Katharina war es gewohnt zu folgen, und das ohne Widerworte zu geben oder zu viele Fragen zu stellen.
Und so fand sie sich wieder, wie sie neben ihrem Bruder und einer aufgeregten Brigitte, ihre Hände fest um die Griffe der Koffer mit ihren Habseligkeiten geklammert, im engen Eingangsbereich eines unscheinbaren Gebäudes stand.
‚Grau‘ lautete der erste Begriff, der Katharina in den Sinn kam. Außen ebenso wie innen wirkte ihr neues Zuhause grau. Und vergleichsweise belebt. Katharina spürte, dass die Anlage nicht nur größer war, als sie schien, sondern dass sie auch mehr Menschen umfasste, als erwartet.
Und der Eindruck täuschte nicht. Nicht nach der freundlichen Begrüßung der Damen im Büro, die sich geradezu begeistert über ihre Ankunft und über Brigittes künftige Mitarbeit äußerten.
Und sie gleich darauf durch das Büro hindurch und in tiefere Stockwerke geleitete. In tatsächlich tiefer gelegene Stockwerke. Nicht nur Erdgeschoss und ein darunter gelegener Keller – die Wanderung führte weitaus tiefer.
Sicher hatte Brigitte sie vorgewarnt, dass ihre neue Behausung unterirdisch gelegen war, und Katharina erhob auch keinerlei Einwände dagegen oder empfand auch nur Bedenken empfunden. Nicht bis sie mit der Realität konfrontiert wurde.
Die Dame, die sie vorwärts geleitete, stieß kraftvoll große Türen auf, die den Blick erlaubten auf einen geradezu riesigen Raum. Einen riesigen Raum, an dessen Seite eine geöffnete Doppeltür in einen ebenso gigantischen Raum führte, der wie der erste mit prachtvollen Orientteppichen ausgelegt war. Doch bis auf die Teppiche waren beide Räume leer, ragten hohe, fensterlose Wände auf, beleuchtet von einem hellen und kalten Licht.
„Ist es das?“, wollte Katharina fragen, doch die eindeutige Gestik der inzwischen über das ganze Gesicht strahlenden Dame erwies die Frage als unnötig.
Mit gespielter Erschrockenheit führte die ihre Hände an die Lippen und murmelte eine Entschuldigung betreffend des Fehlens der Matratzen. Ein Manko, dem selbstverständlich rasch abgeholfen wurde. Schon sehr bald lagen auf den Eingängen abgewandten Seiten des Raumes großflächige Matratzen, jeweils zwei nebeneinander und es wurde offensichtlich, dass einer der Räume Katharina und ihrem Bruder, der andere Brigitte und deren Mann zugedacht waren.
Katharina stellte ihre Koffer ab und betrachtete den Raum. Abgesehen von der Größe und der auffallenden Leere, wirkte er ausgesprochen stabil und fast schon elegant, was an der Höhe der Decke und dem oben angebrachten, wenn auch nur angedeuteten Stuckverzierungen ebenso wie an den prächtigen Orientteppichen lag.
Sie hörte nicht zu, als die Dame vom Eingang weitersprach, vermutete jedoch, dass es sich um das Versprechen von mehr Mobiliar handelte.
Letztendlich wusste Katharina nichts an den Räumlichkeiten auszusetzen, nicht wirklich. Und letztendlich hatte ihre Mutter auch durchaus Recht damit, dass es in der aktuellen Lage, in der sich die Welt befand, nicht unbedingt dumm war, sich auf eine unterirdische Existenz vorzubereiten.
Egal welche Katastrophen folgen mochten, ob die Außentemperaturen zunahmen, die Sonne sich verdunkelte oder Kriege ausbrachen, ein Leben verborgen im Untergrund wies doch diverse Vorteile auf, das ließ sich Katharinas Ansicht nach überhaupt nicht leugnen.
Und dennoch blieb da dieser unangenehme Beigeschmack, der auch nicht verging, als sie die erste Nacht auf dieser großen Matratze, in der bunten Bettwäsche und unter der hohen Decke in einem viel zu weiten Raum verbrachte.
Der Beigeschmack verging auch nicht, als Katharina am folgenden Tag ihr gewohntes Leben wieder aufnahm, als sie Bernd zur Schule begleitete und wieder abholte. Er verging nicht, als sie trotz allem, sobald sie den Eingangsbereich, der zu den unterirdischen Räumen führte, hinter sich gelassen hatte, nicht mehr leugnen konnte, sich eingesperrt zu fühlen, gefangen in einer Welt, deren Sinn und Zweck sie nicht verstand.
Es half ihr auch nicht, als sie damit begann, falsche Wege einzuschlagen, Abzweigungen zu nehmen, die nicht in ihre Räume führten und Türen aufzustoßen, mit Absicht oder aus Versehen, von denen sie nicht wusste, wohin sie führten.
Und Katharina war ernsthaft überrascht, als sie ihre Vermutung bestätigt und die Anwesenheit zahlreicher anderer Menschen vor sich sah. Die Türen, die sie öffnete führten in ähnliche Räume wie die, welche ihre Familie bewohnten. Nur fielen sie geringfügig kleiner aus und es mangelte ihnen an den auffallenden Teppichen, sowie an der Eleganz der Bettwäsche. Die Räume, in denen die anderen Menschen hausten, deren verstrubbelte Köpfe sich bei ihrem Eintreten erschrocken aus den Kissen hoben, deren schlaftrunkene Münder unverständliche Worte murmelten, wirkten zudem ein wenig niedriger und nicht ganz so riesig wie ihre.
Und als Katharina ihre Mutter in der Zusammenarbeit mit den Damen im Büro beobachtete, da schnappte sie nicht nur auf, es wurde ihr auch aus dem Verhalten aller Anwesenden klar, dass der Sonderstatus ihrer Mutter und damit ihrer Familie auf der Tätigkeit beruhte, die sie hier ausübte, auf der rätselhaften Verantwortung, die Brigitte in einem seltsamen Umfeld wie diesem übernahm.
Und es waren viele Menschen, die sich in den Weiten dieser verzweigten, grauen, unterirdischen Welt aufhielten. Viele verschlossene und verängstigte Menschen. Soviel wurde Katharina allein durch die geweiteten Blicke, durch die verstohlen ausgetauschten Worte und die geduckten Köpfe klar, wenn sie an ihr vorbeihuschten.
Katharina versuchte das Gute in der neuen Lage zu erkennen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sich unterhalb der Erde aufhielten, dass sie ihren kleinen Bruder einer unnatürlichen Umgebung aussetzte, die nicht gesund sein konnte. Nicht nach allem, was sie davon wusste.
Sogar als sie die Schwimmanlagen entdeckten, half ihr das Erleben des geradezu ferienhaft anmutenden Badeparadieses nicht dabei, sich wohler, sicherer oder weniger schuldig zu fühlen.
Schuldig, weil Bernd in dieser Welt leben musste. Weil sie die Möglichkeit besäße, ihn vor den schädlichen Einflüssen zu bewahren, die sie in den Wänden, in der Erde, im Mangel an Natur, an Luft, an Freiheit vermutete.
Niemals hätte Katharina vermutet, dass ihr allein die Möglichkeit abginge, einfach vor die Haustür zu treten und tief einzuatmen. Niemals geglaubt, dass es so schwierig war, mit dem Bewusstsein zu leben, dass nicht lediglich ein kleines Stück Weg zwischen ihr und einem Feld, einem Wald, einer Möglichkeit einfach nur loszurennen, bestand. Stattdessen war ihr, als müsse sie sich aus dem Erdinneren einen Weg graben, sollte sie denn dem versteckten, grauen Labyrinth entfliehen wollen.
Und wie das zu geschehen hatte, daran wagte Katharina nicht zu denken.
Stattdessen hoffte sie, sich selbst des Irrtums zu überführen. Sie hoffte, dass ihr Schuppen von den Augen fielen, dass ihr von einer Minute auf die andere klar werde, dass sie mit ihrem Leben im Untergrund das große Los gezogen hatten.
Und sie wünschte, die phantastische Badelandschaft, in die sich Bernd begeistert stürzte, trüge bei zu ihrer Beruhigung.
Sie tat es nicht, nicht wirklich.
Zwar konnten durch die Fenster der blaue Himmel und die grünen, vor dem Gebäude gelegenen und bis an den leeren Horizont führenden Wiesen bewundert werden, zwar existierte ein Spielplatz und tatsächlich befanden sich Kinder in seiner Nähe, dennoch gab es keine Möglichkeit zu erkennen, ob und wie es möglich war, aus der Schwimmhalle an die frische Luft zu gelangen.
Bis es demonstriert wurde. Bis ein Kind dem an einem Hebel sitzenden Bademeister bedeutete, dass es hinaus ins Freie wolle und dieser mit einem Umlegen besagten Hebels die unteren Abschnitte der Fenster aufschob. Kurz nur, so kurz, dass das Kind gerade so hindurch schlüpfen konnte, sich im letzten Augenblick duckte, bevor das Glas wieder herabstürzte.
Katharina blieb das Herz stehen, als sie sich vorstellte, wie knapp der Junge an der Gefahr vorbeigeschrammt war, die eine oder andere Gliedmaße zu verlieren.
Nein, es mochte möglich sein, diesem Ort zu entkommen, doch wohin gelangte der Flüchtling? Katharina sah es mit plötzlicher Klarheit.
Außerhalb dieses Gebäudes existierte nichts. Sie saßen hier fest, waren Flüchtlinge, wie die anderen, im Inneren der Erde Gestrandeten.
Und Katharina weinte.

Samstag, 20. März 2010

Nordlicht

Titel: Nordlicht
Autor: callisto24
* * *

Ferdinand kam neu in das Haus. Seine Aufgaben waren klar umrissen und doch verloren die strengen Grenzlinien im Laufe der Monate und Jahre an Bedeutung und er entwickelte sich vom einfachen Stallburschen zu einem Handlanger für alle und für jedes.

Als er von den Besitzern gekauft worden war, zählte er gerade mal neun Jahre. So war es üblich, auch wenn man nicht direkt von Kauf sprach. Man wählte geschicktere, undeutlichere Ausdrücke, die jedoch alle nur diese eine und keine andere Bedeutung besaßen.

Letztlich spielte der Begriff auch keine Rolle. Entscheidend war, dass für Ferdinand gesorgt wurde, dass er ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen hatte. Dass er nicht verhungerte und seine Aufgabe im Leben erfüllte.

Und je älter Ferdinand wurde, desto mehr Gedanken machte er sich darüber, um welche Aufgabe es sich dabei wohl handeln könnte.

Mit zwölf Jahren war ihm bereits klar, dass es das nicht sein konnte, nicht dieses Leben.

Die Vorstellung, wie der alte Gerhardt, noch als krummbeiniger Greis, die Ställe auszumisten und die Tiere zur Tränke zu führen, ließ Ferdinand innerlich erschauern.

Dennoch wusste er nicht, welche Richtung sein Leben stattdessen nehmen sollte.

Manchmal beobachtete er seine Herrschaft, doch auch aus ihr wurde er nicht schlau. Unmöglich konnte es im Leben darum gehen, sich in Seide und Spitze zu kleiden und tagaus tagein auf hohen Absätzen mit großen Schleifen an den Schuhen über eigens für die vornehme Welt ausgelegte Teppiche zu stolzieren.

Ferdinand dachte über diese Menschen nach und darüber, was sie taten, womit sie ihre Zeit verbrachten, aber trotz all der Zeit, die er in dieses Rätsel investierte, kam er nicht dahinter, worin der Sinn ihrer Existenz bestand. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, womit sie diese rechtfertigten.

Noch dazu schienen einige dieser Exemplare eine geradezu bemerkenswerte Scheu vor denen zu hegen, die Tag und Nacht dafür arbeiteten, dass ihr Leben sich so bequem gestaltete, wie es allerorts zu beobachten war.

Oh ja, Ferdinand war durchaus weiter gekommen, als über die Grenzen dieses Gehöftes.
Als er vierzehn war, durfte er seine Herrschaft zu deren Verwandten begleiten. Wobei begleiten bedeutete, dass er hinter der Kutsche herlief, so gut er es vermochte, und darauf achtete, dass keines der Schafe, die sie als Geschenke mitzubringen gedachten, den Hunden auskam.

Auf dieser Reise, auf der er nicht nur festgestellt hatte, dass die Welt größer war, als sein Hof und Heim ihm manchmal suggerierten, sondern auch dass es auf anderen Höfen und in anderen Heimen ebenso zuging, wie auf dem, zu dem er gehörte. Dem er gehörte, wenn man es genau nahm.

Nichtsdestotrotz zählte der Ausflug in die große, weite Welt zu den entscheidendsten Erlebnissen, an die er sich erinnern konnte. Und das nicht nur, weil sein Leben abgesehen von dieser Zeit eintönig und gleichförmig verlief, sondern auch aufgrund der Begegnung, die er gemacht hatte.

Natürlich war er schon zu vor auf Gleichaltrige gestoßen. Ferdinand stand nicht als einziger bereits von Kindheit an in den Diensten betuchter Herrschaften. Und auch zu jenen, obwohl sie stets sorgfältig von dem Teil der für sie arbeitenden Bevölkerung abgeschottet waren, gehörten Kinder und Jugendliche.

