Dienstag, 23. Februar 2010

Vampire

Ich kann auch über andere Themen lamentieren, manchmal zumindest, ausgelöst in diesem speziellen Fall durch die Vampire Diaries. Und daher geht es ausnahmsweise nicht um Heroes. Ich verspreche, Heroes nicht mehr zu erwähnen … also von jetzt an. Das hier ist definitiv das letzte Mal, dass ich von Heroes erzähle. Also das fast letzte Mal. Oder von Gilmore girls. Oder von Jack Bauer. Ganz sicher. Es sei denn natürlich, es ist unumgänglich, dass mir Begriffe wie die oben genannten doch noch herausrutschen. Aber wirklich nur im äußersten Notfall. Denn heute geht es um:



Vampire

Dieser Eintrag liegt schon wieder zwei Wochen auf meiner Festplatte, und bevor ich ihn völlig vergesse oder er aufgrund von anstehenden, möglichen Serienereignissen restlos veraltet sein wird, schicke ich ihn rasch ab:

Manchmal sind wir gezwungen loszulassen, schwere Entscheidungen zu treffen und uns von liebgewonnenen Gewohnheiten zu verabschieden. Manchmal hilft kein Zetern und Zögern, sondern eiskalte Selbstbeherrschung ist gefragt.
In dem Wissen, was gut für mich ist, verordnete ich mir dementsprechend den kalten Entzug. Ohne Ausnahme und Ausflüchte, was meine ungesunde Abhängigkeit von den Gilmore girls angeht, mit gewissen Einschränkungen in Bezug auf Heroes und das ganze Drumherum.
Ich weiß ja, dass ich nicht alleine bin, Millionen verzweifelter Heroes-Fans suchen händeringend ein rettendes Seil, den Stock zum Festhalten, das Ding, das uns aus dem Sumpf zieht.
Was tun, wenn die Fernsehlandschaft letztlich ermüdet, wenn das tiefe Loch, in das man nach der Abhängigkeit sinkt, seinen doppelten Boden eröffnet?
Genau, man besinnt sich auf Historisches, klammert sich an bereits gesammelte und einst heilbringende Erfahrungen.
In meinem Fall sind dies Vampire. Wahrscheinlich habe ich sie schon immer geliebt. Und wer auch nicht? Irgendwie, irgendwo, irgendwann. Vampire stellen dankbaren Stoff, bieten wunderbare Vielfalt und schier endlose Möglichkeiten in philosophischen und religiösen Abgründen zu schwelgen.
Selbstverständlich amüsiert sich auch der Hobby-Psychologe – also ich - immer wieder gerne mit den Gründen für die Anziehungskraft der zugegeben recht absurd anmutenden Gestalten der Nacht.
Lassen wir einfach die Faszination des Morbiden beiseite und beschäftigen uns mit den unlösbaren Problemen vor die uns die Natur stellt, wie Vergänglichkeit, Krankheit, Tod. Nicht zu vergessen das Thema Blut, in Zeiten von Aids und dem Wissen der zahlreichen, durch Blut übertragbarer Krankheiten ein interessanter Zusatz.
Unsterblichkeit und die Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit, gewährt wenigstens einen Moment der Ablenkung, verhindert die Konfrontation mit der eigenen, unausweichlichen Sterblichkeit.
Klar, alles Mumpitz, wenn die Welle der attraktiven Vampire einen mitreißt. Vorbei die Zeiten Nosferatus oder hässlicher, unbequemer Gruselgestalten. Oder derer, die zumindest manchmal hässlich oder gar gefährlich erscheinen.
Natürlich hat der hübsche Vampir, der an seiner Unsterblichkeit krankt und somit trotz all der Vorteile, die er genießt, unendlich leidet, unser unbeschränktes Mitleid. Ähnlich den anderen merkwürdigen Gestalten, die sich trotz Unmengen Reichtums, Macht oder Erfolges auf die Ebene des Durchschnittsmenschen herablassen, und uns in Seifenopern oder seifenoperähnlichen Zuständen demonstrieren wie hart das Leben ohne Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit sich darstellt.
Es bleibt spannend.
Auch wenn der Vampir früher eindimensional böse war und gepfählt gehörte, so wachten - objektiv gesehen - einfach gestrickte Seelen - so wie ich - erstmals auf, beim Anblick eines atemberaubenden Frank Langella. Mit Sicherheit der hübscheste Dracula, den ich je gesehen habe. Ich weiß, Frank Langella ist mittlerweile zum Charakterdarsteller mutiert und gibt sich graumeliert. Aber nur die Vorstellung des wallenden, schwarzen Haares, des betörend schönen Untoten, bringt so manches schwache Wesen dazu, sich zu wünschen, es erhielte nächtlichen Besuch. Meinetwegen auch als Wolf oder Fledermaus.
In fortgeschrittenem Alter wird man doch weniger wählerisch.
Wie auch immer, Frank, also Dracula, zweifelte wenigstens nicht an seinem Schicksal. Er wusste noch was er wollte. Und zum Dank für diese klare Ansage, wurde der gute Kerl hinterrücks gemeuchelt. Wie sich das gehört.
Aber die Leidenschaft lässt sich nicht meucheln. Und zum Glück betrat eine neue Generation Vampire die Welt. Was auch notwendig war, denn trotz aller Liebe und Bewunderung für Gary Oldman war sein Dracula ein wenig schwerer Stoff. Ich muss zugeben, auch Leslie Nielson überzeugte mich in der Rolle nicht. Und Bela Lugosi oder Christopher Lee konnten mich dann doch nicht so fesseln, wie ich es mir wünschte. Zahllose weitere Exemplare gaben ihr Bestes, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Keiner von ihnen ähnelte Frank Langella auch nur annähernd.
Also entwickelte sich zwangsläufig eine Alternative: Der gute Vampir.
Und ich nahm jeden, von Graf Duckula ( Ja, Donald Duck als Vampir-Ente ), über Rüdiger, den kleinen Vampir, bis zu Angel, dem Vampir mit Seele.
Natürlich wäre keiner von diesen möglich ohne den Siegeszug von Anne Rice und ihren genial – kaputten Kreaturen.
Anne Rice schuf herrlich schöne Stunden, interessante Konzepte und eine Unmenge neuer Interpretationsmöglichkeiten.
Das Vampir-Dasein als eine Frage der Moral. Brad Pitt, der an seiner Existenz krankt und ein bisschen weint. Tom Cruise, der sich köstlich amüsiert, wenigstens an der Oberfläche. In den Büchern darf er auch weinen – irgendwie.
Und dann die Geschichte der Menschheit neu aufgerollt aus der Sicht der Blutsauger, die im Verborgenen wirken, Mythen hervorbringen und mit Teufel und Gott diskutieren. Keine Frage, Anne Rice ist immer wieder schön zu lesen. Und ihre Vampire sind überaus attraktiv, ein wichtiger Punkt. Ohne Schönheit geht heutzutage nicht mehr viel, will man Kosmetikkonzernen und Schönheitschirurgie glauben. Welche sich im Übrigen auch dem Thema der Unsterblichkeit verschrieben haben, nur am Rande erwähnt.
Also gut, wer unsterblich sein will, muss erst mal schön sein. Oder, wer schön ist, wird unsterblich?
Egal. Bei der Moral sind wir ja nicht, nicht im Augenblick.
Hübsche Vampire. An sich kein Wunder, dass ich von Vampiren besessen bin, Kiefer ‚David‘ Sutherland war auch mal einer. Und als er in den Lost Boys durch aufrechte Vampir-Gegner von seiner unseligen Existenz befreit wurde, verwandelte er sich doch ganz kurz vom bleichgesichtigen Punker in das reizende Mannsbild, das wir kennen und lieben. Ohne Fangzähne und ohne Kontaktlinsen.
Übrigens eine Maske, inklusive des langen, dunklen Mantels, die verdächtig dem Outfit der Vampire ähnelt, die Joss Whedon uns schenkte.
Und schon sind wir bei Vampiren, die so richtig, richtig gut sind, wenigstens soweit sie es hinkriegen.
Wohlgemerkt, auch Joss‘ Vampire fingen klein an, beziehungsweise als fiese Untote.
Der Film mit Donald Sutherland ( Nein, ich war niemals von der Sutherland Familie besessen, nur von einzelnen Vertretern derselben ) behandelte Vampire noch als böse und hässlich.
In der ersten Staffel Buffy – nun der Serie - tauchte wenigstens hin und wieder der hübsche Geheimnisvolle auf. Als nächstes entpuppte sich dieser allerdings als kein richtiger Vampir, sondern nur ein halber, also einer mit Seele. Kein Wunder, dass er nicht ganz so abstoßend sein durfte.
Aber was soll man machen. Sieben Staffeln sind eine lange Zeit. Da muss etwas passieren. Also bauen wir hin und wieder auch einen Vampir ein, der vielleicht mit seiner Bösartigkeit ringt, und obwohl seelenlos, dem bösen Treiben abschwört. Soll es geben.
Und sowohl Spike als auch Angel waren eindeutig ‚Hotties‘ – Original Zitat Buffy. Ergo – keine Einwände.
Angel – die Serie ging noch weiter und enthielt viele bunte Dämonen. Fabelhaftes Popcorn-Fernsehen, gerade das Richtige für mich.

