Samstag, 20. März 2010

Nordlicht

Titel: Nordlicht
Autor: callisto24
* * *

Ferdinand kam neu in das Haus. Seine Aufgaben waren klar umrissen und doch verloren die strengen Grenzlinien im Laufe der Monate und Jahre an Bedeutung und er entwickelte sich vom einfachen Stallburschen zu einem Handlanger für alle und für jedes.

Als er von den Besitzern gekauft worden war, zählte er gerade mal neun Jahre. So war es üblich, auch wenn man nicht direkt von Kauf sprach. Man wählte geschicktere, undeutlichere Ausdrücke, die jedoch alle nur diese eine und keine andere Bedeutung besaßen.

Letztlich spielte der Begriff auch keine Rolle. Entscheidend war, dass für Ferdinand gesorgt wurde, dass er ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen hatte. Dass er nicht verhungerte und seine Aufgabe im Leben erfüllte.

Und je älter Ferdinand wurde, desto mehr Gedanken machte er sich darüber, um welche Aufgabe es sich dabei wohl handeln könnte.

Mit zwölf Jahren war ihm bereits klar, dass es das nicht sein konnte, nicht dieses Leben.

Die Vorstellung, wie der alte Gerhardt, noch als krummbeiniger Greis, die Ställe auszumisten und die Tiere zur Tränke zu führen, ließ Ferdinand innerlich erschauern.

Dennoch wusste er nicht, welche Richtung sein Leben stattdessen nehmen sollte.

Manchmal beobachtete er seine Herrschaft, doch auch aus ihr wurde er nicht schlau. Unmöglich konnte es im Leben darum gehen, sich in Seide und Spitze zu kleiden und tagaus tagein auf hohen Absätzen mit großen Schleifen an den Schuhen über eigens für die vornehme Welt ausgelegte Teppiche zu stolzieren.

Ferdinand dachte über diese Menschen nach und darüber, was sie taten, womit sie ihre Zeit verbrachten, aber trotz all der Zeit, die er in dieses Rätsel investierte, kam er nicht dahinter, worin der Sinn ihrer Existenz bestand. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, womit sie diese rechtfertigten.

Noch dazu schienen einige dieser Exemplare eine geradezu bemerkenswerte Scheu vor denen zu hegen, die Tag und Nacht dafür arbeiteten, dass ihr Leben sich so bequem gestaltete, wie es allerorts zu beobachten war.

Oh ja, Ferdinand war durchaus weiter gekommen, als über die Grenzen dieses Gehöftes.
Als er vierzehn war, durfte er seine Herrschaft zu deren Verwandten begleiten. Wobei begleiten bedeutete, dass er hinter der Kutsche herlief, so gut er es vermochte, und darauf achtete, dass keines der Schafe, die sie als Geschenke mitzubringen gedachten, den Hunden auskam.

Auf dieser Reise, auf der er nicht nur festgestellt hatte, dass die Welt größer war, als sein Hof und Heim ihm manchmal suggerierten, sondern auch dass es auf anderen Höfen und in anderen Heimen ebenso zuging, wie auf dem, zu dem er gehörte. Dem er gehörte, wenn man es genau nahm.

Nichtsdestotrotz zählte der Ausflug in die große, weite Welt zu den entscheidendsten Erlebnissen, an die er sich erinnern konnte. Und das nicht nur, weil sein Leben abgesehen von dieser Zeit eintönig und gleichförmig verlief, sondern auch aufgrund der Begegnung, die er gemacht hatte.

Natürlich war er schon zu vor auf Gleichaltrige gestoßen. Ferdinand stand nicht als einziger bereits von Kindheit an in den Diensten betuchter Herrschaften. Und auch zu jenen, obwohl sie stets sorgfältig von dem Teil der für sie arbeitenden Bevölkerung abgeschottet waren, gehörten Kinder und Jugendliche.

Doch durfte Ferdinand sie stets nur aus der Ferne sehen. Es war vielleicht seine Aufgabe, sich um ihre Reittiere zu kümmern, sie vorzubereiten, bevor die Herrschaft sich zeigte, und zu versorgen, wenn diese schon längst wieder verschwunden war, aber während keinem dieser Anlässe konnte er mehr als einen Blick erhaschen.

Sein Ausflug in die Welt, oder – wie ihm später erzählt wurde – der Besuch einer entfernten Verwandtschaft jener, denen er diente - eröffnete ihm jedoch eine, wenn auch nur geringfügig, erweiterte Sicht.