Doch durfte Ferdinand sie stets nur aus der Ferne sehen. Es war vielleicht seine Aufgabe, sich um ihre Reittiere zu kümmern, sie vorzubereiten, bevor die Herrschaft sich zeigte, und zu versorgen, wenn diese schon längst wieder verschwunden war, aber während keinem dieser Anlässe konnte er mehr als einen Blick erhaschen.

Sein Ausflug in die Welt, oder – wie ihm später erzählt wurde – der Besuch einer entfernten Verwandtschaft jener, denen er diente - eröffnete ihm jedoch eine, wenn auch nur geringfügig, erweiterte Sicht.

Er war untergebracht mit den anderen Bediensteten in einem Nebengebäude, das an die Ställe anschloss.
Doch schon in der ersten Nacht wurde Ferdinand klar, dass die Regeln an diesem Ort ein wenig gelockert wurden. Selbst die erwachsenen Diener, die das Sagen hatten, stellten sich auf die neue Situation ein und genossen diese, indem sie sich an dem freizügig angebotenen alkoholischen Getränken gütlich taten und ohne die üblichen, kontrollierenden Blicke auf ihn und seine Arbeit in den Schlaf der Gerechten sanken.

Von der veränderten Luft oder vielleicht auch von der Aufregung, die das Reisen in ihm verursachte, angeregt, hielt es Ferdinand nicht auf dem aufgeschütteten Stroh, dass ihm als Schlafplatz diente und er schlich sich aus dem Stall, um einem bislang selten verspürten Instinkt nachzugehen.

Es war ihm, als fühlte er, dass an diesem Ort etwas oder jemand auf ihn wartete.
Ferdinand schlich vorsichtig um die Gebäude, erreichte das mittig gelegene Anwesen, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem seiner eigenen Herrschaft aufwies.
Und anstatt sich demütig von den hohen, hellen Wänden abzuwenden, konnte Ferdinand nicht anders, als sich Schritt für Schritt den erleuchteten Fenstern zu nähern, die vor ihm lagen.

In dem prachtvoll ausgestatteten Raum mit den verspiegelten Wänden und dem glänzenden Parkettboden sah er einen Jungen seines Alters, der sich vergeblich bemühte, den Tanzschritten, die ihm ein gepuderter und mit einer immens hohen Perücke versehener Tanzlehrer beizubringen gedachte.

Der Junge selbst trug den mit Spitzen und funkelnden Knöpfen besetzten Frack, ohne den offenbar kein männliches Mitglied der Familie sich zu zeigen wagte.

Er balancierte mühselig auf seinen hohen Absätzen und noch während Ferdinand gebannt, und ohne daran zu denken, dass es besser für ihn sei, Deckung zu suchen, in seine Richtung starrte, hob er den Blick von seinen Füßen und seine dunklen Augen trafen genau auf die des Jungen, der vor dem Fenster verharrte.

Für einen Moment weiteten sie sich und der Fremde erstarrte.

Doch noch bevor Ferdinand damit beginnen konnte, sich darüber Sorgen zu machen, ob der Lehrer oder einer der anderen livrierten und dekorativ an den Wänden stehenden Personen aufmerksam wurden, vielleicht sogar auf die Idee kamen, Ferdinand mit mehr oder weniger überzeugend handgreiflichen Mitteln auf seinen Platz zu verweisen, senkte der Fremde den Blick und fuhr damit fort, seine unbeholfenen Schritte zu proben.

Erst jetzt dachte Ferdinand daran, sich ebenfalls zurückzuziehen und er verschwand übereilt in dem Schatten des Gebüschs, an dem er zuvor achtlos vorbeigeschritten war.

Trotzdem konnte er sich noch nicht von dem Anblick trennen. Und er wusste nicht, ob es daran lag, dass er zum ersten Mal jemanden in seinem Alter aus unmittelbarer Nähe bei einer Tätigkeit beobachten durfte, die, wenn auch nicht an Arbeit, dann doch zumindest an eine seltsam aufgezwungene Form der Beschäftigung erinnerte.

Ferdinand war sich fast sicher und seine Überzeugung wuchs, je länger er dem Jungen zusah, dass dieser sich der Mühe nicht freiwillig unterzog. Ganz im Gegenteil, er quälte sich dabei und verabscheute nicht nur die unnatürlichen Schrittfolgen, sondern auch seine Kleidung, wenigstens wenn man danach ging, wie er gelegentlich an seinem Kragen zupfte und zerrte, als fühlte er sich von ihm eingeschlossen.
Wie er die Augen schloss und tief ausatmete, als versuche er sich zu beruhigen, sich selbst davon abzuhalten, etwas zu tun, was er später bereuen konnte.

Und Ferdinand war sich keineswegs sicher, ob es sich dabei um einen drohenden Wutausbruch oder um panische Flucht handelte.
Die vielen Wachen an den Wänden und Eingängen verrieten ihm jedoch, dass trotz der offensichtlich gehobenen Stellung, die der Fremde genoss, keine der Möglichkeiten zu empfehlen sei.

Ferdinand hatte sich weit genug zurückgezogen, um in der Dunkelheit der Nacht unkenntlich zu bleiben. Aber dennoch fielen ihm die Blicke auf, die der Junge wieder und wieder suchend aus dem Fenster schickte. Kurz nur, fast unauffällig und trainiert in seiner Unauffälligkeit.

Ferdinand fühlte sich an das Geschick erinnert, das er sich über die Jahre erarbeitet hatte, und das es jedes Mal einzusetzen galt, wenn er ein Ziel anstrebte, von dem die anderen, ihm übergeordneten Diener nichts wissen durften. Sei es, dass es sich um das Ergattern eines frischen Apfels aus dem Obstgarten handelte, der selbstverständlich der Herrschaft zugedacht war, oder um das kurze Bad im Bach, das im Sommer zwar verlockend, aber dennoch ungern gesehen wurde.

Offenbar hatte der Fremde sich ähnliche Techniken angeeignet, nur dass er sie in einer vollkommen anderen Umgebung anwendete, die Ferdinand nicht verstand und von der er sich nicht einmal sicher war, ob er sie verstehen wollte.

Jedes Mal, wenn der Blick des anderen in die Nacht wanderte, fragte Ferdinand sich, ob der ihn vielleicht doch sehen konnte, ob er sich gut genug verborgen hatte und welche Konsequenzen darauf folgten, sähe er ihn immer noch dort stehen, an einem Ort, an den Ferdinand nicht gehörte, in dessen Nähe er nicht einmal erlaubt war sich aufzuhalten.

Und doch konnte auch Ferdinand nicht gehen. Auf eine Weise gefesselt, die er nicht verstand, wurde er nicht müde, den Bemühungen des Jungen zu folgen, der Art, wie er irritiert sein dunkles Haar aus dem Gesicht blies, das ihm immer wieder von Neuem in die Stirn fiel.
Den kleinen, stolpernden Schritten, die jede versuchte Drehung begleiteten, oder dem enttäuschten Wedeln mit seinen Armen, wenn er sich wieder der falschen Seite zuwandte.

Ferdinand war sich nicht sicher, was ihn festhielt und fast fühlte er sich erleichtert, als der Junge, nach einem letzten und bedauernden Blick in die Dunkelheit vor dem Gebäude aus dem Raum geführt wurde.

Erst jetzt kehrte er auf schnellstem Wege in den Stall zurück und versprach sich selbst für den Rest des Aufenthaltes, keinen Gedanken mehr an seinen unbesonnenen, nächtlichen Ausflug zu verschwenden.

Sein Vorhaben wurde Ferdinand allerdings erschwert, als er in den folgenden Tagen immer öfter auf den fremden Jungen traf. Und während jeder Begegnung, die ebenso zufällig wie inszeniert wirkte, starrte der andere ihn an.

Selbstverständlich senkte Ferdinand pflichtbewusst sofort seinen Blick.
Ob es nun der Fall war, dass der Fremde zu früh auftauchte, um sein Pferd abzuholen, oder sich für einen Jungen seines Ranges vollkommen unangebracht ohne größere Begleitung als zwei oder drei Diener, die ihm aufgeregt hinterher hasteten, im Freien aufhielt.

Und nicht mit der ihm standesgemäßen Zurückhaltung sein Kinn hob und an jeglicher unwürdigen Dienerschaft vorbei schritt, ohne ihr eine Bedeutung zuzumessen.

Stattdessen sah er Ferdinand immer wieder unverfroren an und obwohl Ferdinand trotz seines gesenkten Kopfes den Blick auf sich spürte, schien der Fremde sich nicht einmal zu schämen, keineswegs das Unpassende seines Verhaltens zu spüren.

Doch spielte das alles auch keine Rolle, nicht für Ferdinand. Er kannte sehr wohl seinen Platz und auch wenn ihm Ausrutscher unterliefen, so kam es nicht in Frage, dass er ein Risiko egal welcher Art einging.

Und dennoch geschah es, dass Ferdinand hin und wieder aufsah, um unvermittelt im Blick des anderen gefangen zu sein, der ihn viel zu direkt und über eine viel zu große Entfernung hinweg ansah.

Ferdinand wusste nicht, was er mit diesen Blicken anfangen sollte und auch wenn ein Teil von ihm es bedauerte, dass die Rückkehr bevorstand, so fühlte sich ein anderer fast erleichtert, dem seltsamen Fremden entrinnen zu können.

Und doch blieb ihm am letzten Tag seines Aufenthaltes der Atem weg, als er dem Pferd den Sattel abnahm, von dem er nicht einmal gewusst, wenn auch im Stillen geahnt hatte, dass der Junge es ritt, und darunter geklemmt ein kleines Stück Papier entdeckte.

Für einen Augenblick betrachtete er überrascht die filigrane Schrift, bevor er sich besann und den Zettel rasch in seiner Brusttasche verschwinden ließ.

Erst nachdem sie wieder zurückgekehrt waren und Ferdinand sich sicher genug fühlte, suchte er den einzigen Menschen unter der Dienerschaft auf, der lesen konnte, und bat ihn, die wenigen Worte zu entziffern.

Mit kaum unterdrücktem Unbehagen, aber dennoch bereitwillig las dieser ihm vor, was auf dem Papier stand, und Ferdinand prägte sich diese Worte ein.
Und manchmal, wenn er alleine war, nahm er den sorgfältig zusammengefalteten und versteckten Zettel aus seiner Brusttasche und sagte sich vor, was sie bedeuteten.

Dabei dachte er an die dunklen Augen des Jungen, an das ungebärdige Haar und an die unbeholfenen Schritte auf dem glänzenden Parkett.

‚Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben‘, lauteten die Worte auf dem Papier. ‚Mein Name ist Pascal.‘

Ferdinand nickte und strich mit der Spitze seines durch die harte Arbeit verhornten Zeigefingers über das letzte Wort und dachte bei sich, dass der Name durchaus passte.

Und manchmal malte er sich aus, wie Pascal tanzte oder wie er auf dem Pferd saß, das Ferdinand zuvor gestriegelt hatte, und wie er sich vorbeugte und ein Stück Papier sorgfältig am Sattel verbarg.

Weitere Jahre vergingen und obwohl der Zettel dünn und abgegriffen war, trug Ferdinand ihn immer noch bei sich.

Er war siebzehn Jahre alt und kein Stallbursche mehr. Jetzt lehrte er die Jungen, die neu auf den Hof kamen, das, was er gelernt hatte.
Er trug Verantwortung und hielt sich wohlweislich vom Anwesen fern, das alle andere Gebäude überragte. Es war nicht so, als könnte er die Ablenkung wirklich gebrauchen.

Umso überraschter war Ferdinand, als eines Tages, im Spätsommer, eine Kutsche mit Gefolge eintraf.

Nicht dass dies selten geschah, seine Herrschaft empfing gelegentlich Besuch und beherbergte diesen auch für Wochen und Monate.

Doch schon als Ferdinand die Ankommenden von weitem bemerkte, fühlte er, wie sein Herz schneller schlug.

Er konnte das Wappen nicht erkennen, aber die Farben kamen ihm vage vertraut vor.

Ferdinand unterdrückte den Impuls, der ihn überkam, unterdrückte die Vorstellung, die sich in ihm ausbreitete.
Zu lange war es her, zu viel geschehen, als dass er noch wüsste, welche Farben der einzige Hof, den er außer dem, auf dem er arbeitete, kannte, für sich beanspruchte. Sie konnten ähnlich sein, konnten anders sein. Und nicht zuletzt spielten Verstand und Erinnerung ihm doch immer wieder Streiche, blieb ihm während und auch trotz der Arbeit zu viel Zeit zum Träumen, zu viel Zeit seine Gedanken auf Reisen zu schicken, die ihm nicht gut taten.

Umso verblüffter war Ferdinand, als er sich der Kutsche näherte, als er die Stallburschen beaufsichtigte, die nach bestem Wissen mit der Versorgung von Tieren und dem Transport des Gepäcks begannen.

