Montag, 29. März 2010

Palast

Titel: Palast
Autor: callisto24
* * *

Das Ganze wirkte von Anfang an merkwürdig und manchmal war sich Katharina tatsächlich nicht sicher, ob sie sich nicht doch inmitten eines verrückten Traumes befand, aus dem sie den Ausgang einfach nicht entdecken konnte.
Sie hatte sich in ihrem Leben nie unwohl gefühlt. Ihr Haus war nicht besonders groß und nicht gerade neu. Aber es gehörte zu ihr und sie gehörte zu ihm. Katharina erinnerte sich nicht daran, jemals woanders gelebt zu haben, oder an einem anderen Ort leben zu wollen.
Sie verstand auch nicht, warum sie ausgerechnet jetzt umziehen sollten.
Die ganze Entwicklung kam nicht nur unerwartet, sie erschien ihr zudem ausgesprochen suspekt.
Katharinas Vater, wie es seine Art war, hielt sich aus der ganzen Sache heraus. Seit er in Rente gegangen war, hatte er nach und nach begonnen, sich mehr und mehr aus jedem sozialen Leben zurückzuziehen. Und das schloss auch das Zusammenleben in der Familie mit ein.
Wenn Katharina ehrlich zu sich war, so wusste sie nicht einmal genau, womit er sich eigentlich den ganzen Tag beschäftigte. Es war kaum noch so, als bekäme sie oder auch ihr kleiner Bruder ihn noch viel zu Gesicht.
Natürlich führte auch Katharinas Mutter ihr eigenes Leben. Wie sollte es auch anders sein? Katharina war fast erwachsen und auch wenn ihr Bruder gerade erst kurz vor dem Eintritt ins Teenager-Alter stand, so benötigte auch er seine Mutter nicht mehr in dem Maße, in dem sie gebraucht werden wollte. Oder wenn er sie brauchte, so zeigte er es nicht.
Denn nur auf diese Weise war es wohl zu erklären, dass die Mutter von Woche zu Woche, von Monat zu Monat unruhiger geworden war. Und eigentlich stellte es sich kaum als Überraschung dar, dass sie im Geheimen begonnen hatte, nach neuen Wegen, neuen Beschäftigungen zu suchen. Immerhin war sie nicht alt. Etwas kleiner als Katharina, das nur leicht angegraute Haar kurz geschnitten, verströmte sie seit jeher eine Energie, um die Katharina sie beneidete.
Und natürlich hatte sie Recht damit, wenn sie sagte, dass ihr Haus im Grunde und bei Tageslicht betrachtet, kurz davor stand, auseinanderzubrechen.
Die beschädigten Böden, das von Rissen durchzogene Mauerwerk und den Schimmelwuchs in jeder Ecke mal außen vorgelassen, erkannte jeder Passant im Vorbeigehen, dass das Gebäude abbruchreif war.
Und natürlich hatte Brigitte, so lautete der Name von Katharinas Mutter, auch Recht damit, wenn sie feststellte, dass ihnen sowohl das Geld für die Renovierung, als auch die finanziellen Möglichkeiten dafür fehlten, sich eine neue Bleibe zu suchen.
Kam das Gespräch auf dieses Thema, sah Katharina jedes Mal schuldbewusst zu Boden. Natürlich wusste sie sehr gut, dass ihre Familie größere Sprünge machen könnte, wenn sie nur nach dem Quali eine Lehrstelle gefunden hätte. Wenn sie sich mehr Mühe gegeben, einen besseren Durchschnitt erreicht hätte.
Aber so wie es jetzt war, so wie sie jeden Aushilfsjob in den Sand setzte, konnte sie keinen Cent zu dem Familieneinkommen beitragen.
Umso mehr Sinn ergab es, als Brigitte von diesem neuen Job erzählte, den sie ergattert hatte. Nicht, dass sie die anderen fragte, fragen musste. Weder Katharinas Vater, noch ihr Bruder Bernd kämen auch nur auf den Gedanken, einen Einwand zu erheben. Und Katharina selbst lag es fern sich einzubringen, nicht nachdem sie selbst auf der ganzen Linie versagt hatte.
Und doch fühlte sie sich von Anfang an mulmig. Nicht nur, dass sie Hals über Kopf packen und umziehen mussten, auch die wenigen Informationen, die ihr über Brigittes Arbeit oder ihr neues Umfeld preisgegeben wurden, hinterließen einen unangenehmen Beigeschmack in ihrem Mund.
Doch Katharina war es gewohnt zu folgen, und das ohne Widerworte zu geben oder zu viele Fragen zu stellen.
Und so fand sie sich wieder, wie sie neben ihrem Bruder und einer aufgeregten Brigitte, ihre Hände fest um die Griffe der Koffer mit ihren Habseligkeiten geklammert, im engen Eingangsbereich eines unscheinbaren Gebäudes stand.