Natürlich dümpeln in der Vergangenheit auch andere gute Vampire herum, die sich nicht mit dem Seelenkram aufhalten, sondern einfach Polizist in der Nachtschicht spielen, wie Nick Knight. Wir haben Exoten, wie Blacula oder coole Comichelden wie Blade - yummy - Wesley Snipes, seinesgleichen zusätzlich in einer netten, wenn auch kurzlebigen Serie verewigt.
Merkwürdigkeiten wie Jon Bon Jovi, der sich zwischen den Untoten tummelt, taten sich auf oder Schlachtfilmchen, in denen einfach ordentlich Blut spritzen sollte. Danke Quentin.

Und dann fühlte ich lange nichts. Ich war fast soweit zu glauben, dass diese Vampir-Phase von erwachsenen Obsessionen abgelöst wurde.
Wurde sie natürlich nicht. Im Gegenteil. Wahrscheinlich war es die Abstinenz von Vampiren, die mich zu den Gilmores trieb oder ins gnadenlose Heroes – Fandom.
Feine Sache, die Heroes, aber muss Tim Kring wirklich wieder und wieder über den, der ihm seinen Lebensstil finanziert, also den gemeinen Fan, herziehen? Ich denke, ein wenig Verärgerung ist erlaubt.
Zurück in die Gegenwart.
Es ging ja weitgehend an mir vorbei, bislang. Und mit ‚Es‘ meine ich diese neuentdeckte, verniedlichte Vampir-Woge.
Jap, ich spreche von Edward und Bella.
Jemand, der sich zu sehr schämt um genannt zu werden, gab mir das Machwerk, das Erste. Wenigstens im Original, weshalb mir nur so am Rande auffiel, wie – sagen wir mal – knuffig es geschrieben ist.
Wie auch immer, es ist putzig. Eine goldige, kleine Geschichte. So eine Art Groschenheft-Romanze.
Tja, ich versuche nun die anderen Teile zu lesen. Mit der Betonung auf versuchen, denn diese sind übersetzt. Und bis jetzt kann auch die Übersetzung nicht viel retten. Weshalb ich immer noch am Anfang bin.
Wohlgemerkt – ich werde es schon lesen, wenn ich mir etwas vornehme, dann gnade demjenigen Gott. Das Buch hat keine Chance. Und außerdem will ich mehr über die Amerikanischen Ureinwohner wissen. Vor allem diejenigen, die angeblich ohne Hemd im Wald herumlaufen. Bis jetzt, also bis zu meinen momentanen Leseerfahrungen, sind sie ganz bezaubernd dargestellt - bis jetzt. Und zumindest im Gegensatz zu den öden Vampiren.
Aber eigentlich wollte ich gar nicht zu Twilight. Zum einen kenne ich die Bücher nicht, die Filme noch weniger, und zum anderen bin ich vermutlich ohnehin nur wahnsinnig eifersüchtig auf die glückliche Autorin, die es geschafft hat, ihre goldenen Augen und den süßen Vampir-Duft an den Leser zu bringen.
Und ich liebe Schund, ich liebe Kitsch. Und ich lege selten Wert auf Qualität oder Rechtschreibung oder Logik oder Einfallsreichtum. Aber sie vergeht sich nun mal an meinen Vampiren. Und lässt sie funkeln?
Irgendwo muss Schluss sein.
Aber wohin ich eigentlich wollte, das ist diese neue Serie ‚Vampire Diaries‘.
Sie schwimmen auf der Twilight Welle, das ist klar. Und ich hatte ernsthafte Vorbehalte.
Zum einen vertrage ich kein weiteres Teenager-Drama. Es ist manchmal ganz nett, die amerikanische High School mit ihren Abgründen zu bewundern und sich zu freuen, dass man dort nicht hin muss. Aber ich sehe doch auch mal ganz gerne einen Erwachsenen.
Gab’s nicht. Sogar die Erziehungsberechtigte der unvermeidlichen Teenager in Vampire Diaries sieht selbst aus wie ein Teenager. Eigentlich sieht sie genau so aus wie die Hauptdarstellerin, aber es könnte auch an meiner Gesichtsblindheit liegen, dass die Unterscheidung wirklich schwer fällt.
Wir haben in den Vampir-Tagebüchern zu allererst einen Haufen Schüler, die sich aufführen, wie sich alberne Schüler eben aufführen. Und selbstverständlich sehen sie alle aus, als seien sie einem oder mehreren Hochglanzmagazinen entsprungen oder diesem merkwürdigen Beverly Hills + irgendeine Nummer.
Zu allem Überfluss schreibt die Hauptdarstellerin schwülstige Dinge in ihr Tagebuch. Was nicht ganz so schlimm ist wie die Tatsache, dass der Hauptdarsteller noch schwülstigere Dinge in sein Tagebuch schreibt. ( siehe Titel der Serie ).
Wenigstens treibt sie ihr tagebuchschreibendes Unwesen auf dem Friedhof. Hey – ich war auch gerne auf dem Friedhof in diesem Alter, es hat so etwas Beruhigendes.
Werden von jetzt an Jugendliche in Scharen die Friedhöfe stürmen um Tagebuch zu schreiben?
Edit: Inzwischen feiern sie schon Partys auf Friedhöfen – interessant.
Egal. Ich war also von Anfang an schon schwer genervt. Zumal dieser Hauptdarsteller-Typ, genannt Stefan, in mehreren zusammenhängenden Filmen bereits den Halbengel gab. Also kann ich ihn mir nicht mehr ohne Flügel vorstellen, was der Vampir-Sache nicht so hilft.
Außerdem ist er reichlich langweilig. Ich meine, er verfasst Tagebücher – bitte!
Er ist wie alt? 150 Jahre und schreibt sich als Schüler ein? Er besitzt den Charakter einer Schlaftablette?
Und wie sein Bruder uns aufklärt, schwächelt er ziemlich einher, weil er sich weigert, Menschenblut zu trinken.
Kurz und gut, er ist der brave Vampir. Der brave Vampir für das brave Mädchen.
Also gut, ich hielt durch, weil dann doch sein böser Bruder Damon auftauchte. Und diese Sache war mir relativ neu. Vergessen wir Kain und Abel, ich rede von dem Universum der blutsaugenden Kreaturen.
Dazu wird eine interessante Hintergrundgeschichte angedeutet. Wohlgemerkt, so angedeutet, dass sie fast interessant aussieht.
Der böse Bruder, Damon – nicht der aus Omen, aber trotzdem böse, benimmt sich – wer hätte es gedacht – äußerst böse.
Wenig interessant eigentlich, auch wenn Ian Somerhalder es schafft, ein wenig Faszination zu erzeugen. Muss an den Augen liegen, dem fehlenden schwarzen Mantel, dem Mangel an Vampir-Jägern und Seelengefasel?
Also gut, er ist ein Hübscher. Und sein größtes Plus: er ist nicht so langweilig wie sein Bruder.
Auch nicht so langweilig wie Edward.
Ja, er beißt tatsächlich Leute und saugt ihnen das Blut aus!!!
Ihr lest richtig, ein Vampir, der Blut saugt, und einen Hauptcharakter gibt.
Hat ausgereicht, in Zusammenspiel mit meiner Heroes-bedingten Verzweiflung, um mir die nächste Folge auch anzusehen.
Wie gehabt, öder guter Vampir, pausenlos quasselndes Mädchen, böser Vampir.
Immer noch keine Erwachsenen.
Aber so langsam profiliert sich der kleine Bruder der Hauptdarstellerin. Er macht so schön auf kaputt, verständlicher als die eisenharte Elena, schreibt nicht Tagebuch und redet nur wenn er muss. Eine eher angenehme Erscheinung.
Soweit der Stand der Dinge: Teeny-Stoff, halbwegs erträglich.
Aber, und jetzt kommt das große Aber. Die Sache beginnt Potential zu entwickeln.
Nicht nur, dass der böse Vampir - Bruder vielleicht, nur vielleicht, einen Hauch von Menschlichkeit besitzt und der romantische Fernsehzuschauer, also ich, nun gebannt darauf wartet, dass dieser Hauch zur Brise wird.
Nicht nur, dass eine winzige Chance berechenbar wird, dass der langweilige Vampir - Bruder vielleicht, und nur vielleicht, nicht ganz so langweilig ist, und doch eine gute Seite besitzt.
Nicht nur, dass die unschuldige Nebendarstellerin, die ihre Hexenkräfte entdeckt, so niedlich ist, dass man vergessen möchte, darüber nachzudenken, warum in aller Welt man ihre Vorfahren in Salem ansiedelte? Ganz ehrlich – Salem - das ist doch zu viel, oder nicht?
Nein, besser noch – ich habe sogar so etwas Ähnliches wie Erwachsene gesehen. Ja, Eltern, die auch tatsächlich ausgewachsen sind. Und noch viel besser – die offenbar den Vampiren zu Leibe rücken wollen.
Da besteht eine Chance, und nur, wenn günstige Geschicke zusammenlaufen, und nur, wenn man feste die Daumen drückt und hofft, dass Heroes nicht ansteckend wirkt, betet, dass aus der Serie etwas wird.
Aber eigentlich zeigt es nur, wie verzweifelt ich wirklich bin. Jetzt klammere ich mich bereits an Tagebuch-Serien.
Und immer noch keine Spur von Supernatural oder Fringe.
Zudem wird überall und stets wie wild gecancelt.
Qualitativ hochwertige Sendungen wie Life oder Pushing Daisies verschwinden spurlos von der Oberfläche. Die Aussichten sind trübe, finster, um es deutlicher zu sagen.
Wenn nicht einmal Vampire den geplagten Seriensüchtigen aufmöbeln können, wo kommen wir denn dann hin?
Ich überlege ernsthaft, ob ich nicht vielleicht zu den Werwölfen überlaufen soll.
Andererseits, das ganze Fell, das Angeheule des Mondes – ich bin mir nicht sicher. Irgendwo sollte auch eine Grenze gezogen werden, oder mehrere.
Es bleibt ein Fazit: Vampire bringen es letztendlich doch nicht. Wo nichts mehr zu retten ist, bieten auch sie weder Trost noch Hoffnung.
Unsterblichkeit ist bescheuert, und wenn man sich mal fragt, warum Vampire eigentlich alle so schön sein sollen, dann schiebt sich bereits etwas ein, das verdächtig an gesunden Menschenverstand erinnert.
Also gehe ich jetzt einfach wieder Numb3rs gucken. Schließlich wird Don von Folge zu Folge heißer – und das ist eine Tatsache, die keineswegs geleugnet werden kann.
Und wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann ist Don Eppes im Sylum Clan sogar ein Vampir.

Na also, besser geht es doch nicht.