Im ersten Augenblick glaubte Ferdinand sich zu täuschen, fürchtete sich zu täuschen, als er den stolzen Falken auf der Wappenzeichnung erkannte.

Sein Mund öffnete sich und sein Blick glitt rasch über die Fassade des Anwesens, über das geschäftige Hauspersonal, mit dem er nichts zu tun hatte, bis er wie von einer äußeren Kraft gesteuert herauf wanderte bis zu dem Vorsprung, der über dem Eingang angebracht und mit einer steinernen Brüstung versehen war.

Und dort oben, gegen diese Brüstung lehnte Pascal und sah auf ihn herab.

Er gab kein Zeichen des Erkennens, aber ein beiläufiges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als habe er auf etwas gewartet, einen Verdacht gehegt, eine Hoffnung, die sich erst jetzt bestätigte.

Und noch bevor Ferdinand auch nur seinen Mund schließen konnte, drehte Pascal sich um und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Ferdinand fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte, sein Hals trocken wurde.

Rasch, bevor jemand aufmerksam werden konnte, senkte er seinen Blick und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Pflichten zu.

Doch gelang es jenen nicht ihn soweit in Beschlag zu nehmen, dass er den Anblick vergaß.

Pascal war größer geworden, aber das war er selbst auch. Sein Haar, seine Augen waren dieselben geblieben. Beide glänzten dunkel und satte Strähnen fielen ihm in die Stirn.
Der unvermeidliche Frack war mit ihm gewachsen, die Spitzen und Bordüren auffälliger denn je.

Ferdinand schluckte, dachte an das Papier, das er immer noch in seiner Brusttasche trug.

Pascal war nur ein Besuch wie so viele vor ihm und so viele nach ihm. Seine Anwesenheit bedeutete keinen Unterschied für Ferdinand und für sein Leben.

Und obwohl es sich anfühlte, als brenne der Zettel mit Pascals Namen darauf ihm in den folgenden Tagen ein Loch in seine Haut, brachte Ferdinand es nicht über sich, ihn zu entfernen.

Stattdessen wartete er und wusste aber nicht worauf.
Er fühlte, dass etwas vorging, in ihm oder in der Welt, die ihn umgab.
Alles schien mit einem Mal um so vieles lebendiger.

Er fühlte den Wind auf seiner Haut und die Sonne in seinem Haar. Er spürte den rauen Grund unter seinen Füßen, lauschte auf den Abschiedsgesang der Vögel, atmete den süßen Duft der Herbstblumen.

Alles stand in vibrierender Erwartung.

Ferdinands Blicke durchsuchten von morgens bis abends die Wiesen, die Felder, die Gebäude.

Überall erhaschte er dunkles Haar, dunkle Augen, nur um beim Näherkommen zu erkennen, dass er sich geirrt hatte.

Und er wusste nicht, ob er über diese Irrtümer traurig oder erleichtert sein sollte.

Pascal hatte dort, wo er lebte, nichts verloren. Niemals setzte er seine Füße auf den Boden, der Ferdinand trug.
Und niemals war es ihm erlaubt auch nur ein Wort an den anderen zu richten.

Ferdinand wusste nicht einmal, ob er das auch wollte.
Er konnte sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen, was er dem anderen sagen sollte.

Aber er wusste, dass selbst ihn anzublicken zu jenen unausgesprochenen Verboten zählte, die zu brechen, Schande und Strafe nach sich zögen.

Ferdinand hörte auf zu schlafen.
Er fand nachts keine Ruhe mehr. Egal wie lange und wie schwer er gearbeitet hatte.

Hin und wieder gab er den Versuch auf, hielt inne mit seinem unruhigen Wälzen auf dem Stroh, dem kurzen Eindämmern, aus dem er schweißgebadet und ohne sich daran zu erinnern, wovon er geträumt hatte, erwachte.

Dann stand er auf und wanderte durch die tiefe Nacht oder die frühen Morgenstunden, zog seine dünne Jacke enger um den frierenden Körper und fragte sich, was um alles in der Welt er hier tat.

Er fragte sich, ob das nun alles gewesen war, ob es so auch zu Ende gehen sollte.

Vielleicht war er krank, vielleicht begann sein Sterben auf diese Weise.

Er konnte nicht schlafen, konnte nicht essen, und wenn er unterwegs war, spielten seine Sinne verrückt.

Und er bekam Pascal nicht mehr zu Gesicht.

Manchmal, wenn er sehr müde war, glaubte Ferdinand sich geirrt zu haben, dass er sich die Ankunft des anderen nur einbildete, dass darin nur ein weiteres Symptom seines unaufhaltsamen Verfalls bestand.

Bis zu jenem Tag, zu jener Nacht, in der er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, sich hinzulegen.

Er lehnte sich gegen die Holzwand in seinem Stall, verschränkte die Arme und wartete.

Er lauschte auf die Geräusche der Nacht, auf den Atem der Tiere und er wusste, dass etwas geschah. Und dass es in dieser Nacht geschehen sollte.

Ein Wind kam auf. Ferdinand hörte ihn um die Gebäude streichen, vernahm sein Flüstern, das vom Ende einer Jahreszeit und dem Beginn einer anderen erzählte. Von dem Nahen des Winters, von drohender Kälte, aber auch von Klarheit und einer Bedeutung, die Ferdinand nicht verstand.

Er ging an den schlafenden Stallburschen und Knechten vorbei, verließ das Gebäude und schloss sachte die Tür hinter sich.

Weiter lief er, fort von dem Anwesen, vorbei an den Stallungen für die kostbarsten der Pferde, die, um jene er selbst sich nur in den seltensten Fällen kümmern durfte, die für den Handel und die Zucht bestimmt waren, und er erreichte das Feld, das gleich im Anschluss an den Wald grenzte, der in der Finsternis düster und bedrohlich wirkte.

Und doch verblasste die Finsternis, ebenso wie die schwelende Bedrohung, obwohl oder gerade weil Ferdinand gerade dort im Schutz der hohen Bäume jemanden stehen sah.

Er fühlte keine Angst, nicht einmal mehr Zweifel, als er sich dem Mann näherte. Und Ferdinand spürte nicht einmal Verwunderung über die beiden wertvollen Tiere, die Pascal lose am Halfter führte.

Der Mond schien silbern über sie hinweg, spiegelte sich in Pascals Augen, in seinen weißen Zähnen, als er lächelte.

„Ich habe auch gewartet“, sagte er dann und seine Stimme klang gerade so wie Ferdinand es erwartet hatte, sanft und tief.

Er reichte Ferdinand einen der Zügel. „Kommst du?“, fragte Pascal und Ferdinand überlegte nicht, als er sich in den Sattel schwang, als sie ihre Pferde antrieben und am Waldesrand entlang jagten.

Erst als sie über die Grenzen der Grafschaft hinaus waren, als sie im stummen Einverständnis abstiegen, um den Tieren eine Rast zu gönnen, wandte Pascal sich wieder an Ferdinand, sah ihn ruhig an, bis Ferdinand seinen Blick zu Boden senkte.

„Warum tust du das?“, fragte er heiser. Und als er wieder aufsah, lächelte Pascal nahezu hilflos.

„Ich musste dich wiedersehen“, sagte er schlicht. „Nichts anderes war von Bedeutung.“
Dann drehte er sich um und nestelte an der Satteltasche von Ferdinands Pferd, zog eine pelzgefütterte Jacke heraus. „Die wirst du brauchen“, meinte er nachdenklich und reichte sie Ferdinand.

Der strich über die weiche, warme Oberfläche. „Wohin gehen wir?“, flüsterte er, als Pascal sein Pferd wieder bestieg.

„Dorthin wo sie uns niemals finden werden“, antwortete er.

Und Ferdinand glaubte ihm, als sie das Land durchquerten, dem Winter entgegen ritten.
Er vertraute Pascal, als der ihn durch Wind und Kälte führte, als die Hufen ihrer Tiere über den von herabfallenden Blättern bedeckten Boden schritten.

Und er war glücklich, als sie die weiten Schneeflächen erreichten, die einst fruchtbare Ödnis bedeckten, die sich endlos ausdehnten, als sie über sie hinweg galoppierten, auf ein Ziel zu, dass Ferdinand nicht kannte.

Die Welt dehnte sich kalt und unwirtlich vor ihnen aus und zugleich war sie von klarer, heller Schönheit.

Sie ritten lange und es wurde wieder Nacht, als die Lichter begannen den Himmel zu erleuchten, als Farben über die Schneedecken tanzten, die Dunkelheit zum Glühen brachten, bis Ferdinand innehielt und sich atemlos zu Pascal umdrehte.

„Ist es das?“, fragte er und Pascal nickte nur. „Deine und meine Bestimmung“, sagte er und streckte eine kalte Hand aus, die Ferdinand dankbar ergriff.

„Das Nordlicht“, fuhr er fort. „Es lockt und droht uns zu gleicher Zeit. Doch selbst, wenn es uns den Tod bringt, so sind wir wenigstens frei.“

„Und zusammen“, ergänzte Ferdinand, während violette und grüne Wellen über den Himmel glitten. „Für immer.“

Samstag, 6. März 2010

Missbrauch

Titel: Missbrauch
Autor: callisto 24
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Er hörte in den Nachrichten, was geschehen war. Nicht dass er ernsthaft glaubte, Arthur habe nichts Besseres zu tun, als sich bei ihm zu melden und ihm sein Herz auszuschütten, gleich nachdem er das Polizeirevier verlassen hatte.
Und doch tat es weh zu spüren, wie weit sie sich immer noch voneinander entfernten. Es war ihm fast, als vergrößere sich der Abstand zwischen ihnen von Tag zu Tag, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

Natürlich spielte es auch eine Rolle, dass sie nun nicht mehr zusammenarbeiteten, nicht mehr gezwungen waren, sich beinahe täglich zu sehen. Wobei dies nie zu einem Zwang geworden war, sondern immer den Höhepunkt des Tages darstellte, den einen Augenblick, dem Matthias erwartungsvoll entgegensah, auch wenn er nicht genau definieren konnte oder wollte, was er sich eigentlich davon erwartete.

Und nun war Arthur wegen Alkohols am Steuer verhaftet worden, und Matthias fühlte nichts als verletzten Stolz. Und das nur, weil Arthur sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn persönlich zu informieren.

Sie waren sich einmal so nahe gewesen, keine Stecknadel konnte sich zwischen sie drängen. Und in seinen schwachen Momenten wünschte Matthias sich diese Zeiten zurück.

Er rieb sich die Stirn und presste dann seine Fäuste gegen die übermüdeten Augen.

Es war das Letzte, was Matthias erwartet hatte, und mit Sicherheit das Letzte, was er sehen wollte, wenn er den Fernseher anschaltete. Sich nur vorzustellen, wie Arthur diese Nacht verbracht hatte, machte ihn krank.

Matthias griff zum Telefon, ließ dann seine Hand wieder sinken. Woher sollte er auch wissen, ob es Arthur recht war, wenn er ihn anriefe. Vielleicht wollte er gerade jetzt niemanden um sich haben, oder – und viel wahrscheinlicher – er war gerade dabei, seinen Rausch auszuschlafen.

Matthias ballte seine Hände zu Fäusten und presste sie dann gegen seine Augen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und krümmte sich vornüber.
Doch das Bild wollte nicht vergehen. Die Aufnahme, die von Arthur auf dem Revier gemacht worden war und durch Umstände, die sich womöglich nie wieder nachverfolgen ließen, in die Presse geraten waren, hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt.

Sicherlich schenkte kaum jemand diesen Nachrichten aus der Sparte Prominenten-Klatsch allzu viel Aufmerksamkeit, aber Matthias kam es dennoch so vor, als habe jeder Kanal mit Wonne und in entsprechend genüsslicher Länge Arthurs Foto ausgestrahlt.

Wie sah er aus? Wie hatte sich der doch gerade eben erst so attraktive Mann verwandelt?
Seine Haut wirkte bleich und teigig und Matthias wusste leider, dass es dieses Mal nicht die ungünstige Beleuchtung war, die dafür verantwortlich zeigte.

Das Schönste in Arthurs Gesicht, seine dunklen ausdrucksvollen Augen, waren blutunterlaufen und verquollen. Sie schienen kleiner zu werden, je mehr sein Gesicht auseinanderging.

Matthias hatte versucht, es zu leugnen. Aber die Wahrheit ließ sich nicht mehr abstreiten. Arthur ließ sich gehen. Er verfiel auf rapide und geradezu erschreckende Weise.

Auch wenn er es noch so sehr versuchen wollte, so konnte Matthias sich nicht mehr vormachen, dass Arthur lediglich in einer Phase steckte, dass er sich wieder finge und seinen Schwung, die Energie, seine Ausstrahlung und das unnachahmliche Charisma, das ihm so viele seiner Rollen verschaffte, zurückgewänne.

Zu tief steckte der Ältere bereits in dem Sumpf, in den er sich freiwillig begeben hatte.
Und nun wusste es jeder. Die ganze Welt wusste Bescheid. Und die Chancen auf einen neuen Weg, auf die Gelegenheit, die es am Schopf zu ergreifen galt, und die ihm einen Neustart seiner Karriere ermöglichten, sanken mit jeder Sekunde. Mit jedem Telefonanruf, der durch die Leitungen ging, mit jedem Blog-Post, der das Thema aufgriff. Und mit jeder Sendung, die nichts Besseres im Programm hatte, als wieder und wieder das Bild von Arthurs Schande zu zeigen.