Er war untergebracht mit den anderen Bediensteten in einem Nebengebäude, das an die Ställe anschloss.
Doch schon in der ersten Nacht wurde Ferdinand klar, dass die Regeln an diesem Ort ein wenig gelockert wurden. Selbst die erwachsenen Diener, die das Sagen hatten, stellten sich auf die neue Situation ein und genossen diese, indem sie sich an dem freizügig angebotenen alkoholischen Getränken gütlich taten und ohne die üblichen, kontrollierenden Blicke auf ihn und seine Arbeit in den Schlaf der Gerechten sanken.

Von der veränderten Luft oder vielleicht auch von der Aufregung, die das Reisen in ihm verursachte, angeregt, hielt es Ferdinand nicht auf dem aufgeschütteten Stroh, dass ihm als Schlafplatz diente und er schlich sich aus dem Stall, um einem bislang selten verspürten Instinkt nachzugehen.

Es war ihm, als fühlte er, dass an diesem Ort etwas oder jemand auf ihn wartete.
Ferdinand schlich vorsichtig um die Gebäude, erreichte das mittig gelegene Anwesen, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem seiner eigenen Herrschaft aufwies.
Und anstatt sich demütig von den hohen, hellen Wänden abzuwenden, konnte Ferdinand nicht anders, als sich Schritt für Schritt den erleuchteten Fenstern zu nähern, die vor ihm lagen.

In dem prachtvoll ausgestatteten Raum mit den verspiegelten Wänden und dem glänzenden Parkettboden sah er einen Jungen seines Alters, der sich vergeblich bemühte, den Tanzschritten, die ihm ein gepuderter und mit einer immens hohen Perücke versehener Tanzlehrer beizubringen gedachte.

Der Junge selbst trug den mit Spitzen und funkelnden Knöpfen besetzten Frack, ohne den offenbar kein männliches Mitglied der Familie sich zu zeigen wagte.

Er balancierte mühselig auf seinen hohen Absätzen und noch während Ferdinand gebannt, und ohne daran zu denken, dass es besser für ihn sei, Deckung zu suchen, in seine Richtung starrte, hob er den Blick von seinen Füßen und seine dunklen Augen trafen genau auf die des Jungen, der vor dem Fenster verharrte.

Für einen Moment weiteten sie sich und der Fremde erstarrte.

Doch noch bevor Ferdinand damit beginnen konnte, sich darüber Sorgen zu machen, ob der Lehrer oder einer der anderen livrierten und dekorativ an den Wänden stehenden Personen aufmerksam wurden, vielleicht sogar auf die Idee kamen, Ferdinand mit mehr oder weniger überzeugend handgreiflichen Mitteln auf seinen Platz zu verweisen, senkte der Fremde den Blick und fuhr damit fort, seine unbeholfenen Schritte zu proben.

Erst jetzt dachte Ferdinand daran, sich ebenfalls zurückzuziehen und er verschwand übereilt in dem Schatten des Gebüschs, an dem er zuvor achtlos vorbeigeschritten war.

Trotzdem konnte er sich noch nicht von dem Anblick trennen. Und er wusste nicht, ob es daran lag, dass er zum ersten Mal jemanden in seinem Alter aus unmittelbarer Nähe bei einer Tätigkeit beobachten durfte, die, wenn auch nicht an Arbeit, dann doch zumindest an eine seltsam aufgezwungene Form der Beschäftigung erinnerte.

Ferdinand war sich fast sicher und seine Überzeugung wuchs, je länger er dem Jungen zusah, dass dieser sich der Mühe nicht freiwillig unterzog. Ganz im Gegenteil, er quälte sich dabei und verabscheute nicht nur die unnatürlichen Schrittfolgen, sondern auch seine Kleidung, wenigstens wenn man danach ging, wie er gelegentlich an seinem Kragen zupfte und zerrte, als fühlte er sich von ihm eingeschlossen.
Wie er die Augen schloss und tief ausatmete, als versuche er sich zu beruhigen, sich selbst davon abzuhalten, etwas zu tun, was er später bereuen konnte.

Und Ferdinand war sich keineswegs sicher, ob es sich dabei um einen drohenden Wutausbruch oder um panische Flucht handelte.
Die vielen Wachen an den Wänden und Eingängen verrieten ihm jedoch, dass trotz der offensichtlich gehobenen Stellung, die der Fremde genoss, keine der Möglichkeiten zu empfehlen sei.