‚Grau‘ lautete der erste Begriff, der Katharina in den Sinn kam. Außen ebenso wie innen wirkte ihr neues Zuhause grau. Und vergleichsweise belebt. Katharina spürte, dass die Anlage nicht nur größer war, als sie schien, sondern dass sie auch mehr Menschen umfasste, als erwartet.
Und der Eindruck täuschte nicht. Nicht nach der freundlichen Begrüßung der Damen im Büro, die sich geradezu begeistert über ihre Ankunft und über Brigittes künftige Mitarbeit äußerten.
Und sie gleich darauf durch das Büro hindurch und in tiefere Stockwerke geleitete. In tatsächlich tiefer gelegene Stockwerke. Nicht nur Erdgeschoss und ein darunter gelegener Keller – die Wanderung führte weitaus tiefer.
Sicher hatte Brigitte sie vorgewarnt, dass ihre neue Behausung unterirdisch gelegen war, und Katharina erhob auch keinerlei Einwände dagegen oder empfand auch nur Bedenken empfunden. Nicht bis sie mit der Realität konfrontiert wurde.
Die Dame, die sie vorwärts geleitete, stieß kraftvoll große Türen auf, die den Blick erlaubten auf einen geradezu riesigen Raum. Einen riesigen Raum, an dessen Seite eine geöffnete Doppeltür in einen ebenso gigantischen Raum führte, der wie der erste mit prachtvollen Orientteppichen ausgelegt war. Doch bis auf die Teppiche waren beide Räume leer, ragten hohe, fensterlose Wände auf, beleuchtet von einem hellen und kalten Licht.
„Ist es das?“, wollte Katharina fragen, doch die eindeutige Gestik der inzwischen über das ganze Gesicht strahlenden Dame erwies die Frage als unnötig.
Mit gespielter Erschrockenheit führte die ihre Hände an die Lippen und murmelte eine Entschuldigung betreffend des Fehlens der Matratzen. Ein Manko, dem selbstverständlich rasch abgeholfen wurde. Schon sehr bald lagen auf den Eingängen abgewandten Seiten des Raumes großflächige Matratzen, jeweils zwei nebeneinander und es wurde offensichtlich, dass einer der Räume Katharina und ihrem Bruder, der andere Brigitte und deren Mann zugedacht waren.
Katharina stellte ihre Koffer ab und betrachtete den Raum. Abgesehen von der Größe und der auffallenden Leere, wirkte er ausgesprochen stabil und fast schon elegant, was an der Höhe der Decke und dem oben angebrachten, wenn auch nur angedeuteten Stuckverzierungen ebenso wie an den prächtigen Orientteppichen lag.
Sie hörte nicht zu, als die Dame vom Eingang weitersprach, vermutete jedoch, dass es sich um das Versprechen von mehr Mobiliar handelte.
Letztendlich wusste Katharina nichts an den Räumlichkeiten auszusetzen, nicht wirklich. Und letztendlich hatte ihre Mutter auch durchaus Recht damit, dass es in der aktuellen Lage, in der sich die Welt befand, nicht unbedingt dumm war, sich auf eine unterirdische Existenz vorzubereiten.
Egal welche Katastrophen folgen mochten, ob die Außentemperaturen zunahmen, die Sonne sich verdunkelte oder Kriege ausbrachen, ein Leben verborgen im Untergrund wies doch diverse Vorteile auf, das ließ sich Katharinas Ansicht nach überhaupt nicht leugnen.
Und dennoch blieb da dieser unangenehme Beigeschmack, der auch nicht verging, als sie die erste Nacht auf dieser großen Matratze, in der bunten Bettwäsche und unter der hohen Decke in einem viel zu weiten Raum verbrachte.
Der Beigeschmack verging auch nicht, als Katharina am folgenden Tag ihr gewohntes Leben wieder aufnahm, als sie Bernd zur Schule begleitete und wieder abholte. Er verging nicht, als sie trotz allem, sobald sie den Eingangsbereich, der zu den unterirdischen Räumen führte, hinter sich gelassen hatte, nicht mehr leugnen konnte, sich eingesperrt zu fühlen, gefangen in einer Welt, deren Sinn und Zweck sie nicht verstand.
Es half ihr auch nicht, als sie damit begann, falsche Wege einzuschlagen, Abzweigungen zu nehmen, die nicht in ihre Räume führten und Türen aufzustoßen, mit Absicht oder aus Versehen, von denen sie nicht wusste, wohin sie führten.