So schnelllebig die Medien dieser Tage sich auch gebärdeten, so gründlich speicherte die Branche Vorfälle wie diese, ordnete sie nach Publikumswirksamkeit in Kategorien und berechnete Verkaufszahlen aufgrund des öffentlich erweckten Eindrucks.

Und wie Matthias es auch drehen oder wenden wollte, für diese Art von Publicity war Arthur letztendlich zu alt. Sie funktionierte nicht mehr in seiner Generation, funktionierte nicht, wenn der Protagonist nicht mehr jung genug war, um mit dem Nimbus des missverstandenen und am Leben erkrankten Teenagers versehen zu werden. Ein Nimbus, der heutzutage durchaus auch noch bei Dreißigjährigen passte.
Aber eben nicht, wenn die Vierzig längst überschritten, das Zielpublikum auf die eine oder andere Art ihre eigene Identität gefunden oder akzeptiert hatte.

Matthias vergrub seine Finger in den Haaren, packte ganze Büschel davon und zerrte an ihnen, bis es weh tat.

Vielleicht war das ein Teil des Problems, so wie er selbst fraglos ein Teil von Arthurs Problem war. Soviel versuchte er zumindest sich selbst gegenüber zuzugeben.

Arthur war weit davon entfernt, eine eigene Identität zu entwickeln. Und so wie es aussah, hatte er niemals eine besessen.

Deshalb war er so gut in seiner Arbeit. Er schaffte es mühelos, sich in jemanden zu verwandeln, der ebenso eindimensional wie komplex sein konnte. Arthur war in der Lage einen Charakter zu entwickeln, zu ergründen und sich mit Haut und Haaren in ihn zu vertiefen.

Und Matthias beschlich manchmal der Verdacht, dass er auch sein Leben auf genau diese Art führte.
Arthur probierte sich aus. Er spielte mit den Alternativen.

Selbstverständlich hatte Matthias sich die Mühe gemacht, in Arthurs Biographie zu stöbern, als sie beide für ein derart zeitintensives Zusammenspiel engagiert worden waren.
Wenn er so viel Zeit mit jemandem am Set verbringen musste, dann war es immer gut, sich zumindest ein wenig vorzubereiten, Gemeinsamkeiten auszuloten, heiße Themen vermeiden zu lernen.

Matthias war schon immer gut damit gefahren, sich unter den Kollegen Freunde zu machen, enge Freunde.
Es kam gut in der Presse. Und es half definitiv der eigenen Karriere weiter.
In diesem Geschäft ging nichts über Beziehungen und man konnte niemals wissen, wer aus einem umfangreichen Ensemble der Glückliche war, der den nächsten Hit landete.
Gut, wenn man mit demjenigen dann auf gutem Fuß stand. Ausgezeichnet, wenn man bereits eine Freundschaft pflegte.

Matthias befand sich lange genug in diesem Metier. Er war in jungen Jahren eingestiegen, als die Suche nach Anschluss noch ein Grundbedürfnis gewesen war.
Und in der Regel konnte er sich auf seinen Instinkt verlassen.

Schon sehr oft hatte er beobachten dürfen, wie einer seiner guten Freunde aus einem gemeinsamen Projekt ausstieg um eine Stufe höher zu klettern, ob es sich nun um Kino handelte oder um eine Mainstream-Serie. Bislang hatte ihm allerdings noch keiner der Kontakte wirklich geholfen, nicht auf eine umwerfende und karriereanschiebende Weise.
Sei es, dass der andere keine Möglichkeit besaß, Matthias weiterzuhelfen, oder dass er schlichtweg seine Absicht durchschaute, darüber versuchte er nicht nachzudenken. Es führte zu keinem Ergebnis und Matthias hatte nicht vor, seine Zeit zu verschwenden.

Auch aus diesem Grund fühlte er sich schuldig. Nicht dass er sich mit Absicht von Arthur zurückgezogen hatte, nicht bewusst, das ganz gewiss nicht.

Aber er entwickelte sich und er besaß jedes Recht dazu. Jung war er, jung genug, um in einem Jahr in der Musik seine Obsession zu finden, in einem anderen in der Gründung einer Produktionsfirma und im nächsten in der Malerei.
Darsteller wie er verdienten nicht die Welt, es war immens wichtig, sich so viele Standbeine wie möglich aufzubauen.
Selbst Arthur hatte ihn darin bestärkt. Und der Himmel wusste, dass Arthur viel ausprobiert hatte.

In seiner Jugend ließ er sich die Haare lang wachsen und experimentierte mit Drogen. Er hatte in Künstler-WGs gehaust und vom Existentialismus gekostet.

Wenn Matthias sich die Bilder aus dieser Zeit im Internet herunterlud, dann konnte er nicht angeben, ob Arthur in der Rolle des Freigeistes überzeugender war, als in der Rolle des braven Hausmannes, die er ebenso getestet hatte, wie die eines besessen Workaholics, der von Gig zu Gig reist ohne sich eine Pause zu gönnen.

Und als Matthias ihn kennengelernt hatte, da ergab Arthurs Verhalten letztendlich auch einen Sinn. Nicht von Beginn an, aber im Laufe der Zeit.
Als Matthias nicht anders konnte, als zu bemerken, dass Arthur mehr und mehr begann, ihn und sein Verhalten zu imitieren. Als wollte er seine Jugend zurück, als ginge er mit einer Midlife-Crisis um, oder als suche er einfach nur ein Vorbild, das er kopieren könne, um sich nicht damit auseinanderzusetzen, was immer noch verborgen zu tief in ihm selbst schlummerte, als dass er es, ohne sich zu verrenken, erreichen konnte.

Matthias hob den Kopf und stützte das Kinn auf seine Fäuste.

So klar hatte er es bisher noch nicht vor sich gesehen. Es handelte sich um eine klare Frage von Nachahmung, von Imitation aus einem Gefühl der Leere heraus.

Arthur wusste nicht, wer er war. Und deshalb füllte er seine Leere mit den Menschen, die ihm über den Weg liefen.
Er suchte den Anschluss, so wie Matthias ihn suchte, nur aus anderen Gründen.

Arthur kopierte ihn, weil er sein wollte wie Matthias, weil er ihn für ein erstrebenswertes Vorbild hielt. So wie er zuvor vielleicht einen brotlosen Künstler oder einen glücklichen Familienvater für ein Vorbild gehalten hatte, für die letzte Rolle, die er spielen werde.

Nur merkte er jedes Mal wieder, dass es nicht seine Rolle war. Und irgendwann musste er gemerkt haben, dass er nicht mehr so viel mit Matthias gemein hatte, wie er eine Zeitlang wohl glauben wollte.
Dass er nicht mehr durchging als jugendlicher Held. Dass seine Rollenverteilung auf anderen Ebenen gesucht wurde.

Und Matthias, auch wenn er sich dessen nicht bewusst gewesen war, konnte Arthur nicht mehr ertragen, nicht mehr in dieser Enge, mit dieser Nähe.

Nur deshalb hatte er sich zurückgezogen, deshalb war er mit beiden Beinen in die Möglichkeit der Musikproduktion gesprungen. Deshalb hatte er Kontakte am Rande der Branche aufgegriffen.

Und Arthur nach und nach fallen gelassen, vergessen.

Nicht dass er es gewollt hatte, aber es war geschehen.
Und nun konnte er nichts mehr daran ändern.
Nun wusste er nicht einmal, ob es wirklich ein Fehler gewesen war.

Matthias schüttelte den Kopf. Von seiner eigenen Perspektive aus gesehen handelte es sich wohl auch nicht um einen Fehler.
Matthias befand sich noch inmitten des Getriebes. Vielleicht nicht mehr auf der Überholspur, aber dafür weit oben.
Und wenn er es weiter hinauf schaffen wollte, dann gelänge ihm das nicht um jeden Preis, nicht unbedingt im Doppelpack. Nicht mit Arthur.

Vielleicht hatte er im Stillen geahnt, dass in Arthur die Wurzel zum Absturz schlummerte. Vielleicht gefühlt, dass seine Instabilität eine schwelende Bedrohung für Matthias eigene, auf lange Zeit angelegte Karriere war.
So wie Matthias gespürt hatte, dass es besser für ihn war, sich zu lösen. Besser für ihn selbst.

Matthias rieb sich die Stirn. Natürlich hätte er sich denken können, dass es nicht gut liefe, dass es für Arthur nicht gut ausginge.
Das Geschäft lief nicht so. Alles hing zusammen und die Antennen schlugen in die unterschiedlichsten Richtungen aus, schneller als selbst der flexibelste Produzent sich nach dem Wind drehen konnte.

Eine Kleinigkeit konnte ausreichen. Und eine Kleinigkeit hatte ausgereicht.

Matthias glaubte keine Sekunde die offizielle Version. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Geschichten für Arthurs Charakter ausgelaufen waren, dass keinem der Autoren eine neue Wendung, ein Kniff einfiele, der die Rolle am Leben hielt. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass die Produzenten sich wirkliche Erfolge davon versprachen, ihn aus der Besetzungsliste zu entfernen. Nicht so. Und nicht so plötzlich.

Aber das Schlimmste war, dass er sich selbst keineswegs von Schuld freisprechen konnte. Dass er fühlte, wie sein Abstand zu Arthur, die sich stetig erweiternde Kluft Anlass zu Spekulationen gab und unangenehme Schwingungen am Set verbreitete.

Dass er wusste, er hätte das Unvermeidliche aufhalten können. Sich für Arthur und seinen Verbleib in der Serie einsetzen. Es war nicht notwendig, stumm zu akzeptieren, was von oben bestimmt wurde. Nicht, wenn er wusste, dass es bis zu einem gewissen Grad aufgrund seines Verhaltens geschehen war. Dass die angedeutete Möglichkeit, eine weitere Zusammenarbeit sei schwierig, die machtausübenden Personen einzeln nach und nach unter Druck gesetzt und dazu bewogen hatte, eine Entscheidung zu treffen.

Eine Entscheidung, von der er sehr gut wusste, von der sie alle sehr gut wussten, dass sie zu Matthias Gunsten ausfallen musste.
Wenn auch nicht mehr der Star der Serie, so blieb Matthias Charakter doch eine Rolle, die den Zuschauern ans Herz gewachsen war, ohne die sie sich weitere Verläufe nicht vorstellen konnten.

Arthurs Figur dagegen war erheblich komplexer. Sie beinhaltete zu viele Facetten, zu viele unterschiedliche Grautöne, als dass er für jedermann leicht zu verkraften war.

Es existierten regelrechte Feinde seines Charakters. Ebenso wie seine Fans existierten, die Fans, die fraglos dagegen protestiert hatten, dass ihre Lieblingsfigur aus der Serie entfernt wurde.

Aber offenbar nicht genug, um Arthurs Selbstvertrauen ausreichend Schub zu verleihen.
Vielleicht existierten auch mehr seiner Feinde, mehr Meinungsbildner, die ihr Wohlgefallen darüber äußerten, dass Arthurs Geschichte ihr Ende gefunden hatte. Endlich, wie diese lautstark verkündeten.

Und doch ließ sich nicht leugnen, dass diese Rolle Arthur letztendlich einen unbestreitbaren Karriereschub verpasst hatte.
Demnach war es nicht nur blauäugig von Matthias allein, wenn er geglaubt hatte, dass Arthur sich ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, umdrehte und einer neuen Aufgabe zuwandte. Einem neuen Leben und, wenn es denn sein musste, einem neuen Bild, dem gerecht zu werden, er sich erhoffte.

Doch dies war offenbar nicht geschehen. Und Matthias musste zugeben, dass er nicht genau wusste, was eigentlich geschehen war.

Sicher, sie hatten versucht, ihre Freundschaft noch einmal aufleben zu lassen. Sie hatten sich getroffen wie in alten Zeiten, hingen noch einmal zusammen ab, versuchten einen Abschluss zu finden.

Nein. Matthias presste seine Lippen zusammen. Er hatte versucht, einen Abschluss zu finden.
Für ihn war das unvermeidliche Ende in Sichtweite gerückt.

Ihre Wege, die ohnehin bereits verschiedene Richtungen einschlugen, trennten sich nun endgültig.
So wie das Leben spielte. Und wie Matthias es von Anfang an erwartet hatte. Er war in der Lage dazu, abzuschließen, in der Lage loszulassen und zu neuen Ufern aufzubrechen. Aber Arthur?

An diesem Abend hatte Matthias es bereits geahnt. Arthurs Weg existierte nicht. Gut, vielleicht existierte er irgendwo, aber Arthur hatte ihn noch nicht gefunden. Und so wie er aussah, wie er auf Matthias wirkte, war nicht davon auszugehen, dass er ihn überhaupt suchte.