Ferdinand hatte sich weit genug zurückgezogen, um in der Dunkelheit der Nacht unkenntlich zu bleiben. Aber dennoch fielen ihm die Blicke auf, die der Junge wieder und wieder suchend aus dem Fenster schickte. Kurz nur, fast unauffällig und trainiert in seiner Unauffälligkeit.

Ferdinand fühlte sich an das Geschick erinnert, das er sich über die Jahre erarbeitet hatte, und das es jedes Mal einzusetzen galt, wenn er ein Ziel anstrebte, von dem die anderen, ihm übergeordneten Diener nichts wissen durften. Sei es, dass es sich um das Ergattern eines frischen Apfels aus dem Obstgarten handelte, der selbstverständlich der Herrschaft zugedacht war, oder um das kurze Bad im Bach, das im Sommer zwar verlockend, aber dennoch ungern gesehen wurde.

Offenbar hatte der Fremde sich ähnliche Techniken angeeignet, nur dass er sie in einer vollkommen anderen Umgebung anwendete, die Ferdinand nicht verstand und von der er sich nicht einmal sicher war, ob er sie verstehen wollte.

Jedes Mal, wenn der Blick des anderen in die Nacht wanderte, fragte Ferdinand sich, ob der ihn vielleicht doch sehen konnte, ob er sich gut genug verborgen hatte und welche Konsequenzen darauf folgten, sähe er ihn immer noch dort stehen, an einem Ort, an den Ferdinand nicht gehörte, in dessen Nähe er nicht einmal erlaubt war sich aufzuhalten.

Und doch konnte auch Ferdinand nicht gehen. Auf eine Weise gefesselt, die er nicht verstand, wurde er nicht müde, den Bemühungen des Jungen zu folgen, der Art, wie er irritiert sein dunkles Haar aus dem Gesicht blies, das ihm immer wieder von Neuem in die Stirn fiel.
Den kleinen, stolpernden Schritten, die jede versuchte Drehung begleiteten, oder dem enttäuschten Wedeln mit seinen Armen, wenn er sich wieder der falschen Seite zuwandte.

Ferdinand war sich nicht sicher, was ihn festhielt und fast fühlte er sich erleichtert, als der Junge, nach einem letzten und bedauernden Blick in die Dunkelheit vor dem Gebäude aus dem Raum geführt wurde.

Erst jetzt kehrte er auf schnellstem Wege in den Stall zurück und versprach sich selbst für den Rest des Aufenthaltes, keinen Gedanken mehr an seinen unbesonnenen, nächtlichen Ausflug zu verschwenden.

Sein Vorhaben wurde Ferdinand allerdings erschwert, als er in den folgenden Tagen immer öfter auf den fremden Jungen traf. Und während jeder Begegnung, die ebenso zufällig wie inszeniert wirkte, starrte der andere ihn an.

Selbstverständlich senkte Ferdinand pflichtbewusst sofort seinen Blick.
Ob es nun der Fall war, dass der Fremde zu früh auftauchte, um sein Pferd abzuholen, oder sich für einen Jungen seines Ranges vollkommen unangebracht ohne größere Begleitung als zwei oder drei Diener, die ihm aufgeregt hinterher hasteten, im Freien aufhielt.

Und nicht mit der ihm standesgemäßen Zurückhaltung sein Kinn hob und an jeglicher unwürdigen Dienerschaft vorbei schritt, ohne ihr eine Bedeutung zuzumessen.

Stattdessen sah er Ferdinand immer wieder unverfroren an und obwohl Ferdinand trotz seines gesenkten Kopfes den Blick auf sich spürte, schien der Fremde sich nicht einmal zu schämen, keineswegs das Unpassende seines Verhaltens zu spüren.

Doch spielte das alles auch keine Rolle, nicht für Ferdinand. Er kannte sehr wohl seinen Platz und auch wenn ihm Ausrutscher unterliefen, so kam es nicht in Frage, dass er ein Risiko egal welcher Art einging.

Und dennoch geschah es, dass Ferdinand hin und wieder aufsah, um unvermittelt im Blick des anderen gefangen zu sein, der ihn viel zu direkt und über eine viel zu große Entfernung hinweg ansah.