Aids

Titel: Die Stadt
Autor: callisto24
* * *


Hin und wieder ruft er an. Er meldet sich aus einem anderen Land, aus einer anderen Stadt. Und Karina ist nicht sicher, was sie davon halten soll.
Wenn er anruft, muss sie daran denken, und Karina weiß nicht, ob sie das will. Sie denkt an ihre Stadt zur Weihnachtszeit.
Die Anonymität der Großstadt hat sie schon immer geliebt. Für jemanden, der sich in seiner eigenen Haut so unwohl fühlt, wie Karina es gewohnt war, bietet sie eine willkommene Abwechslung zu den verschiedenen Vororten, in denen sie aufwuchs.
Schon immer war es ausgesprochen angenehm, sich in der Menge vorbeieilender, mehr oder weniger geschäftiger Menschenmassen, zu verlieren. Und mehr noch: auch zu wissen, dass sie darin verloren bliebe. Anders als in den Straßen ihres Wohnortes lief sie hier kaum Gefahr erkannt zu werden. Oder schlimmer noch, in ein Gespräch verwickelt, das sich später Stunde um Stunde in ihrem Kopf herumwälzte und sie um ihren Schlaf brachte.
Zumindest fühlte Karina sich frei genug, ihrer Einbildung, dass ihr in dem steten Trubel nichts geschehen konnte, freien Lauf zu lassen. Nichts geschähe hier, was ihr empfindliches, seelisches Gleichgewicht durcheinanderbrächte. Und diese Sicherheit wog schwer und dies in positiver Hinsicht. Bis die falsche Sicherheit von der Realität erschüttert wurde.
Schon in jungen Jahren hatte Karina festgestellt, dass es ihr half, sich bis zu einem gewissen Grade den Segnungen und dem Trost des Alkohols zu ergeben, und sei es auch nur um die Illusion freiwillig gesuchter Anonymität aufrecht zu erhalten. Und wo sollte dies einfacher gelingen, als in der Stadt, die wie keine andere für den Konsum von Bier und Schnaps stand.
Die Großstadt interessierte sich nicht dafür, wenn ihr Gang ein wenig unsicher, wenn ihre Aussprache verschleppt wurde oder ihr Gesicht ein breites und sinnloses Grinsen aufwies.
Doch Karina interessierte sich dafür. Eigentlich war es zu dieser Zeit das Einzige, was sie überhaupt noch interessierte. Die wenigen Momente des Glücks auszukosten, die sich ihr boten, erkor sie zu Sinn und Zweck des eigenen Lebens, nachdem Träume, Ideale und Vorstellungen schon vor langer Zeit gestorben waren. Sie unglücklich zu nennen wäre übertrieben. Aber das Glück zu suchen, wie sie es tat, war es ebenfalls. Selbstzerstörerisch könnte als Adjektiv zutreffen, dämlich ebenfalls.
Karina konnte an wenigen Finger abzählen, welche Gründe sie am Leben hielten. Ein Sport, den sie bereits seit ihrer Pubertät ausübte. Die Anzahl der Finger reduzierte sich von Zeit zu Zeit, doch wenigstens ein kleines Exemplar ließ sich mit mehr oder weniger viel Anstrengung ausfindig machen.
Zeitweise, und nicht zuletzt aufgrund der Essstörung, die Karina in geringerer oder größerer Ausprägung mit sich herumschleppte, handelte es sich bei dem Grund, weshalb sie es vorzog, dem Leben noch eine Chance zu geben, manchmal lediglich um ein Stück zartschmelzende Schokolade. Dieses konnte ihr vor Augen schweben, ebenso wie der Riesenbrezel, den die Zeit der Kirmes ihr bot oder ein Berg von Krapfen, der im Rahmen des bunten Treibens des Faschings an den verschiedenen Ständen und Ecken der Fußgängerzogen aufgebaut wurde. Die Stadt wusste schon immer, wie gefeiert wurde.
Und wie so viele in Karinas Lage wechselten sich die Phasen der Magersucht mit den Phasen des Alkoholismus lustig ab.
In diesem Jahr war es der Alkoholismus, der Triebe ausschlug. Und wann oder wo war dieser schöner zu genießen, als während der stillen Zeit, der Adventszeit. Weihnachten in der Stadt war für Karina stets, ob nüchtern oder betrunken, ein Erlebnis. Ihre Elsternatur fühlte sich magisch angezogen von dem Glitzer, dem Leuchten und dem Gold, das die Stadt verströmte. Straßen und Gassen schmückten sich wie zu keiner anderen Jahreszeit mit Glanz und Glorie, und Karina konnte Stunden und Tage damit zubringen, ihren liebsten Christkindlmarkt zu durchstreifen. Oder von Bude zu Bude zu schwanken, und das letzte Geld in die duftenden Getränke zu investieren, die in ihrem Flair von Zimt und Nelken das Versprechen von Gemütlichkeit und einem Heim in sich tragen.
Weihnachten am Hauptplatz war immer etwas Besonderes. Das konnte Karina nie jemand ausreden. Da mochten Freunde und Verwandte kritisieren, wie kommerziell der Markt strukturiert war, wie eintönig und gleichmäßig Jahr für Jahr die Abläufe heruntergebetet wurden. Für Karina jedoch verströmte exakt dieser so offen verschmähte Ort offener Zuschaustellung der Freude am lebendigen Konsum einen unvergleichlichen Zauber, der sie Jahr für Jahr wieder in ihren Bann zog. Ja, auf den sie sich bereits lange vor Beginn der kühlen Jahreszeit in geradezu übermäßigem Ausmaße freute.