Natürlich konnte er nicht seinen Finger darauf legen. Die letzte Szene war damals noch nicht abgedreht worden, Arthurs Arbeit noch nicht beendet. Und wenn er etwas Neues in Aussicht hatte, vielleicht sogar etwas, über das er Stillschweigen bewahren sollte, so erwartete Matthias beinahe, dass er nicht mit der Sprache herausrückte.

So gut verstanden sie sich eben nicht mehr. Und vielleicht hatten sie das auch nie. Alles, was sie geteilt hatten waren oberflächliche Scherze und das Bedürfnis, sich vor der Kamera in Szene zu setzen. So gut es ihnen möglich war.
Sicher verband auch das. Sicher verbanden eine äußerliche Anziehungskraft und die Tatsache, dass Arthur immer und überall ein willkommener Freund und Kollege war.

Und genauso sicher wusste Matthias, dass er selbst eben kein netter oder willkommener Kerl war, nicht im Geringsten. Er versuchte es manchmal, er versuchte immer so zu tun. Aber er versagte regelmäßig.

Sein inneres Wesen sah doch zu oft unter der dünnen Haut, mit der er es zu vertuschen suchte, hervor. Es pikte an den Schichten und ließ sich erraten, wenn er jemanden zu lange und zu nah an sich heranließ.

Matthias schloss seine Augen und rieb langsam, methodisch seine Stirn.

Jeder konnte sehen, was ihn ausmachte, wenn er nur genau genug hinsah. Matthias machte sich da nichts vor. Er wusste sehr gut, dass dieser genaue Blick auch oft der Grund dafür war, dass er seine so guten und engen Freunde nicht mehr wiedersah. Wenn sie erst einmal eine andere Richtung einschlugen, von anderen Menschen umgeben waren, dann sahen sie hinter die Fassade, die Matthias so mühsam errichtet hatte.
Sie erkannten, dass er nicht ehrlich war, dass es ihm nicht um sie ging, nicht einmal um ihre Freundschaft. Sie sahen, dass er mit ihnen ebenso verführe, wie sie es letztlich mit ihm taten.

Matthias hielt in der Bewegung inne.
Nur Arthur nicht. Und er war sich sicher, manchmal war Matthias sich sicher, dass Arthur schon sehr früh einen Blick hinter die Fassade geworfen hatte.

Ihre Beziehung war wirklich und tatsächlich eng gewesen. Und wenn Matthias es zugeben müsste, so sagte er, dass sie vermutlich enger war, als jede andere, die er jemals mit einem Kollegen geteilt hatte.

Arthur müsste schon ausgesprochen blind und taub sein, wenn er nicht einen Hauch von Matthias Absichten erahnte.
Und so dumm war er nicht, dass nicht auch er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Matthias wusste, dass Arthur seine Filme kannte, dass er sie nicht allzu lange Zeit nachdem sie Bekanntschaft geschlossen hatten, sah.

Manchmal erzählte er ihm davon. Und charmant wie Arthur war, geizte er nicht mit Komplimenten, die Matthias angenehm den Rücken hinunter rieselten.

Nicht, dass er selbst den Gefallen erwidert hatte.
Sicher, auch er hatte einige von Arthurs Filmen gesehen. Aber er hatte sich dann doch auf die wenigen, bekannteren beschränkt. Und mit Sicherheit hatte er niemals ein lobendes Wort darüber verloren, überhaupt ein Wort verloren.

Es war für ihn, als begann Arthurs Existenz mit seinem Eintritt in die Serie oder in Matthias Leben, was letztlich dasselbe bedeutete. Und anders wollte Matthias es doch auch gar nicht haben. Es ergab keinen Sinn, Zeit und Mühe in etwas zu investieren, was keine Zukunft beinhaltete.

Keine seiner Freundschaften, seiner Beziehungen besaß jemals eine Zukunft. Damit hatte Matthias sich schon vor langer Zeit abgefunden.

Für sich selbst erkannte er, was oder wer er wirklich war. Er war der selbstsüchtige Einzelgänger, das Individuum, das mit dem Kopf in den Wolken achtlos auf denen herum trampelte, die niedertrat, die er von dort oben nicht einmal sehen konnte. Natürlich wusste er, dass sie existierten. Aber es war ein schwaches, unklares Wissen, es trug kein Gesicht.
Bis jetzt nicht.

Matthias hatte sich damit abgefunden, dass er so war, dass er so sein musste, in seinem Beruf.
Und für seine Kunst, wenn man das, was er tat, Kunst nennen wollte.

Schauspielerei war ein einsames und hartes Geschäft. Jeder musste jederzeit in der Lage sein, einen anderen ausbooten zu können, was immer es auch kostete.
Denn das Einzige, was wirklich zählte, nannte sich Erfolg. Und der Erfolg war eine kurzlebige Angelegenheit. Er wollte ständig umworben werden. Für ihn musste man sich erniedrigen, sich erdreisten Grenzen zu überschreiten, die unter normalen Umständen eindeutig Tabu wären.

Und Matthias war nun einmal dazu bereit. Hatte sich diesem Leben verschrieben.

Arthur war nur ein Stein in seinem Weg, nur ein Kollege, der nicht verkraftete, wo es nichts zu verkraften gab.

Matthias seufzte auf. Eigentlich hatte er, hatte jeder erwartet, dass Arthur die Angebote auf Silbertabletts serviert wurden. Dass er nur zu wählen brauchte. Dass der Erfolg in einer Rolle wie der beendeten, ihn zu einer größeren Bandbreite an Angeboten verführte.

Aber selbst wenn diesem so sein sollte, so war davon nichts zu spüren. Von keinerlei positiven Entwicklungen war etwas zu spüren. Beim besten Willen nicht.



Widersinnig. Ständig waren neue Produktionen im Gerede. Ständig wurden Namen gehandelt. Doch Arthurs war nicht dabei, war nie dabei.

Als Matthias das auffiel, das war das erste Mal, dass er damit begann, sich Sorgen zu machen.

Er erlaubte es sich nicht, Arthur war immerhin weitaus älter als er selbst. Er war erfahren und konnte ausreichend Erfolge auf seinem Konto verbuchen, um sich ohne Schuldgefühle eine Auszeit gönnen zu dürfen.

Nur dass es sich um keine Auszeit handelte.
Und dass Matthias dies bereits spürte, als sie ihren letzten Abend zusammen verbrachten.

Die Geschwindigkeit, mit der Arthur seine Gläser leerte, die geradezu konzentrierte Methodik, die er aufbrachte, als er sich mit offenkundiger Absicht betrank, sagte bereits viel. Mehr aber noch sagten sein leerer Blick, die graue, verlebte Farbe seiner Haut, die hängenden Schultern.
Wenn er nicht vor der Kamera oder auf der Bühne stand, schenkte Arthur seiner Kleidung niemals Beachtung, aber die Art, wie er nun begann herumzulaufen, übertraf alles bisher dagewesene. Und wenn Matthias sich nicht täuschte, so trug Arthur zur Krönung des miserabel sitzenden Schlabber-Outfits zwei verschiedenfarbige Socken.
Ein Unding für jemanden wie Matthias, der stets darauf achtete, gepflegt und möglichst elegant aufzutreten.

Aber auch da hatte er noch geglaubt, glauben wollen, dass es die Auszeit war, die Arthur sich genehmigte, dass er einfach Ferien machte vom Druck. Und ein bisschen Alkohol, ein wenig durchfeiern hatte noch nie geschadet.

So dachte er. Und dann dachte Matthias gar nicht mehr über Arthur nach. Er hatte schließlich genug zu tun. Seine Arbeit ging weiter. Die Erwartungen lasteten auf ihm und er spürte sie stärker mit jedem neuen Einbruch, den die Einschaltquoten erlitten.

Natürlich konnte es nicht an ihm liegen, nicht an seiner Darbietung. Auch nicht am Wegfall Arthurs, wenigstens versuchten die Produzenten sich und allen, die zuhören wollten, dies einzureden.

Aber die Tatsache blieb, dass es mit der Serie bergab ging.

Nur, wenn Matthias glaubte, auch dies könne Arthur wenigstens eine kleine positive Seite des Ganzen abgewinnen lassen, dass er den auffallenden Niedergang als indirektes Kompliment empfinden durfte, so irrte er sich offenbar auch diesmal.

Anscheinend lag es nicht in Arthurs Art sich daran zu erfreuen, wenn ein Zusammenbruch bevorstand. Anscheinend erkannte er nicht einmal seinen eigenen Vorteil in der Tatsache, dass sein Wegfallen eine derartige Lücke riss.

Ebenso wenig wie er Matthias jemals einen Vorwurf gemacht hatte.

Matthias‘ Augen flogen auf. Dass er das zuvor nicht erkannte hatte? Er schüttelte den Kopf, dass sein Haar ungebärdig in die Stirn fiel.

Er wollte nicht daran denken, wollte nie daran denken, dass ihm jemand seine Taten vorhielt. Das war der Grund, weshalb er bereits abblockte, bevor es geschehen konnte. Warum er verschwand, ohne sich die Meinung des anderen anzuhören. Und wenn er Glück hatte, vergaß derjenige nach geraumer Zeit, was er ihm hatte sagen wollen.

Nur Arthur nicht. Er hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, nicht einmal im Ansatz. Und wenn Matthias darüber nachdachte, dann wurde ihm klar, dass er jede Gelegenheit dazu gehabt hätte.

Lange genug hatte es gedauert, dass sie sich auseinanderlebten. Oft genug drückte Matthias sich mit fadenscheinigen Ausreden in letzter Minute vor einer Verabredung. Oft genug hätte er ihn am Set zur Rede stellen können, ihn fragen, warum er seine Anrufe nicht erwiderte, warum ihre Treffen weniger und weniger würden, bis sie schließlich ganz ausblieben.

Warum Matthias, der keinen Fotografen ausgelassen hatte, um seine enge Freundschaft mit Arthur zu demonstrieren, ihn auf einmal mied wie die Pest.

Nein, Arthur hatte nichts dergleichen getan. Auch das war nicht seine Art.
Er hatte sich anderen Dingen zugewandt. Wenigstens sah es von Weitem so aus – zu dieser Zeit.

Matthias wollte nichts davon wissen, aber in dieser Branche herrschte nie Stille. Irgendjemand wisperte stets eine Neuigkeit und es lag an einem selbst, ob man sie als wertvoll erachtete.

Zuerst freute Matthias sich. Es machte Sinn für Arthur, dass er sich hinsetzte, um zu schreiben. Matthias kannte einige seiner Gedichte. Es hörte sich an wie eine nette Nebenbeschäftigung und bestimmt war es nicht die schlechteste Möglichkeit der Welt, seine Zeit damit zuzubringen, ein Buch herauszubringen, Lesungen zu veranstalten. Was immer Arthur glücklich machte.

Nur, dass Matthias von diesen Plänen bald nichts mehr hörte. Nur, dass er sich eigentlich nicht einmal darüber wunderte. Sicher, Matthias verstand nichts von Gedichten, aber was er von Arthur mitbekam, erschien ihm doch mehr als langweilig.

Natürlich verstand er eigentlich auch nichts von Musik. Und natürlich war ihm klar, dass seine Produktionsfirma auch nur den Bruchteil einer Chance erhielt, weil sein Name Bekanntheitsgrad genoss und er diesen auf jede nur erdenkliche Art auszunutzen gedachte.

Wenn Arthur dies mit seinen Gedichten ebenso anstellte, dann wäre ihm immerhin ein Achtungserfolg in kleinsten Kreisen seiner Anhänger sicher.

Aber es sah nicht so aus, als gebe Arthur sich diesbezüglich auch nur den Hauch von Mühe.

Es sah eher so aus, als täte er buchstäblich gar nichts. Arthur war so gut wie unsichtbar. Und nun war es auch nicht mehr möglich sich einzureden, dass er fleißig an einem Projekt arbeite, dass er wie Phoenix aus der Asche zu neuer Hochform auftauche.

Nichts dergleichen. Nein. Er war festgenommen worden wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss.
Es war definitiv armselig.
Es war armselig, was von dem Ereignis bekannt war. Ob es der Wahrheit entsprach konnte Matthias noch nicht beurteilen und er wusste weder, ob Arthur bereit war darüber zu sprechen, noch, ob er selbst bereit war, sich die bittere Wahrheit anzuhören.

Offenbar war Arthur betrunken genug gewesen, um kaum noch stehen zu können.
Betrunken genug, dass man es ihm von Weitem bereits ansah.

Und offenbar hatte er jede Zusammenarbeit mit den Behörden verweigert.

Der freundliche Mann, den Matthias kannte, er war verschwunden, ausgewechselt mit einem verwahrlosten, selbstsüchtigen, rücksichtslosen Trunkenbold.

Mit jemandem, den es nichts ausmachte, sich oder andere zu gefährden. Und das war Arthur passiert, jemandem, dessen Mitgefühl und Freundlichkeit immer zu den besonderen Merkmalen seines Wesens gehört hatten.

Matthias rieb seine Schläfen. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Warum es geschehen war.

Wenn er sich Arthurs Erscheinungsbild ins Gedächtnis rief, dann schien ihm fast, als habe der auch seinen Sport aufgegeben, als habe er alles aufgeben, alles was ihn bisher ausgemacht hatte.