Ferdinand wusste nicht, was er mit diesen Blicken anfangen sollte und auch wenn ein Teil von ihm es bedauerte, dass die Rückkehr bevorstand, so fühlte sich ein anderer fast erleichtert, dem seltsamen Fremden entrinnen zu können.

Und doch blieb ihm am letzten Tag seines Aufenthaltes der Atem weg, als er dem Pferd den Sattel abnahm, von dem er nicht einmal gewusst, wenn auch im Stillen geahnt hatte, dass der Junge es ritt, und darunter geklemmt ein kleines Stück Papier entdeckte.

Für einen Augenblick betrachtete er überrascht die filigrane Schrift, bevor er sich besann und den Zettel rasch in seiner Brusttasche verschwinden ließ.

Erst nachdem sie wieder zurückgekehrt waren und Ferdinand sich sicher genug fühlte, suchte er den einzigen Menschen unter der Dienerschaft auf, der lesen konnte, und bat ihn, die wenigen Worte zu entziffern.

Mit kaum unterdrücktem Unbehagen, aber dennoch bereitwillig las dieser ihm vor, was auf dem Papier stand, und Ferdinand prägte sich diese Worte ein.
Und manchmal, wenn er alleine war, nahm er den sorgfältig zusammengefalteten und versteckten Zettel aus seiner Brusttasche und sagte sich vor, was sie bedeuteten.

Dabei dachte er an die dunklen Augen des Jungen, an das ungebärdige Haar und an die unbeholfenen Schritte auf dem glänzenden Parkett.

‚Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben‘, lauteten die Worte auf dem Papier. ‚Mein Name ist Pascal.‘

Ferdinand nickte und strich mit der Spitze seines durch die harte Arbeit verhornten Zeigefingers über das letzte Wort und dachte bei sich, dass der Name durchaus passte.

Und manchmal malte er sich aus, wie Pascal tanzte oder wie er auf dem Pferd saß, das Ferdinand zuvor gestriegelt hatte, und wie er sich vorbeugte und ein Stück Papier sorgfältig am Sattel verbarg.

Weitere Jahre vergingen und obwohl der Zettel dünn und abgegriffen war, trug Ferdinand ihn immer noch bei sich.

Er war siebzehn Jahre alt und kein Stallbursche mehr. Jetzt lehrte er die Jungen, die neu auf den Hof kamen, das, was er gelernt hatte.
Er trug Verantwortung und hielt sich wohlweislich vom Anwesen fern, das alle andere Gebäude überragte. Es war nicht so, als könnte er die Ablenkung wirklich gebrauchen.

Umso überraschter war Ferdinand, als eines Tages, im Spätsommer, eine Kutsche mit Gefolge eintraf.

Nicht dass dies selten geschah, seine Herrschaft empfing gelegentlich Besuch und beherbergte diesen auch für Wochen und Monate.

Doch schon als Ferdinand die Ankommenden von weitem bemerkte, fühlte er, wie sein Herz schneller schlug.

Er konnte das Wappen nicht erkennen, aber die Farben kamen ihm vage vertraut vor.

Ferdinand unterdrückte den Impuls, der ihn überkam, unterdrückte die Vorstellung, die sich in ihm ausbreitete.
Zu lange war es her, zu viel geschehen, als dass er noch wüsste, welche Farben der einzige Hof, den er außer dem, auf dem er arbeitete, kannte, für sich beanspruchte. Sie konnten ähnlich sein, konnten anders sein. Und nicht zuletzt spielten Verstand und Erinnerung ihm doch immer wieder Streiche, blieb ihm während und auch trotz der Arbeit zu viel Zeit zum Träumen, zu viel Zeit seine Gedanken auf Reisen zu schicken, die ihm nicht gut taten.

Umso verblüffter war Ferdinand, als er sich der Kutsche näherte, als er die Stallburschen beaufsichtigte, die nach bestem Wissen mit der Versorgung von Tieren und dem Transport des Gepäcks begannen.

Im ersten Augenblick glaubte Ferdinand sich zu täuschen, fürchtete sich zu täuschen, als er den stolzen Falken auf der Wappenzeichnung erkannte.

Sein Mund öffnete sich und sein Blick glitt rasch über die Fassade des Anwesens, über das geschäftige Hauspersonal, mit dem er nichts zu tun hatte, bis er wie von einer äußeren Kraft gesteuert herauf wanderte bis zu dem Vorsprung, der über dem Eingang angebracht und mit einer steinernen Brüstung versehen war.