Die Krone des Vergnügens bildete der riesige Baum vor dem Rathaus, dicht bestückt mit funkelnden Glühbirnchen, die je nach Stand des Alkoholpegels mehr oder minder munter flackerten.
Karina stand nicht selten neben der Säule im Zentrum des Platzes und vergaß alles um sich herum mit dem Anblick der tausenden von Sternen im grünen Nadelbett. Sie liebte diesen Baum, unabhängig davon, welch großzügige Gemeinde ihn stiftete, unabhängig davon, welche Höhe, Breite oder mitgebrachten Glühweine er mitbrachte. Sie liebte es, an ihm vorbeizulaufen, sich unter dem hohen gotischen Eingang in den Rathaushof hindurch zu ducken, die Vorstellung zu leben, sie befände sich inmitten einer Festung aus alter Zeit. Der Innenhof war ihr stets im Lichte und Klang der Festivitäten vergleichbar mit einer Burg, geheimnisvoll, dunkel, erhaben und schön. Und wenn sie diesem ruhigen Ort der eingebildeten Minne und Ritterspiele wieder entfloh, dann fand sie sich umgeben von Licht und Musik, dem Treiben des Christkindlmarktes, den Düften der Leckereien, die es nur zu dieser einen Zeit des Jahres geben durfte. Die nur zu dieser einen Zeit des Jahres genossen wurden.
Natürlich wurde es von Jahr zu Jahr auch schwieriger, diesen Zauber für sich wieder neu zu kreieren. Karina wurde älter, sie lernte, sie sah, und die Unschuld der Kindheit, sofern sie je eine gekannt hatte, verschwand. Aber Karina war immer schon verstockt. Sie gab nicht auf. Der Zauber der Weihnacht stellte den Höhepunkt ihres Jahres, den Gipfel ihrer Wünsche. Selbst wenn sie sich darum bemühen, darum kämpfen musste. Selbst wenn sie ihn vernachlässigte, um ihn stärker zu erleben. Selbst wenn sie sich dazu zwingen musste, in der Zeit zurückzuwandern.
Ablenkung half. Und Ablenkung erreichte sie in der Konzentration auf ein Leben außerhalb des Eigenen. Und wo ließ sich dieses Leben einfacher erfahren, als aus dem weichen Sessel eines Kinos aus. Karina liebte den Augenblick wenn der Vorhang sich öffnete, wenn die zuvor dunkle Leinwand aufleuchtete und einer neuen Welt Raum verlieh. Und die Vielfalt der Stadt erlaubte es ihr durch die Paläste zu tingeln, ohne dass sie sich zu oft in ein und demselben Ort wiederfand. Sicher kein unpraktischer Umstand, benutzte Karina doch das Kino vorzugsweise um sich im Schutze der Dunkelheit und im Rahmen der Gefühle, die ein Film auf Großleinwand auslösen konnte, restlos zu betrinken.
Auch zur Weihnachtszeit. Und gerade zur Weihnachtszeit, die ihren Zauber nicht verlieren durfte. Karina wusste sehr gut, dass sie diesen nur mit dem Einbruch der Dunkelheit fand, dass der Tag vergehen musste, die Belohnung verdient, bevor der Weihnachtsklang ertönte.
Vielleicht war es gut, dass sie eine hochprozentige Hilfe gewählt hatte, die ihr über die Zeit half. Vielleicht war es gut, dass der Film, erstaunlich uninteressant, eine Leere in ihr erzeugte, die tiefer ging, als die Sehnsucht nach der Wiederkehr weihnachtlicher Märchengefilde.
Wie es ihr Plan gewesen war, taumelte sie mit Hilfe des städtischen U-Bahn-Netzes Schritt für Schritt auf den Markt ihrer Sehnsüchte zu. Nur um sich angekommen, mit Bedacht und Genuss den Glühwein mit Schuss zu gönnen, den ihr verwirrter Verstand bereits seit geraumer Zeit nicht mehr nötig hatte.
Oh ja, Karinas Verstand umnebelten mehr Nebel als gut für sie war.
Doch nicht genug, als dass ihr die Gruppe junger Männer nicht aufgefallen wäre, die sich um den Tisch eines Standes sammelten. Sie sah sie an, ohne etwas zu sehen. Und ihr Gehirn, das überaus langsam zu arbeiten pflegte, registrierte zwei Dinge. Ihre eigene Einsamkeit, und die Tatsache, dass es sich um hübsche Exemplare exotischer Herkunft handelte. Sie lächelte. Sie lächelte wieder. Sie trank und ging. Sie verschwamm im Anblick des glitzerenden Baumes. Sie blinzelte gegen die funkelnden Lichter, den grellen Schein der Stände.
Bis er sie einholte. Und sie mitnahm.
Letztendlich war es das Beste, was ihr je passiert war. Nicht die Schwierigkeiten, die sich mit der Schwangerschaft, der Infektion, dem Leben mit einem Kind ergaben, dem sie kaum Mutter, geschweige denn Vorbild sein konnte.
Sondern auch weil sie feststellte, endlich feststellte, dass diese Stadt, ihre Stadt mehr war, als die glänzende Oberfläche der Verkaufswelten.
Die Stadt war Hilfe und Beistand. Und als sie die Hilfe fand, die sie suchte, als sie zuließ, dass er von ihrem Zustand erfuhr, als sie herausfand, dass er auf der Flucht war, da änderte sich ihr Leben in einem Ausmaße, das ihr zuvor undenkbar erschienen wäre.