Und wofür das? Für eine alte Sucht? Um mit Selbstzerstörung zu experimentieren?

Matthias schüttelte den Kopf. Es sah Arthur nicht ähnlich, sich auf diese Art kindisch zu verhalten. Es sah ihm nicht ähnlich, zuzulassen, dass sein Leben eine solche negative Wendung nahm.

Matthias stand auf. Er schob die Hände in die Hosentaschen und sah auf seine Schuhe. Sie waren blank geputzt wie immer. Keine löchrigen Treter mit aufgelösten Schuhbändern, wie Arthur sie als bequem erachtete.

Matthias war sich absolut sicher, dass ihm nie etwas in dieser Richtung passieren könnte. Er war zu koordiniert, zu beherrscht. Es fiel ihm nicht ein, seine Laufbahn auf eine derart dumme Weise aufs Spiel zu setzen. Aber Arthur?

Matthias erinnerte sich an Berichte von Trinkgelagen, von Drogenexzessen. Aber selbst wenn er den Halbwahrheiten Glauben geschenkt hätte, so bestand doch kein Zweifel daran, dass Arthur diese Phase bereits vor langer Zeit als Jugendsünde abgehakt hatte.

Es war nicht möglich, dass er sich derart zurückentwickelte.

Matthias erinnerte sich plötzlich an die Anfänge ihrer Freundschaft, an das Interesse, mit dem Arthur ihm und seinem Verhalten gefolgt war.
Wie er ihn gemustert hatte, von einem Tag auf den anderen das Rauchen aufgab, von Kaffee auf Tee umstieg und sich tatsächlich dazu überreden ließ, wenigstens zu den Anlässen, zu denen sie gemeinsam geladen war, in den Designer-Anzügen aufzutreten, die Matthias ihm empfahl.

Sie machten Sport zusammen. Matthias nahm ihn mit zu seinem Training. Er überredete ihn zu Einigem und das Seltsame daran war, er hatte es bis jetzt nicht einmal gemerkt.
Bislang war er der Meinung gewesen, sie hätten all diese Entscheidungen in gemeinsamem Einvernehmen getroffen, dass jeder sich von dem anderen inspirieren ließ.
Aber so war es nicht.

Arthur hatte von Anfang an sein Verhalten imitiert, sich ihm angepasst. Er war mitgelaufen, hatte Matthias studiert, sich in allem an seiner Person orientiert.

Und ob Matthias dies nicht bemerkt hatte oder sich sogar geschmeichelt fühlte, war spätestens in dem Moment unwichtig geworden, in dem Arthur sein Verhalten aufgab und einen neuen Weg beschritt, von dem Matthias erst jetzt erkannte in welche Irren er ihn geführt hatte.

Matthias schloss seine Augen und atmete tief ein. Er hielt die Luft an, zählte bis zehn und ließ sie langsam wieder entweichen. Seine Lunge schmerzte, doch es war kein Vergleich zu dem Stich, den er im Herzen fühlte, dachte er an Arthur und an Arthurs Nacht im Gefängnis.

Matthias biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte und schüttelte dann heftig den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Er konnte sich einreden, was er wollte. Er konnte seine Zeit damit verbringen, jede auch nur erdenkliche Erklärung an die Wand zu malen, doch es spielte keine Rolle.

Früher oder später musste er sich ihm stellen. Und je länger er es heraus zögerte, desto schmerzhafter und unangenehmer konnte es werden. Egal was Arthur ihm an den Kopf warf, er konnte damit umgehen. Er hatte keine Probleme damit, es zurückzuwerfen, dem anderen seine Gedanken zurecht zu rücken, die Schuld dorthin zu schieben, wo sie zu suchen war.

Wollte Arthur den pathetischen Mistkerl spielen, dann sollte er dies ruhig tun. Nur Matthias ließ sich nicht in dieses Spiel mit hineinziehen. Nicht, solange er dies verhindern konnte.

Er griff seine Jacke und verließ nur einen Augenblick später sein Apartment.

Den Weg zu Arthur konnte er im Schlaf zurücklegen. Nur dass er hellwach war, seine Sinne gespannt.
Keine Chance, dass er sich einen Fehler im Verkehr erlaubte, der auch nur annähernd in Verbindung mit Arthur gebracht werden konnte.

Vorsichtig fuhr er zweimal um den Block, in dem sich Arthurs Haus befand, suchte die Gegend nach Reportern und Fotographen ab. Doch zu seiner Erleichterung schienen jene entweder bereits abgezogen zu sein, oder sie hatten die Möglichkeit aufgegeben, ein ergiebiges Ergebnis ihrer Geduld zu erhalten.

Und wie man es auch drehen und wenden mochte, Arthur war vielleicht nicht der einzige skandalumwitterte Held in einer Stadt wie dieser. Im Gegenteil, der Vergleich ließ ihn als kleines Licht erscheinen, auch wenn der Vorfall es ins Fernsehen geschafft hatte.

Matthias seufzte und zog die Bremse. Langsam und vorsichtig parkte er in ausgiebigem Abstand zu Arthurs Heim, schob sie die Sonnenbrille auf die Nase und zog eine Kapuze über den Kopf. Erst dann verließ er den Wagen.

Sicherheitshalber blickte er sich vor Arthurs Haustür noch einmal gründlich um, doch mit Ausnahme des Zwitscherns der Vögel und eines gelegentlichen Hundegebells war nichts zu hören.

Um eine gute Gegend handelte es sich, soviel musste Matthias zugeben. Wenn man hier wohnte, sollte man es eigentlich nicht nötig haben, die Nächte in heruntergekommenen Bars totzuschlagen. Oder doch vielleicht gerade dann.

Matthias schürzte die Lippen, bevor er klingelte. Er klingelte noch zwei weitere Male, gründlich und laut, bevor langsames Schlurfen aus dem Inneren des Hauses ihm antwortete.

Matthias starrte an die Tür, fixierte mit neutralem Gesichtsausdruck das Guckloch, das sich exakt in der Höhe seines Gesichtes befand.

„Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken“, sagte er dann. „Ich weiß, dass du da bist. Also mach mir auf.“

Einen Moment lang geschah gar nichts, doch dann hörte Matthias, wie ein Riegel zurückgeschoben, eine Kette ausgehängt wurde.

Langsam öffnete sich die Tür und Arthur stand mit hängenden Schultern vor ihm. Sein Haar stand wirr von seinem Gesicht ab. Es glänzte fettig und auf seiner Nase saß eine große Sonnenbrille.

Matthias schüttelte missbilligend den Kopf. „Lass mich rein“, befahl er dann resolut und schob sich an Arthur vorbei ins Haus.

Arthur wich leicht zurück, schwankte ein wenig und schloss dann die Tür hinter Matthias, als dieser sich bereits auf dem Weg ins Wohnzimmer befand.

Matthias setzte seine Brille ab und legte sie auf den Tisch, bevor er sich umsah.

Die zerknüllten Decken auf der Couch, die leeren Gläser und die Packung Aspirin bewiesen, dass sein Läuten Arthur allem Anschein nach aus bewusstlosem Schlaf geweckt hatten.

Schließlich drehte Matthias sich zu Arthur um. Er stemmte die Arme in die Seiten und legte seinen Kopf schief. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“

Arthur stand still vor ihm, sah ihn durch dunkle Brillengläser ausdruckslos an.
„Nimm die Sonnenbrille ab“, murrte Matthias ärgerlich. „Kopfschmerzen geschehen dir nur recht.“

Arthur atmete tief aus. Matthias verfolgte wie sich sein Brustkorb unter dem grau verschwitzten Shirt hob und senkte. Dann fasste Arthur nach oben, verfehlte, aber ergriff schließlich doch seine Sonnenbrille und schob sie zurück in sein Haar. Er blinzelte gegen das Licht, obwohl die meisten Fenster zum größten Teil durch Gardinen und Jalousien vor dessen Einfall geschützt waren, und verzog schmerzerfüllt sein Gesicht.

Matthias verschränkte seine Arme vor der Brust, schüttelte den Kopf. „Hast du denn kein bisschen an andere gedacht?“

Arthur senkte den Kopf, rieb sich über die Stirn und dann seine Augen. Als er wieder aufsah, waren diese nicht nur verquollen sondern glänzten rötlich, und wenn Matthias richtig lag, mit Tränen.

„Habe ich nicht“; erklärte Arthur dann und der leise Seufzer, den er ausstieß, bewies mehr als alles andere, dass ihn auch das Sprechen schmerzte.

„Du solltest dich wirklich schämen“, zischte Matthias. „Was ist mit mir?“

Arthur blinzelte verwirrt. „Was soll mit dir sein?“, murmelte er dann.
„Das fällt doch alles auf mich zurück“, ereiferte Matthias sich. „Wolltest du mich mit Absicht in eine schlechte Presse hineinziehen?“

Arthur blinzelte erneut. „Wieso sollte das auf dich zurückfallen?“ Er klang ehrlich verwirrt.

„Warum?“ Matthias schüttelte den Kopf und stöhnte. „Warum fragst du? Weil es auf alle zurückfällt, die du kennst. Man wird die Schuld suchen?“

Arthur schluckte trocken. Matthias beobachtete die Bewegung seines Adamsapfels. „Niemand außer mir trägt Schuld“, sagte er dann leise. „Wie kommst du darauf, dass du damit in Verbindung gebracht wirst?“

Keinen Augenblick wunderte Matthias sich darüber, dass Arthur trotz seines angeschlagenen Zustandes offenbar sofort genau wusste, worum es ging.

„Ich …“ Matthias verstummte. Sein rechtschaffener Ärger schwankte leicht. „Die ganze Serie wird hineingezogen“, behauptete er dann.

„Ich bin raus aus der Serie“, sagte Arthur und sah Matthias beinahe interessiert an.
Matthias blickte zurück, registrierte die schlaffe Haltung, den gebeugten Kopf, die zerknitterte Kleidung.

Nichts war von dem geblieben, was er Arthur beigebracht hatte. Kein Funken des Stils, den er vermittelt zu haben glaubte, war noch sichtbar.

Und ein leiser Schmerz kroch in Matthias hoch bei der Erinnerung an das attraktive Äußere des Mannes, das er im Stillen und offen häufig genug bewundert hatte.

Wenn Arthur sich pflegte und kleidete wie es seiner Natur entsprechen sollte, dann konnte niemand ihm widerstehen. Niemand außer jemand wie Matthias, der seiner überdrüssig geworden war. Und der nun stärker als zuvor erkannte, warum er von Arthur genug bekommen hatte.

„Sieh dich nur an“, sagte Matthias verächtlich und versuchte die Trauer nicht zuzulassen, die an ihm leise nagte.

Arthur wechselte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Offenbar fiel es ihm schwer aufrecht stehen zu bleiben und er schwankte sichtlich, bevor es ihm gelang, sich an der Wohnzimmerwand abzustützen.

„Ich brauche mich nicht anzusehen“, erwiderte Arthur schließlich leise. „Ich weiß, wie ich aussehe.“

Matthias schüttelte den Kopf. „Offenbar nicht“, zischte er ärgerlich. „Sonst würdest du das nicht zulassen.“

Arthur schloss die Augen. Er sah aus, als spüre er wie sich der Raum um ihn drehte.

Matthias beobachtete, wie das rötliche Gesicht erst einen gelben und dann einen leicht grünlichen Farbton annahm.
„Ich verstehe nicht, was Dich so ärgert?“, stieß Arthur hervor und schluckte heftig. Matthias konnte nur ahnen, dass ihm sein rebellischer Magen das Sprechen erschwerte.

„Das ist nicht dein Problem“, fuhr Arthur mühsam fort, schüttelte den Kopf, fasste sich jedoch zugleich reuevoll an die Stirn.
„Es tut mir leid, wenn du glaubst, dass die Serie in Mitleidenschaft gerät. Aber das hier ist immer noch mein Leben, meine Karriere, mein Ruf. Verdammt nochmal, ich bin gefeuert. Was interessiert es irgendjemanden, womit ich in die Zeitungen komme.“

Arthur verschluckte sich, knickte vornüber und verfiel in einen Hustenkrampf.

Matthias sah zu, wie er sich wand und ächzte, wie weißer Schleim aus seinem Mund tropfte und auf dem hellen Teppich landete.

Arthur fiel weiter vorwärts und stützte sich an seinem Sofa ab, während er mit einem Bein in die Knie ging.

Matthias schluckte. Doch bevor das Gefühl, das er fürchtete, in ihm aufsteigen konnte, biss er seine Zähne zusammen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.

Arthur atmete immer noch heftig, doch seine krampfartigen Zuckungen beruhigten sich. Aus den Augenwinkeln sah er zu Matthias auf, der ihn von oben herab betrachtete.

„Das ist erbärmlich“, sagte der Jüngere trocken.

Und zu seinem Erstaunen, wanderte Arthurs Mundwinkel nach oben.

Er bewegte langsam, sehr langsam seinen Kopf von links nach rechts und erhob sich dann noch langsamer auf die Füße, nur um sich umzudrehen und schwer auf die Couch fallen zu lassen.