Und dort oben, gegen diese Brüstung lehnte Pascal und sah auf ihn herab.

Er gab kein Zeichen des Erkennens, aber ein beiläufiges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als habe er auf etwas gewartet, einen Verdacht gehegt, eine Hoffnung, die sich erst jetzt bestätigte.

Und noch bevor Ferdinand auch nur seinen Mund schließen konnte, drehte Pascal sich um und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Ferdinand fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte, sein Hals trocken wurde.

Rasch, bevor jemand aufmerksam werden konnte, senkte er seinen Blick und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Pflichten zu.

Doch gelang es jenen nicht ihn soweit in Beschlag zu nehmen, dass er den Anblick vergaß.

Pascal war größer geworden, aber das war er selbst auch. Sein Haar, seine Augen waren dieselben geblieben. Beide glänzten dunkel und satte Strähnen fielen ihm in die Stirn.
Der unvermeidliche Frack war mit ihm gewachsen, die Spitzen und Bordüren auffälliger denn je.

Ferdinand schluckte, dachte an das Papier, das er immer noch in seiner Brusttasche trug.

Pascal war nur ein Besuch wie so viele vor ihm und so viele nach ihm. Seine Anwesenheit bedeutete keinen Unterschied für Ferdinand und für sein Leben.

Und obwohl es sich anfühlte, als brenne der Zettel mit Pascals Namen darauf ihm in den folgenden Tagen ein Loch in seine Haut, brachte Ferdinand es nicht über sich, ihn zu entfernen.

Stattdessen wartete er und wusste aber nicht worauf.
Er fühlte, dass etwas vorging, in ihm oder in der Welt, die ihn umgab.
Alles schien mit einem Mal um so vieles lebendiger.

Er fühlte den Wind auf seiner Haut und die Sonne in seinem Haar. Er spürte den rauen Grund unter seinen Füßen, lauschte auf den Abschiedsgesang der Vögel, atmete den süßen Duft der Herbstblumen.

Alles stand in vibrierender Erwartung.

Ferdinands Blicke durchsuchten von morgens bis abends die Wiesen, die Felder, die Gebäude.

Überall erhaschte er dunkles Haar, dunkle Augen, nur um beim Näherkommen zu erkennen, dass er sich geirrt hatte.

Und er wusste nicht, ob er über diese Irrtümer traurig oder erleichtert sein sollte.

Pascal hatte dort, wo er lebte, nichts verloren. Niemals setzte er seine Füße auf den Boden, der Ferdinand trug.
Und niemals war es ihm erlaubt auch nur ein Wort an den anderen zu richten.

Ferdinand wusste nicht einmal, ob er das auch wollte.
Er konnte sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen, was er dem anderen sagen sollte.

Aber er wusste, dass selbst ihn anzublicken zu jenen unausgesprochenen Verboten zählte, die zu brechen, Schande und Strafe nach sich zögen.

Ferdinand hörte auf zu schlafen.
Er fand nachts keine Ruhe mehr. Egal wie lange und wie schwer er gearbeitet hatte.

Hin und wieder gab er den Versuch auf, hielt inne mit seinem unruhigen Wälzen auf dem Stroh, dem kurzen Eindämmern, aus dem er schweißgebadet und ohne sich daran zu erinnern, wovon er geträumt hatte, erwachte.

Dann stand er auf und wanderte durch die tiefe Nacht oder die frühen Morgenstunden, zog seine dünne Jacke enger um den frierenden Körper und fragte sich, was um alles in der Welt er hier tat.

Er fragte sich, ob das nun alles gewesen war, ob es so auch zu Ende gehen sollte.

Vielleicht war er krank, vielleicht begann sein Sterben auf diese Weise.

Er konnte nicht schlafen, konnte nicht essen, und wenn er unterwegs war, spielten seine Sinne verrückt.

Und er bekam Pascal nicht mehr zu Gesicht.

Manchmal, wenn er sehr müde war, glaubte Ferdinand sich geirrt zu haben, dass er sich die Ankunft des anderen nur einbildete, dass darin nur ein weiteres Symptom seines unaufhaltsamen Verfalls bestand.

Bis zu jenem Tag, zu jener Nacht, in der er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, sich hinzulegen.

Er lehnte sich gegen die Holzwand in seinem Stall, verschränkte die Arme und wartete.