Freitag, 19. Februar 2010

Erde

Titel: Erde
Autor: callisto24
* * *

Die Macht der Farbe

Schon seit Tagen hatte sie in dem alten Herrenhaus eine seltsame Mischung aus nervöser Aufregung und unheilvoller Vorahnung wahrgenommen. Es schien ihr, als sollte ein sorgsam gehegter Plan, der über Jahre hinweg in beinahe vergessener Tiefe gereift war, endlich zur Ausübung kommen.
Camilla zupfte den schlichten Rock ihrer blauen Hausmädchentracht zurecht und strich sich die halblangen, dunkelbraunen Locken zurück. Die weiße Schürze saß nahezu perfekt, während die handgestickte Spitze mit der liebevoll altmodischen Einrichtung des Hauses wundervoll harmonierte. Mit Staubwedel, Tuch und Möbelpolitur ausgestattet, betrat sie das Reich der Frau des Hauses.
„Sie sehen wieder entzückend aus, mein Kind“, klang es ihr entgegen. Frau Ludowik hatte, obwohl sie weit über 60 Jahre zählte, ein besonders ausgeprägtes Gespür für kleine Veränderungen.
„Und wie hübsch Sie Ihr Haar tragen, meine Liebe. Ich wusste doch, dass es offen viel besser zur Geltung kommt. Ein Gesicht wie das Ihre wirkt am besten, wenn seine innere Schönheit aus einem weicheren Rahmen heraus erstrahlen darf.“
„Es ist nur, weil in meinen bisherigen Stellungen immer großen Wert auf eine streng zurückgebundene Frisur gelegt wurde“, erwiderte Camilla.
„Ach papperlapapp! An erster Stelle kommt immer die Freude, die das Betrachten eines hübschen Menschen bietet. Und jeder Mensch ist hübsch, wenn er sich nur die Mühe macht, das Beste aus sich herauszuholen. Sicher, in Ihrem Alter ist das alles noch ein Kinderspiel, aber bei mir bedarf es da bereits eines größeren Aufwandes.“
„Sie sehen aber wirklich gut aus, wenn ich das sagen darf.“
„Sie dürfen das, mein Kind, denn bei Ihnen weiß ich, dass es sich um keine leere Schmeichelei handelt. Und Sie machen mir damit eine große Freude.“
Camilla lächelte, während sie sich mit dem Staubwedel zu schaffen machte. Es stimmte, sie bewunderte Frau Ludowik von ganzem Herzen, und das nicht nur wegen ihres, für ihr Alter und ihre Lage ungewöhnlich attraktiven Äußeren.
Frances Ludowik war seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren an den Rollstuhl gefesselt und auf Hilfe von außen angewiesen. Aber sie meisterte ihr Schicksal mit bewundernswerter Kraft und Zähigkeit. Das Haus, das der Vater ihr in jungen Jahren vermacht hatte, war im Laufe der Zeit auf ihre Situation in einer Weise eingerichtet worden, die sie ihre Behinderung nur noch selten spüren ließ. Es fehlte an nichts, angefangen mit Fahrstühlen und Treppenlift bis zur automatischen Videoüberwachungsanlage, die ihr die Beobachtung jedes Raumes des Hause, sowie des Gartens und der Pforte erlaubte.
Den Betrieb ihres Vaters, einen einträglichen Stoffhandel, hatte sie, eher widerwillig, in die Hände ihres Mannes, Anton Ludowik, geben müssen. Der stille, unscheinbare Mann schien damit zufrieden, dass die wichtigsten Dinge in ihrer Ehe der Kontrolle seiner Frau oblagen. So brachte er ihr auch regelmäßig die Geschäftsbücher mit nach Hause und ertrug geduldig die ab und an für Außenstehende sehr hart wirkende Kritik.
Camilla war schon so manches Mal Ohrenzeugin geworden, wenn Frau Ludowik ihren Mann einen Stümper und Versager genannt hatte, der sich ihr Geschäft erheiratet und nun nichts anderes im Sinn hatte, als es mit aller Macht in die roten Zahlen zu bringen.
Anton Ludowik war in diesen Fällen stets sehr leise aus dem Zimmer geschlichen, die Bücher fest unter den Arm geklemmt und in den Augen den Ausdruck tiefster Ergebenheit. Dennoch hatte er für Camilla immer ein freundliches Lächeln gefunden, auch wenn diese Freundlichkeit aufgesetzt wirkte und nicht von Herzen zu kommen schien.
Camilla erwachte aus ihren Gedanken, denen sie beim Möbelpolieren stets besonders intensiv nachzuhängen pflegte, als Frances Ludowik mit einem Rascheln ihr Magazin beiseite legte.
„Sie dürfen heute etwas früher gehen, mein Kind. Heute ist Freitag, da haben Sie sicher etwas vor. Außerdem habe ich einen Termin bei meiner Coiffeuse in der Stadt. Anton fährt mich und begleitet mich auch im Nachhinein bei meinen Einkäufen.“
Sie lächelte versonnen. „Ich denke, ich werde ein paar neue Farben ausprobieren. Das Innere eines Menschen verändert sich schließlich auch ständig. Daher fühle ich mich stets verpflichtet, den Farbton herauszufinden, der meinem Gemütszustand am ehesten entspricht.“
Nachdenklich blickte sie auf Camilla, die mit flinken Händen die Bilderrahmen abstaubte.
„Und Sie, Kindchen, dürften wohl auch zu den warmen Farbtypen zählen. Natürlich wäre zuallererst eine professionelle Farbberatung vonnöten, um ganz sicher zu sein, aber ich habe es im Gefühl, dass Ihr Teint in einem Terracotta-Ton leuchten würde. Nein, da besteht wohl kaum ein Zweifel. Ihr Haar besitzt unter all der dunklen Pracht denselben rotgoldenen Glanz wie das Meine vor 30 Jahren.“ Sie warf einen Blick in den kleinen Handspiegel. „Ich wünschte wirklich, Madame Chantal gelänge es, eine solche Farbe wieder hervorzulocken. Es ist doch Ihre Naturfarbe, nicht wahr?“
Camilla nickte und strich verlegen ihre Schürze glatt.
„Dann habe ich Recht. Ein oranges Tuch alleine könnte Ihr Äußeres zum Erglühen bringen.“
Sie schüttelte skeptisch den Kopf. „Dieses blaue Kleid allerdings, es stand ja Ihrer Vorgängerin, einer Schwedin wie sie im Buche steht, ganz reizend, aber sie bräuchten etwas, das weniger Kühle verströmt.“ Ein Stirnrunzeln folgte.
„Im Augenblick allerdings werde ich an Ihrer Tracht kaum etwas ändern können. Es ist eine der Bastionen meines Gatten. Er liebt es, seine dienstbaren Geister in Blau durch die Flure schweben zu sehen. Und in kleinen Dingen ist es immer ratsam, ein wenig Kooperationsbereitschaft zu zeigen. Zumal er sich im Augenblick auf den Verkauf des Hauses versteift hat und ich nicht gewillt bin, ihm in diesem Punkt nachzugeben.“
Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. „Sie brauchen sich demnach nicht um Ihren Arbeitsplatz zu sorgen, meine Liebe. Dieses Haus ist seit Generationen in meiner Familie und ich werde es nicht aus einer Laune heraus aufgeben.“
Sie gab einen Tropfen ihres bevorzugen Duftes auf ihr Handgelenk. Ein zarter Duft nach Ambra und Sandelholz erfüllte den Raum, während ihre Gedanken weiter wanderten: „Es ist wirklich seltsam, dass Fabienne nach so vielen Jahren auf Jahren auf die Idee gekommen ist, mich zu sich einzuladen. Was mag nur in sie gefahren sein? Wir haben uns im Grunde auch nie verstanden, die übliche Geschwisterrivalität vermutlich. Dazu kommt, dass ihr jedes Gefühl für die Realität abgeht. Erst heiratet sie diesen Betrüger, lässt es zu, dass er sich mit ihrem Geld davonmacht, und zeigt sich schließlich noch nicht einmal dankbar, dass ich ihren guten Ruf wieder hergestellt habe. Billig kam es mich nicht, das hat sie sich vielleicht ausgerechnet. Kein Wunder, dass ich so lange keinen Ton mehr von ihr gehört habe. Und nun diese Einladung gleich über das Wochenende. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig verwundert und nicht gerade erfreut bin.“ Sie hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln.
„Nun denn, ab Montag wird alles wieder seinen normalen Gang gehen. Erholen Sie sich gut, mein Kind, wir sehen uns dann in der nächsten Woche wieder.“
Das war das Zeichen für Camilla, dass ihre Tätigkeit beendet war. Sie verabschiedete sich, glücklich über ein paar unerwartete Stunden Freizeit. An der Gartenpforte traf sie Herrn Ludowik, der ihr an diesem Tag ein wenig lebendiger erschien als üblich.
„Vermutlich ist es die Sonne, die nach einigen Regentagen endlich wieder hervorgekommen ist und trotz der Kälte vergeblich versucht, den Frühling einzuläuten“, dachte Camilla bei sich.
Anton grüßte sie mit einem Kopfnicken und eilte die wenigen Stufen zur Haustüre empor. Daran, dass die Angestellten das Haus je nach Laune seiner Frau zu unterschiedlichen Zeiten verlassen durften, hatte er sich längst gewöhnt. Ohne einen Blick zurück zu werfen, schloss er die Tür hinter sich und entließ damit Camilla ebenfalls in ihr Wochenende.