„Erbärmlich, ja?“, meinte Arthur und zog eine Augenbraue hoch. In diesem Moment erinnerte er Matthias so stark an das alte, selbstbewusste, manches Mal geradezu alberne Selbst, dass er sich bemühen musste, um das Lächeln zu unterdrücken, das in ihm aufstieg.

Arthur sah ihn immer noch an, unerbittlich, als wisse er, was in Matthias vorging. Dann stieß er einen Seufzer aus und winkte einladend mit der Hand, lud Matthias dazu ein, sich neben ihn zu setzen.

Matthias blieb in einem Anflug von Trotz stehen und endlich erstarb auch das Lächeln auf Arthurs Gesicht.

„Was willst du dann?“, fragte er und sah Matthias aufmerksam an.
In diesem Augenblick wirkte er fast nüchtern und Matthias bekam den Eindruck, als winde sich sein eigener Magen zu einem Knoten.

„Ich will dir nur klar machen, was du angerichtet hast“, zischte er, doch es stand weniger Wut hinter den Worten, als er aufzubringen gehofft hatte.

Arthur stöhnte. „Das hast du ja jetzt“, erwiderte er. „Und da ich vermute, dass du nicht länger mit einem erbärmlichen Schauspiel wie mir konfrontiert werden willst, rate ich dir schleunigst von hier zu verschwinden.“

Er kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen. „Bevor noch jemand auf den Gedanken kommt, dass du auch zu solch einer Schande für unseren Berufsstand mutieren könntest. Diese Gefahr willst du doch sicher nicht eingehen.“

Matthias presste die Lippen zusammen und schüttelte seinen Kopf. Er brachte es nicht fertig auf die bissigen Worte zu antworten.

Arthur stöhnte auf. „Verdammt noch mal, was willst du noch hier?“ Er schloss die Augen. „Und hör auf, mich so anzustarren.“ Arthurs Stimme wurde leiser. Seine langen Wimpern zitterten, warfen Schatten auf die kantig geschnittenen Wangenknochen.

Matthias konnte den Blick nicht abwenden. Und ebenso wenig konnte er Arthur antworten.

„Warum siehst du mich so an.“ Es war keine Frage und Arthur konnte nicht wissen, dass Matthias ihn ununterbrochen ansah.

Nicht bis Arthur seine Augen wieder öffnete. Seine Lider flatterten und auf einmal sah Matthias nicht mehr die dunklen Schatten in seinem Gesicht, nicht mehr die Rötungen um die Lider. Er bemerkte die Bartstoppeln nicht mehr oder den ungesunden, beinahe gelblich erscheinenden Teint.

Matthias sah nur noch Arthurs Augen und die hatten sich nicht verändert. Dunkle, tiefe Seen von einem warmen, flüssigen Braun, in das er einzutauchen wünschte, in dem er immer wieder und entgegen jeden besseren Wissens, gehofft hatte, sich geborgen fühlen zu können.

Matthias bemühte sich, das flüchtige Gefühl fortzuschieben. Denn etwas anderes war es nicht. Nicht mehr als ein flüchtiges Gefühl. Ohne Sinn und ohne Bedeutung.

Es gelang ihm nicht. Doch es gelang ihm endlich, seinen Blick zu lösen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Was ist aus dir geworden?“

Es sollte anklagend klingen, wütend, so wie er sich gefühlt hatte, als er aufgebrochen war, erfüllt von den Vorwürfen, die er Arthur an den Kopf werfen wollte.

Doch so klang es nicht. Es klang leise, müde, fast wie eine Klage.

„Was interessiert es dich?“, flüsterte Arthur.
Und Matthias Blick sank zu Boden. „Das ist unfair“, stieß er hervor in dem Versuch, die Oberhand zu behalten. „Wir sind Freunde. Natürlich interessiert es mich.“

Matthias sah auf, als er eine Bewegung wahrnahm, als er zusah, wie Arthur sich nach vorne beugte und seine Stirn auf beide Hände stützte.

„Wir sind Freunde“, wiederholte Arthur, seine Augen ebenfalls auf den Boden gerichtet. „Ich war mir da nicht mehr sicher.“

Matthias schluckte. „Nur, weil wir uns nicht mehr so oft gesehen haben, heißt das doch nicht, dass wir nichts mehr gemeinsam haben.“
Er sah immer noch nicht auf.
„Ich war mir ganz sicher, dass du einen neuen Erfolg landest. Und es ist doch nie ausgeschlossen, dass wir eines Tages wieder zusammen arbeiten, zusammen drehen. Das … damit können wir doch immer rechnen.“

Matthias verstummte, und fühlte einen Hauch des zuvor erloschenen Ärgers wieder aufflammen.
Warum ließ er es zu, dass eine vage und unbegründete Schuld an ihm zu nagen begann?
Sich von Arthur manipulieren zu lassen, kam überhaupt nicht in Frage. Das war er nicht wert.

Matthias hob das Kinn und sein Blick traf auf Arthurs, der ihn unverwandt ansah.

„Das ist es also“, sagte der Mann schließlich. „Du rechnest dir aus, dass ich doch noch einmal nützlich für dich sein werde.“

Er sagte es ohne Ärger, ohne Vorwurf, ohne eine Emotion.

Matthias spürte wie sich seine Wangenmuskulatur verhärtete, sein Hals streckte. „Wenn du das denkst“, begann er, doch verstummte sodann.

Was sollte er auch sagen. Arthur lag so falsch nicht. Er hätte nur nicht erwartet, dass der Ältere ihn gleichermaßen durchschaute, und dann, das, was er sah, in Worte fasste.
Das sah ihm nicht ähnlich, und es versetzte Matthias gegen seinen Willen einen Stich in die Magengrube.

Ohne einen Grund dafür anführen zu können, war es mit Arthur in Ordnung gewesen, solange er glauben konnte, dass dieser ihn nicht erkannte, dass er für Arthur immer ein anderer bliebe und nicht der Opportunist, als der Matthias sich weigerte, sich selbst anzuerkennen. Außer in den seltenen Augenblicken alleine, in denen er die Wahrheit nicht von sich schieben konnte, in denen die Ablenkung fehlte, oder seine Schwäche es ihm nicht erlaubte, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die ihn im Leben weiterbrachten.

Zu ahnen, dass Arthur tatsächlich Bescheid wusste und dass er vielleicht sogar immer Bescheid gewusst hatte, dass es sich um eine Tatsache und keine bloße Vermutung mehr handelte, schmerzte Matthias mehr als er zugeben wollte.

„So ist es nicht“, sagte er schließlich, doch seine Stimme klang rau.

„Natürlich nicht.“ Arthur nahm seine Hände vom Gesicht und ließ sich im Sofa zurücksinken. Er wirkte erschöpft, auf einmal erschöpfter als zuvor. „Das hätte ich nicht sagen sollen“, fügte er leise, fast unhörbar hinzu. „Es spielt ohnehin keine Rolle.“

Matthias biss sich auf die Unterlippe und sah zur Seite. Das Licht drang durch die Jalousien in den Raum und warf ein seltsames Muster auf den Boden. Für eine Weile starrte Matthias darauf, in Ermangelung eines anderen Zieles, auf das er seine Aufmerksamkeit gefahrlos lenken konnte.

„Es tut mir leid“, sagte er schließlich heiser und verschluckte sich fast an seinen eigenen Worten. Das hatte er nicht sagen wollen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Gehirn dabei gewesen war, die Worte zu formen, geschweige denn sie auszusprechen.

Arthur blinzelte. Und erst dann richtete sich der dunkle Blick wieder auf Matthias. Und wie zuvor konnte der Jüngere es nicht über sich bringen wegzusehen, war er gebannt von den trotz aller Müdigkeit, Erschöpfung und Rötungen, die sie umgaben, immer noch ausdrucksvollsten Augen, die er je gesehen hatte.

Arthur bewegte seine Lippen und erst jetzt fiel es Matthias ein, auf seine Worte zu hören, die zuvor im Strom seiner durcheinander wirbelnden Gefühle und Gedanken untergegangen waren.

„Da gibt es nichts, was dir leid tun müsste“, verstand der Jüngere schließlich und bemerkte dann, dass Arthur leicht die Stirn runzelte, als er ihn weiter ansah.

„Ich bin erbärmlich. Und du hast Recht damit, deinen eigenen Weg zu gehen. Du hattest Recht damit, dich von mir abzuwenden.“

Matthias schüttelte den Kopf. Plötzliche Trauer erfüllte ihn, drückte sein Herz zusammen. „Ich habe mich nicht von dir abgewandt“, stritt er schwach ab, doch ein leises Lächeln, das über Arthurs Gesicht huschte, zeigte ihm, dass er den anderen nicht täuschen konnte.

„Ich meine, ich wollte nie, dass es so aussieht …“, versuchte er leise, verstummte jedoch, als ihm unmittelbar klar wurde, wie sehr diese Worte den Teil seines Charakters präsentierten, auf den er wenig stolz war.
„Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich verletze“, sagte er müde.

Arthur lächelte nun tatsächlich und Matthias‘ Augen weiteten sich.
„Das hast du auch nicht“, erwiderte der Ältere schließlich und schüttelte leicht den Kopf. „Das habe ich schon selbst geschafft“, fuhr er dann fort und faltete seine Hände im Schoß.
Sein Blick sank von Matthias‘ Gesicht und landete auf den verschlungenen Fingern, die er zu betrachten begann, als sehe er sie das erste Mal.

„Ich weiß sehr gut, wie das Spiel läuft“, führte Arthur dann aus. „Es gibt wirklich keinen Grund, dass du dir Vorwürfe machst.“
Er zuckte mit den Schultern. „Manchmal muss man sich eben erst richtig in Schwierigkeiten bringen, um dann den Weg heraus zu suchen.“

Er legte seinen Kopf schief, nicht ohne die Augen immer noch auf seine Hände gerichtet zu lassen. „Das lenkt ab und man läuft nicht Gefahr, sich mit wirklich Wichtigem auseinanderzusetzen.“

Matthias öffnete den Mund. Er wollte etwas sagen, doch wusste nicht was es sein sollte. Auch verstand er nicht vollkommen, wovon Arthur sprach. Nein, eigentlich verstand er gar nichts davon.

Aber das spielte auch keine Rolle mehr. Denn in diesem Moment erkannte Matthias, dass er sich geirrt hatte. Er erkannte, dass er nicht mehr wütend war. Oder vielmehr, dass seine Wut nur ein Ventil darstellte.

Und er sah mit plötzlicher Klarheit, was ihn wirklich in dieses Haus, in dieses Viertel geführt hatte.

„Du hättest tot sein können“, flüsterte er, als käme die Möglichkeit ihm jetzt erst in den Sinn. „Du hättest einen Unfall haben können und dich verletzen.“

Arthur zog die Augenbrauen zusammen, stöhnte nur leicht. „Ich bin ein guter Fahrer“, meinte er nonchalant.

„Rede keinen Unsinn!“ Da war sie wieder, die Wut. Sie flackerte erneut auf, aber dieses Mal vermischte sie sich mit einer Emotion, die Matthias weitaus tiefer traf.

Und mit einem raschen Schritt stand er vor Arthur, lehnte sich zu ihm vor, packte ihn am Kragen und zerrte ihn hoch, bis der Ältere unsicher, und doch aufrecht vor ihm stand.
Nah vor ihm, sehr nah. Nah genug, dass Matthias den Whiskey riechen konnte, das Bier, die Zigaretten, das Erbrochene, all die Gerüche, die er verabscheute und die ihm zugleich das Herz brachen.

Er schüttelte Arthur mit beiden Händen in dessen Shirt. „Du könntest tot sein. Und was dann?“

Arthur keuchte, als er versuchte, sich zu befreien.
„Bist du verrückt geworden?“, ächzte er. „Was soll das werden?“

Matthias ließ ihn los und Arthur taumelte zurück, bis die Innenseiten seiner Knie gegen das Sofa stießen.

Wider Erwarten hielt er sich aufrecht, fuhr sich nur mit dem Handrücken über den Mund und starrte Matthias an, der mit hängenden Schultern und Armen unbeweglich vor ihm verharrte.

„Ich habe nicht daran gedacht, dass du dich in Gefahr bringen könntest“, sagte Matthias dann leise, fast ein wenig verwundert. Erst dann sah er auf, suchte Arthurs Blick. „War es das? Wolltest du dich umbringen?“

Arthur zuckte zusammen. Ob es nun an der Offenheit in Matthias Blick oder in seinen Worten lag, spielte keine Rolle, für keinen von ihnen.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Arthur schnell, fast ein wenig zu schnell, so dass er sich verpflichtet fühlte hinzuzufügen: „Ich würde nie so etwas tun. Es … ich habe auch keinen Grund dazu, das weißt du doch. Das musst du doch wissen.“

Er verstummte und Matthias bemerkte, wie Arthurs Lippen zitterten.