Und Katharina war ernsthaft überrascht, als sie ihre Vermutung bestätigt und die Anwesenheit zahlreicher anderer Menschen vor sich sah. Die Türen, die sie öffnete führten in ähnliche Räume wie die, welche ihre Familie bewohnten. Nur fielen sie geringfügig kleiner aus und es mangelte ihnen an den auffallenden Teppichen, sowie an der Eleganz der Bettwäsche. Die Räume, in denen die anderen Menschen hausten, deren verstrubbelte Köpfe sich bei ihrem Eintreten erschrocken aus den Kissen hoben, deren schlaftrunkene Münder unverständliche Worte murmelten, wirkten zudem ein wenig niedriger und nicht ganz so riesig wie ihre.
Und als Katharina ihre Mutter in der Zusammenarbeit mit den Damen im Büro beobachtete, da schnappte sie nicht nur auf, es wurde ihr auch aus dem Verhalten aller Anwesenden klar, dass der Sonderstatus ihrer Mutter und damit ihrer Familie auf der Tätigkeit beruhte, die sie hier ausübte, auf der rätselhaften Verantwortung, die Brigitte in einem seltsamen Umfeld wie diesem übernahm.
Und es waren viele Menschen, die sich in den Weiten dieser verzweigten, grauen, unterirdischen Welt aufhielten. Viele verschlossene und verängstigte Menschen. Soviel wurde Katharina allein durch die geweiteten Blicke, durch die verstohlen ausgetauschten Worte und die geduckten Köpfe klar, wenn sie an ihr vorbeihuschten.
Katharina versuchte das Gute in der neuen Lage zu erkennen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sich unterhalb der Erde aufhielten, dass sie ihren kleinen Bruder einer unnatürlichen Umgebung aussetzte, die nicht gesund sein konnte. Nicht nach allem, was sie davon wusste.
Sogar als sie die Schwimmanlagen entdeckten, half ihr das Erleben des geradezu ferienhaft anmutenden Badeparadieses nicht dabei, sich wohler, sicherer oder weniger schuldig zu fühlen.
Schuldig, weil Bernd in dieser Welt leben musste. Weil sie die Möglichkeit besäße, ihn vor den schädlichen Einflüssen zu bewahren, die sie in den Wänden, in der Erde, im Mangel an Natur, an Luft, an Freiheit vermutete.
Niemals hätte Katharina vermutet, dass ihr allein die Möglichkeit abginge, einfach vor die Haustür zu treten und tief einzuatmen. Niemals geglaubt, dass es so schwierig war, mit dem Bewusstsein zu leben, dass nicht lediglich ein kleines Stück Weg zwischen ihr und einem Feld, einem Wald, einer Möglichkeit einfach nur loszurennen, bestand. Stattdessen war ihr, als müsse sie sich aus dem Erdinneren einen Weg graben, sollte sie denn dem versteckten, grauen Labyrinth entfliehen wollen.
Und wie das zu geschehen hatte, daran wagte Katharina nicht zu denken.
Stattdessen hoffte sie, sich selbst des Irrtums zu überführen. Sie hoffte, dass ihr Schuppen von den Augen fielen, dass ihr von einer Minute auf die andere klar werde, dass sie mit ihrem Leben im Untergrund das große Los gezogen hatten.
Und sie wünschte, die phantastische Badelandschaft, in die sich Bernd begeistert stürzte, trüge bei zu ihrer Beruhigung.
Sie tat es nicht, nicht wirklich.
Zwar konnten durch die Fenster der blaue Himmel und die grünen, vor dem Gebäude gelegenen und bis an den leeren Horizont führenden Wiesen bewundert werden, zwar existierte ein Spielplatz und tatsächlich befanden sich Kinder in seiner Nähe, dennoch gab es keine Möglichkeit zu erkennen, ob und wie es möglich war, aus der Schwimmhalle an die frische Luft zu gelangen.
Bis es demonstriert wurde. Bis ein Kind dem an einem Hebel sitzenden Bademeister bedeutete, dass es hinaus ins Freie wolle und dieser mit einem Umlegen besagten Hebels die unteren Abschnitte der Fenster aufschob. Kurz nur, so kurz, dass das Kind gerade so hindurch schlüpfen konnte, sich im letzten Augenblick duckte, bevor das Glas wieder herabstürzte.
Katharina blieb das Herz stehen, als sie sich vorstellte, wie knapp der Junge an der Gefahr vorbeigeschrammt war, die eine oder andere Gliedmaße zu verlieren.
Nein, es mochte möglich sein, diesem Ort zu entkommen, doch wohin gelangte der Flüchtling? Katharina sah es mit plötzlicher Klarheit.
Außerhalb dieses Gebäudes existierte nichts. Sie saßen hier fest, waren Flüchtlinge, wie die anderen, im Inneren der Erde Gestrandeten.
Und Katharina weinte.

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