Es waren zwei schöne Tage. Camilla entsann sich sogar der Unterhaltung mit Frau Ludowik, als sie bei einem Bummel durch die Einkaufsmeile in einem Schaufenster einen Schal in einem matten Orange entdeckte. „Vielleicht nach der nächsten Gehaltsauszahlung“, nahm sie sich vor, nicht ohne sich zu fragen, was ihre Chefin wohl am Montag über ihre Schwester zu berichten habe. „Vielleicht feiern die beiden ja doch ein glückliches Wiedersehen“, so spekulierte sie in den Abend hinein, aber entschied sich schließlich für den Rest ihrer freien Zeit jeden Gedanken an die Ludowiks zu verbannen.

Am Montag Morgen erschien, ein äußerst ungewohnter Anblick, Anton Ludowik in der Küche, während Camilla gerade dabei war, der Köchin beim Anrichten des Frühstückes zu helfen.
„Meine Frau frühstückt heute außerhalb“, sagte er. „Es tut mir sehr leid, dass Sie sich bereits bemüht haben. Ich habe nicht daran gedacht.“
Camilla kam es vor, als wirke er ein wenig zerfahren. Die Frisur, die für gewöhnlich perfekt saß, war eine Spur verrutscht und verriet, dass einige kahle Stellen mit Hilfe eines Toupets korrigiert wurden. Auch die Augen irrten unruhig umher, wobei er von einem Bein auf das andere trat.
„Fahren Sie bitte mit Ihrer Arbeit fort wie gewohnt“, murmelte er schließlich, drehte sich abrupt um und verschwand.
„Na, der hatte wohl ein anstrengendes Wochenende mit zwei Frauen von diesem Schlag“, meinte die Köchin und goss sich den Kaffee aus dem beinahe durchsichtig wirkenden Porzellankännchen von Frances Ludowiks Tablett in ihre umfangreiche Frühstückstasse.
Camilla erledigte ihre Arbeit wie an jedem Tag der Woche. Sie vermisste ein wenig die Unterhaltung, aber andererseits freute sie sich, dass ihre Arbeitgeberin anscheinend eine schöne Zeit hatte.
Als sie jedoch am späten Nachmittag noch immer noch eingetroffen war, beschloss sie, Herrn Ludowik aufzusuchen, der beinahe den ganzen Tag zu Hause mit dem Sortieren wichtiger Papiere verbracht hatte.
Er sah verwirrt hoch, wobei seine schmale Brille auf die Nasenspitze glitt. Nervös versuchte er, sie zurecht zu rücken, aber es war, als wollte sie ihren angestammten Platz nicht mehr einnehmen.
„Hm, sie kommt heute Abend. Fabienne wird sie bringen.“
„Die beiden verstehen sich ausgezeichnet“, setzte er noch hinzu. „Wundern Sie sich nicht, wenn sie morgen wieder den ganzen Tag beisammen sind. Einkaufen und was Frauen so gerne tun.“
„Ich verstehe“, sagte Camilla.“Dann richten Sie ihr doch bitte meine Grüße aus.“
Aber Herr Ludowik war wohl zu vertieft in seine Akten, um sie noch hören zu können und Camilla rätselte einen Moment, ob sie sich seiner Ansicht nach eventuell mit ihrer Bitte zu viel herausgenommen hatte.