„Ich weiß das nicht“, sagte Matthias leise. „Woher sollte ich auch?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kenne niemanden wirklich. Das … das lasse ich nicht zu. Auch bei dir nicht.“

Sie sahen sich an, bis Arthur als erstes dem Blick auswich. Er räusperte sich verlegen. „Dann … dann musst du mir das einfach glauben“, sagte Arthur schließlich leise. „Ich würde mir nichts antun. Dazu bin ich zu egoistisch.“

Matthias schüttelte den Kopf, fuhr sich über die Stirn. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Nicht nachdem du so etwas Dummes gemacht hast und ich es aus den Nachrichten hören musste.“ Seine Stimme wurde lauter. „Aus den Nachrichten. Kannst du dir das vorstellen?“

Arthur knabberte einen Moment an seiner Unterlippe. Dann sah er den anderen an. „Wir haben uns seit Wochen nicht gesehen“, sagte er schlicht. „Ich habe nicht gedacht, dass es dich interessiert.“

„Es interessiert mich, wenn du dich auf einen mörderischen Trip über die Autobahn begibst“, schnappte Matthias und schüttelte wieder den Kopf. „Ich kenne dich doch“, sagte er dann. „Wenn du jemanden verletzt hättest, wärst du deines Lebens nie wieder froh geworden.“

Arthur atmete tief aus. „Wie kommst du darauf, dass du mich kennst“, fragte er dann und rieb sich nachdenklich seine Stirn.
„Vielleicht habe ich dir auch etwas vorgemacht. Vielleicht wusste ich, dass du dich früher oder später von mir abwendest. Vielleicht habe ich nur die Rolle gespielt, die du von mir erwartet hast.“
Er schluckte vernehmlich. „Und dann, als du erkannt hast, und mich und die Welt wissen ließt, dass ich dir zu alt bin, da konnte ich die Maske fallen lassen und mein wahres Gesicht wieder zeigen.“

Er kniff seine Augen zusammen und legte den Kopf schief, blickte Matthias von der Seite an. „In unserem Geschäft hat Rücksichtnahme nichts verloren. Und in unserem Geschäft ist nur keine Presse eine schlechte Presse.“
Arthur nickte leicht, als bestätige er sich selbst. „Jedes Risiko ist die Nachricht wert.“

Matthias‘ Augen weiteten sich. Er schnappte nach Luft, atmete dann geräuschvoll aus. „Hör auf, mir etwas vorzuspielen“, zischte er dann. „Glaubst du vielleicht, ich merke nicht, wenn du auf Theater umschaltest? Du bist betrunken und willst mich provozieren. Du hast vor mich von der Wahrheit abzulenken.“

Er hielt inne. Seine Hände zuckten. „Oder du willst mich dazu bringen, dich zu schlagen, dass ich meine Wut an dir auslasse. Weil du … weil du selbst auf dich wütend bist.“
Matthias stöhnte und senkte den Kopf. „Und Gott weiß, dass du allen Grund dazu hast, auf dich wütend zu sein.“

Arthurs Mundwinkel zuckten spöttisch. „Du bist ja heute so einsichtig, was die Psychologie anderer angeht.“

Er schüttelte den Kopf, stützte die Hände in die Seiten und drehte Matthias dann seinen Rücken zu.
„Wie auch immer. Mir reicht es jetzt mit der Innenansicht. Geh einfach und vergiss es.“
Er stöhnte leise. „Lass ein Formular aufsetzen, ich unterschreibe dir, dass weder Serie noch du persönlich etwas damit zu tun haben. Wir wollen schließlich wirklich nicht, dass deine Karriere darunter leidet.“

Matthias leckte sich die Lippen. „Das wird sie nicht“, brachte er schließlich hervor.

„Was, zum Teufel, willst du also noch hier?“

Arthur stolperte an der Couch vorbei, streckte einen Arm aus, bevor er stolpern konnte und lehnte sich damit schwer gegen die Wand. Er streifte einen Bilderrahmen, der schwankte, an seinem Haken tanzte, und schließlich mitsamt des Bildes herabstürzte.

„Ich …“ Matthias suchte nach Worten. Was wollte er auch noch hier? Er hatte alles gesagt, alles gehört.

Arthur sagte ihn los von jeder Schuld, und er hatte Recht, mit der Serie an sich verband ihn nichts mehr.

Warum also verrauchte sein Ärger nicht? Warum hielt ihn ein zäher Klebstoff in einem Haus, das er nie wieder vorgehabt hatte zu betreten.

„Geh einfach“, stieß Arthur hervor, sank näher an die Wand, bis er sich nur noch mit dem Ellbogen dagegen stützte, seine Hand durch sein wild abstehendes Haar gleiten ließ, müde und zugleich mit besessen sich wiederholenden Bewegungen seine Kopfhaut rieb.

Matthias starrte auf den Stoff seines Pullovers unter dem sich Schulterblätter und Muskeln abzeichneten. Er beobachtete wie die Bewegungen sich beschleunigten, wie sie einen heftigen, geradezu wütenden Charakter annahmen.

„Arthur“, flüsterte er ohne es zu merken. Was er dagegen nur zu deutlich spürte, war der Schmerz, als etwas in ihm zerbrach. Eine verhärtete Wand stürzte zusammen, bröckelte und zerfiel in scharfe Brocken, die die Mauer aufrissen, die Matthias um sein Herz errichtet hatte. Er fühlte, wie das Blut heiß aus den Wunden sickerte, wie ein Eisblock in ihm schmolz.

Und ohne zu wissen, wie ihm geschah, ohne sich selbst Einhalt gebieten zu können oder den Schutzmechanismus zu aktivieren, der ihn vor sinnlosen und fatalen Handlungen bewahren sollte, legte er die wenigen Schritte, die ihn von Arthur trennten, zurück, bis sein Körper gegen Arthurs Rücken stieß.

Matthias umfasste Arthurs Oberkörper mit beiden Armen und presste sich gegen den anderen. Er vergrub sein Gesicht in der Beuge zwischen Hals und Schulter und krallte seine Finger in Arthurs Pullover, in die Haut darunter, als habe er Angst, dass der andere ihn abschüttelte.

Arthurs Atem stockte und Matthias fühlte wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Die Hand, mit der Arthur sich gegen die Wand stützte, gab nach und Arthur fiel vorwärts, gerade noch gehalten von Matthias, der ihn davon abhielt, gegen die Wand zu stürzen.
Sein Stand war sicher, seine Haltung fest und er hatte nicht vor, locker zu lassen. Hätte es nicht gekonnt, selbst wenn er die Absicht verspürte.

Matthias fühlte, wie Arthur schwankte, und wie er dann sein Gleichgewicht wieder fand, wie er sich zaghaft, kaum merklich, als traue er der Sicherheit hinter sich nicht, gegen Matthias lehnte. Seine Hände wanderten zitternd in die Höhe, berührten erst zaghaft und umfassten dann sicherer die Arme, die ihn hielten.

„Was tust du?“, flüsterte Arthur.

Matthias konnte nicht antworten. Er atmete tief, versuchte es, doch es gelang ihm nur seinen Kopf leicht zu bewegen, seine Stirn gegen Arthurs Hals zu reiben.

Er spürte, hörte, wie Arthur schluckte, und da er immer noch nicht imstande war, einen Laut von sich zu geben, hob er sein Gesicht ein wenig an und küsste den Hals des anderen. Er fühlte wie Arthur erschauerte und spürte, wie der Schauer ihn selbst erfasste, wie er sich automatisch näher an ihn presste.

„Matthias“, sagte Arthur leise und Matthias wusste, auch wenn er sein Gesicht nicht erkennen konnte, dass der andere seine Augen schloss. „Quäle mich nicht.“

Die hervorgestoßene Bitte war leise genug, dass Matthias sie kaum erahnte und dennoch brach sie ihm das Herz.

„Das … das wollte ich nie“, wisperte Matthias zurück. „Glaub es mir. Niemals wollte ich das.“

Donnerstag, 4. März 2010

Nacht

Nacht - 1500 Zeichen
Autor: callisto24
* * *
Es ist die Stunde. Dämonen der Nacht wagen sich furchtlos hervor, bereit sie zu jagen. Es spielt keine Rolle, ob sie sich einrollt oder ob sie die Decke über den Kopf zieht und ihren Körper flach auf die Matratze presst in der Hoffnung, das Grauen spaziere an ihr vorbei.
Bereits wenn sich die Geisterstunde nähert, hört sie die ersten, scheuen Geräusche. Leise noch. Sie testen, ob die Menschen in traumlosen, tiefen Schlaf gesunken sind. Vertrieben werden sie nur von den Selbstsicheren, von jenen, für die Zweifel ein Fremdwort bedeuten. Die verleihen ihnen keine Macht.
Doch sie glaubt. Sie hasst es, aber sie glaubt. Sie verabscheut ihre Naivität, erklärt sich für verrückt, sobald das erste Tageslicht durch die Vorhänge dringt.
Solange Dunkelheit herrscht, solange ist sie gefangen, den grausamen Geschöpfen ausgeliefert, deren Schritte in leeren Gängen hallen. Monster schleichen ihre Treppen hinauf. Die Stiegen knarren, wenn Krallenfüße gegen blankes Holz schaben. Und sie hört Keuchen, vernimmt das rasselnde Stöhnen, das sich ungehindert nähert. Ungehindert, weil sie alleine ist. Selbst in einem Haus voller Menschen, ist sie als Einzige wach. Nur sie allein fühlt, wie die schwarze Kutte über den Boden schleift, spürt, wie das Wesen sich ihr nähert, wie es sich über sie beugt, ihr seinen fauligen Atem in den Nacken bläst.
Und ohne es zu sehen, weiß sie, dass es die Fratze vor sich herträgt wie einen Schild. Die fürchterliche Grimasse, deren Anblick sie ohne Umwege in die Hölle, in den Wahnsinn befördert.
Deshalb hält sie ihre Augen geschlossen. Deshalb liegt sie stocksteif und unbeweglich, die Fäuste unter der Decke geballt. Gelähmt. Kein Muskel regt sich, kein Nerv zuckt, als der Tod sich über sie beugt. Und verschwindet. Wie jede Nacht.

Nacht

Titel: Nacht
Autor: callisto24
* * *

Es ist finster. Sie presst ihre Augen zusammen, aber es hilft nicht. Jeder Blick auf die digitale Anzeige des Weckers ist einer zu viel. Der Tag noch nicht vorbei, und doch nähert sich die Mitternacht mit bedrohlicher Unvermeidlichkeit. Und mit der Stunde, die den kommenden Tag vom vorhergehenden trennt, diesem Niemandsland existentieller Unsicherheit, handelt es sich um exakt den Raum, den sie fürchtet.
Inmitten einer, sich ins Unendliche dehnenden Leere, wagen sich Schrecken und Dämonen der Nacht furchtlos hervor, bereit sie zu jagen, zu verfolgen und niederzudrücken. Es spielt keine Rolle in welcher Position sie sich befindet, ergibt keinen Unterschied, ob sie sich einrollt, als befände sie sich noch im Mutterleib, oder ob sie die Decke über den Kopf zieht und ihren Körper flach auf die Matratze presst in der Hoffnung, das Grauen spaziere an ihr vorbei ohne Notiz zu nehmen.
Bereits wenn sich die Geisterstunde nähert, hört sie die ersten, scheuen Geräusche. Leise noch, vorsichtig, als testen sie, inwieweit die Luft rein, die Menschen in traumlosen, tiefen Schlaf gesunken sind. Denn vertrieben werden können sie nur von den selbstsicheren und von ihrer eigenen Bedeutung überzeugten Exemplaren, jenen, für die Zweifel ein Fremdwort bedeuten. Sie glauben nicht an Dämonen und verleihen ihnen so keine Macht.
Aber sie glaubt. Sie will es nicht, aber sie glaubt. Sie hasst es, verabscheut ihre Dummheit, ihre Naivität, erklärt sich selbst für verrückt, sobald das erste Tageslicht durch die Vorhänge dringt. Aber solange Dunkelheit herrscht, solange ist sie gefangen, solange ist sie den grausamen Geschöpfen ausgeliefert, deren Schritte in leeren Gängen hallen. Monster schleichen ihre Treppen hinauf. Die Stiegen knarren, wenn Krallenfüße gegen blankes Holz schaben. Und sie hört ihr Keuchen, vernimmt das rasselnde Stöhnen, das sich ungehindert nähert. Ungehindert, weil sie alleine ist. Selbst in einem Haus voller Menschen, ist sie als Einzige wach. Nur sie weiß, sie allein fühlt, wie die schwarze Kutte über den Boden schleift. Sie spürt, wie das Wesen sich ihr nähert, wie es sich über sie beugt, ihr seinen fauligen Atem in den Nacken bläst.
Und ohne es zu sehen, weiß sie, dass es die Fratze vor sich herträgt wie einen Schild. Die fürchterliche Grimasse, deren Anblick sie ohne Umwege in die Hölle, in den Wahnsinn oder in Schlimmeres befördert.
Deshalb hält sie ihre Augen geschlossen. Deshalb liegt sie stocksteif und unbeweglich, die Fäuste unter der Decke geballt. Sie will sich bewegen, will schreien, den Schrei ausstoßen, der sich in ihr aufbäumt. Doch sie ist gelähmt. Kein Muskel regt sich, kein Nerv zuckt, als der Tod sich über sie beugt. Und wieder verschwindet. Wie jede Nacht.