Er lauschte auf die Geräusche der Nacht, auf den Atem der Tiere und er wusste, dass etwas geschah. Und dass es in dieser Nacht geschehen sollte.

Ein Wind kam auf. Ferdinand hörte ihn um die Gebäude streichen, vernahm sein Flüstern, das vom Ende einer Jahreszeit und dem Beginn einer anderen erzählte. Von dem Nahen des Winters, von drohender Kälte, aber auch von Klarheit und einer Bedeutung, die Ferdinand nicht verstand.

Er ging an den schlafenden Stallburschen und Knechten vorbei, verließ das Gebäude und schloss sachte die Tür hinter sich.

Weiter lief er, fort von dem Anwesen, vorbei an den Stallungen für die kostbarsten der Pferde, die, um jene er selbst sich nur in den seltensten Fällen kümmern durfte, die für den Handel und die Zucht bestimmt waren, und er erreichte das Feld, das gleich im Anschluss an den Wald grenzte, der in der Finsternis düster und bedrohlich wirkte.

Und doch verblasste die Finsternis, ebenso wie die schwelende Bedrohung, obwohl oder gerade weil Ferdinand gerade dort im Schutz der hohen Bäume jemanden stehen sah.

Er fühlte keine Angst, nicht einmal mehr Zweifel, als er sich dem Mann näherte. Und Ferdinand spürte nicht einmal Verwunderung über die beiden wertvollen Tiere, die Pascal lose am Halfter führte.

Der Mond schien silbern über sie hinweg, spiegelte sich in Pascals Augen, in seinen weißen Zähnen, als er lächelte.

„Ich habe auch gewartet“, sagte er dann und seine Stimme klang gerade so wie Ferdinand es erwartet hatte, sanft und tief.

Er reichte Ferdinand einen der Zügel. „Kommst du?“, fragte Pascal und Ferdinand überlegte nicht, als er sich in den Sattel schwang, als sie ihre Pferde antrieben und am Waldesrand entlang jagten.

Erst als sie über die Grenzen der Grafschaft hinaus waren, als sie im stummen Einverständnis abstiegen, um den Tieren eine Rast zu gönnen, wandte Pascal sich wieder an Ferdinand, sah ihn ruhig an, bis Ferdinand seinen Blick zu Boden senkte.

„Warum tust du das?“, fragte er heiser. Und als er wieder aufsah, lächelte Pascal nahezu hilflos.

„Ich musste dich wiedersehen“, sagte er schlicht. „Nichts anderes war von Bedeutung.“
Dann drehte er sich um und nestelte an der Satteltasche von Ferdinands Pferd, zog eine pelzgefütterte Jacke heraus. „Die wirst du brauchen“, meinte er nachdenklich und reichte sie Ferdinand.

Der strich über die weiche, warme Oberfläche. „Wohin gehen wir?“, flüsterte er, als Pascal sein Pferd wieder bestieg.

„Dorthin wo sie uns niemals finden werden“, antwortete er.

Und Ferdinand glaubte ihm, als sie das Land durchquerten, dem Winter entgegen ritten.
Er vertraute Pascal, als der ihn durch Wind und Kälte führte, als die Hufen ihrer Tiere über den von herabfallenden Blättern bedeckten Boden schritten.

Und er war glücklich, als sie die weiten Schneeflächen erreichten, die einst fruchtbare Ödnis bedeckten, die sich endlos ausdehnten, als sie über sie hinweg galoppierten, auf ein Ziel zu, dass Ferdinand nicht kannte.

Die Welt dehnte sich kalt und unwirtlich vor ihnen aus und zugleich war sie von klarer, heller Schönheit.

Sie ritten lange und es wurde wieder Nacht, als die Lichter begannen den Himmel zu erleuchten, als Farben über die Schneedecken tanzten, die Dunkelheit zum Glühen brachten, bis Ferdinand innehielt und sich atemlos zu Pascal umdrehte.

„Ist es das?“, fragte er und Pascal nickte nur. „Deine und meine Bestimmung“, sagte er und streckte eine kalte Hand aus, die Ferdinand dankbar ergriff.

„Das Nordlicht“, fuhr er fort. „Es lockt und droht uns zu gleicher Zeit. Doch selbst, wenn es uns den Tod bringt, so sind wir wenigstens frei.“

„Und zusammen“, ergänzte Ferdinand, während violette und grüne Wellen über den Himmel glitten. „Für immer.“

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