Am folgenden Tag schien die Stimmung im Hause auf eine beklemmende Wiese ähnlich eigenartig. Frau Ludowik war ungewöhnlich früh zu ihrer Schwester aufgebrochen, so erwähnte es ihr Mann wiederholt, bevor er sich zurückzog.
Dennoch waren über all die Spurenihrer Anwesenheit bemerkbar. Ein schwacher Duft ihres Parfums durchzog die Räume, das Bett und Fahrstühle waren benutzt, der Rollstuhl verschwunden und gebrauchte Kleidung durch den Wäschetunnel in ihrem Schlafzimmer in die Wäscherei-Räume des Kellers gelangt.
Bei Auswechseln der Lavendelkissen in den Kleiderschränken fiel Camilla auf, dass eines der neueren Kostüme fehlte. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer und fiel auf den Frisiertisch, der in Höhe und Form exakt den Bedürfnissen einer Rollstuhlfahrerin angepasst war. Es wunderte sie nicht, auf dem Regal unter dem Spiegel einen einsamen Lippenstift zu entdecken. Ihre Chefin war es gewohnt, bei jedem ihrer kleinen Ausflüge einen neuen zu erwerben. Diesen pflegte sie kurze Zeit zu benutzen, um ihn dann zu den anderen in die unterste Schublade zu verbannen und reumütig zu ihrer gewohnten Marke zurückzukehren.
„Nur ein harmloser Zeitvertreib“, so hatte Frau Ludowik diese Angewohnheit einmal genannt. „Ein weiterer Schritt bei dem immerwährenden Versuch, den perfekten Farbton zu finden. Ich habe die Farbe bereits im Kopf, aber keine Kosmetikfirma der Welt ist fähig, sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Es müsste eine Mischung aus Goldbraun und beige sein, aber matt und mit einem deutlich rötlichen Unterton, so wie helles Herbstlaub an einem dämmrigen Tag. Nach so einer Farbe suche ich.“ Bei diesen Worten flog jedes Mal wiederein Ausdruck über ihr Gesicht, der am ehesten dem eines Kindes ähnelte, das sich auf einen Lutscher freute. „Es macht einfach Freude, immer wieder auf Entdeckung zu gehen. Eine Art letztes Abenteuer“, so fügte sie manchmal mit leiser Wehmut hinzu.
Camilla näherte sich dem Spiegel und betrachtete den Stift. Er stand offen, wie immer, wenn er neu war, da sich Frau Ludowik gerne an der neuen Farbe erfreute. Sie nahm ihn in die Hand und fühlte die kühle Glätte des verchromten Metallstiftes. Als sie ihn zuschraubte, spiegelte sich ihr Gesicht verzerrt in dem glänzenden Silber.
Und mit einem Mal war ihr klar, was sie zu tun hatte.

Mit entschlossenen Schritten trat sie, ohne anzuklopfen, in das Arbeitszimmer.
Herr Ludowik fuhr zusammen, als sie die Tür geräuschvoll hinter sich schloss.
„Es tut mir sehr leid Sie stören zu müssen, Herr Ludowik, aber es handelt sich um eine Art Notfall.“
„Was gibt es denn?“, fragte der Angesprochene, sichtlich ungehalten.
Camilla schlug die Augen nieder.
„Mein Großvater ist schwer erkrankt. Er hat außer mir niemanden mehr, der sich um ihn kümmern kann. Ich muss Sie daher bitten, mir ein paar Tage freizugeben. Und wenn Ihre Gattin ohnehin seltener hier ist …“
„Oh ja, sicher, sicher“, beeilte sich Herr Ludowik. „Natürlich können Sie gehen, wenn Not am Mann ist. Meine Frau hat gewiss keine Einwände. Gehen Sie nur und sorgen Sie für Ihre Familie.“
Nach und nach wurde er richtig aufgeregt. Eine merkwürdige Erleichterung schien sich seiner zu bemächtigen, als ob eine Sorge weniger sein Haupt niederdrückte.
„Die Familie ist und bleibt das Wichtigste. Bleiben Sie nur fort, solange es nötig ist.“
Camilla bedankte sich, holte ihre Tasche und lief, ohne sich umzuziehen, zur Tür hinaus, durch den Garten, die Pforte und die Straße entlang bis zur Bushaltestelle.
Eine Ewigkeit später, so kam es ihr vor, stand sie vor dem großen, grauen Gebäude, das sie bis jetzt immer nur von weitem und dazu noch gemütlich in einen Fensterplatz gekuschelt, betrachtet hatte.
Zögernd trat sie ein. Die Größe der Räume und die zahllosen Uniformierten schüchterten sie derartig ein, dass sie etwas verloren stehenblieb, bis ein freundlicher junger Mann ihr zur Hilfe eilte.
„Wo möchten Sie denn hin?“ Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“ Er lächelte sie zuversichtlich an.
„Eigentlich wollte ich in das Polizeipräsidium, aber ich glaube, dass ich mich hier nicht zurechtfinde.“
„Worum geht es denn bei Ihrem Problem?“
Camilla schluckte unsicher. „Ich glaube, dass jemand verschwunden ist oder noch Schlimmeres.“

Ein paar Tage später wurde Camilla erneut in das Präsidium bestellt. Der ältere Kriminalbeamte, der ihr Protokoll aufgenommen und dabei reichlich skeptisch ausgesehen hatte, begrüßte sie ausnehmend freundlich.
„Kommen Sie nur herein, wir würden Sie gerne auf einen Kaffee einladen, denn Sie haben uns eine Menge Arbeit erspart. Dafür müssen wir uns bei Ihnen bedanken.“
„Und außerdem“, warf sein junger Kollege ein, „brennen wir darauf zu erfahren, wie Sie darauf gekommen sind. Es muss Ihnen doch etwas aufgefallen sein, da Sie dem Gaunerpärchen so zeitig auf die Schliche kamen.“
Camilla nahm zögernd ein Glas Orangensaft entgegen und verzichtete dankend auf den abgestanden duftenden Kaffee.
„Es war schon vorher alles ein bisschen seltsam, aber als mir der Lippenstift auffiel, wusste ich, dass Frau Ludowik nicht zurückkommen würde, geschweige denn, dass sie überhaupt da gewesen war.“
Sie musste lächeln, als ihr die fragenden Gesichter der Beamten auffielen.
„Die meisten Männer kennen sich nicht besonders aus mit Farben und Nuancen. Sicher gibt es Ausnahmen, aber Herr Ludowik ist keine. Er dachte, wenn er einen Lippenstift in einem beigefarbenen Ton kauft, kommt er dem Geschmack seiner Frau am nächsten. Dazu hätte er allerdings wissen müssen, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen warmen und kühlen Beigetönen gibt. Und eine Farbe wie Metallic Beige-Rose hätte seine Frau sich niemals auf ihren Schminktisch gestellt. Sie war überzeugt davon, dass ein Herbsttyp wie sie nichts außer warmen, erdigen Farben tragen dürfte. Alles andere wäre eine Beleidigung für das Auge und würde außerdem zu ihrem Innern in Missklang stehen.“
Gedankenverloren nippte sie an ihrem Glas. „Naturhaarfarben, Schnitt und Stoff der Kleidung, Parfum mit orientalischer Note, alles musste für sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sein. Ein kühler, metallischer Farbton, noch dazu in einem silbernen Stift? Mir war klar, dass sie ihn nie gewählt hätte. Etwas musste passiert sein, und so wie ihr Mann sich benahm, war es etwas Endgültiges.“
Auf einmal sah sie sehr traurig aus.
„Ich glaube, dass ich lieber nicht wissen möchte, was sie mit ihr gemacht haben.“
Die Kriminalbeamten schwiegen etwas betreten. Dann unterbrach einer der Älteren die Stille.
„Sie ist sicher friedlich eingeschlafen, wenn man das unter diesen Umständen und bei dieser Menge Schlaftabletten so sagen kann. Ihre Schwester und ihr Mann haben dafür gesorgt, dass sie nicht leiden musste.“
„Auf jeden Fall kamen wir wirklich im allerletzten Augenblick. Die beiden hatten bereits alles für den Verkauf der Aktien und des Hauses in die Wege geleitet. Fabienne Ludowik konnten wir gerade noch am Flugplatz aufspüren, in ihrer Reisetasche zwei Tickets nach Bolivien.
Und dem guten Anton war seine Kleinlichkeit zum Verhängnis geworden. Anstatt das Geschäft so schnell wie möglich klar zu machen, verhandelte er derartig umständlich, dass es den Bankbeamten wohl auch ohne unsere Hilfe bald eingefallen wäre, die Unterschriften seiner Frau einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
Eine Weile hat er noch alles geleugnet, aber bei dem Gespräch mit unserem Polizeipsychologen ist er dann schließlich zusammengebrochen und hat alles gestanden. Anscheinend war Fabienne Ludowik schon lange die treibende Kraft und er, gewohnt sich einer stärkeren Frau unterzuordnen, setzte ihren Plan in die Tag um.“
Der junge Mann lächelte Camilla an. „Bei Ihrer guten Beobachtungsgabe schlage ich einen Berufswechsel vor. Wie wäre es mit unserer Branche?“
Camilla schüttelte den Kopf. „Das wäre viel zu deprimierend für mich. Den ganzen Tag nur von Tod und Leid und Schlechtigkeit zu hören, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wünsche mir eher, dass sich die Menschen freuen, wenn ich zu ihnen komme.“
Sie sagte in diesem Augenblick nicht, was ihr durch den Kopf ging, aber ein Gedanke hatte sich dort eingenistet, ein Gedanke, den sie auch auf dem Nachhauseweg nicht mehr los wurde. Plötzlich stand sie wieder vor dem Haus, in dem sich gerade erst so Vieles abgespielt hatte. Camilla schauderte ein wenig, aber sie konnte nicht anders, sie musste es betreten.
Still war es, so still, wie es wohl noch nie darin gewesen war. Aber noch etwas hatte sich verändert. Es war eine friedliche Ruhe. Der Druck, der jahrelang auf dem Haus und seinen Bewohnern gelastet hatte, war nun verschwunden. Camilla lehnte sich an eine Wand und spürte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. Sie trauerte um Frau Ludowik, um ihren Mann und um ihrer beider Leben, das sie sich gegenseitig zur Hölle gemacht hatten.
Auf einmal erklangen Schritte. Die Köchin stampfte atemlos herein, im Schlepptau den alten, steifbeinigen Gärtner.
„Camilla“, rief sie. „Stell dir nur vor. Wir sollen alle hierbleiben und sofort mit der Arbeit beginnen. Die alte Ludowik wollte es so. In ihrem Testament hat sie bestimmt, dass dieses Haus ein Zentrum für Schlaganfall - Patienten wird. Und wir alle sollen es weiterführen und den Leuten helfen, die dasselbe Schicksal erlitten haben wie sie. Was sagst du dazu?“
Sie stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich vor. „Ich sag’s euch im Vertrauen. Die hat doch über alles genau Bescheid gewusst. Nur so konnte sie sicher sein, dass der alte Anton keinen Krümel von dem Vermögen zu Gesicht bekommt.“
Ein kräftiges Nicken unterstützte ihre lautstark vorkündete Meinung.
Camilla betrachtete die mollige Gestalt, die nun voller Tatendrang durch die Räume fegte und mit ihrem Eifer jeden ansteckte, sogar betagte Gärner mit steifen Beinen, und sie musste unter Tränen lächeln.
„Ja“, dachte sie bei sich. „So ergibt es doch alles einen Sinn.“

Donnerstag, 18. Februar 2010

Fluch

Titel: Fluch
Autor: callisto24
* * *

Der Weg führt nach Nirgendwo

„Wie konnte das nur passieren?“ Sie fragte es sich immer und immer wieder. Was war nur falsch gelaufen? Das war es doch nicht, was sie gewollt hatte. Alles andere, nur das nicht.
Halb blind vor Tränen steuerte Carina den alten Wagen die verlassene Landstraße entlang.
Begonnen hatte es wie eine von Kevins üblichen verrückten Ideen.
„Du wirst sehen, es gibt nichts Einfacheres als diesen Plan. Bevor wir uns richtig umsehen können, liegen wir mit einem riesigen Haufen Bargeld in Rio am Strand. Und geschädigt wird auch niemand. Wozu gibt es schließlich Versicherungen?“
Carinas Zweifel und Ängste wusste er gekonnt nach und nach zu zerstreuen. Und letztlich, warum auch nicht?
Die alte Witwe Myrtletraub würde es sicher kaum bemerken, wenn ein paar ihrer Klunker fehlten. Sie trug ohnehin Jahr und Tag dasselbe schlichte braune Kostüm mit der Perlenkette, während ihre berühmte Schmucksammlung vor sich hin staubte.
Bereits am ersten Tag ihrer Stelle als Hauswirtschafterin bei der alten Myrtletraub hatte diese Carina mit ernster Miene darauf hingewiesen, unter gar keinen Umständen dem Schmuck zu nahe zu kommen.
„Ein Fluch liege darauf“, hatte die Witwe geheimnisvoll gewispert. Und wäre Kevin nicht in ihr Leben getreten, dann hätte Carina auch nie einen weiteren Gedanken daran verschwendet. Denn seit ihrem ersten, missglückten Versuch als Ladendiebin hielt sie sich streng an alle Gesetze und Vorschriften.
Bis zu diesem Tag.
Kevins ständige verlockende Träume und Versprechungen hatten endlich Früchte getragen und Carina war fest entschlossen, ihrer großen Liebe überall hin zu folgen.
Aber dann kam alles anders.
Die Witwe war verreist und Carina hatte die Gelegenheit genutzt.
In ihrer kleinen Wohnung breitete Kevin dann die gestohlenen Ketten und Ringe, die Broschen und Armreifen gierig vor sich aus. „Ist das auch wirklich alles?“, fragte er. „Mehr gibt’s da nicht zu holen? Wenn ich das verscherbelt habe, bleibt uns nicht viel mehr als die Flugtickets. Es hilft nichts. Gib mir den Schlüssel, ich muss da auch hin. Vielleicht finden wir Antiquitäten, Bilder oder solchen Kram.“ Er sah Carina abschätzend an. „Du hast sicher etwas übersehen.“ Damit griff er zum Telefon. „Theresa, ich bin’s. Wir treffen uns Turmstraße 19. Es muss sich da mehr herausholen lassen.“
„Was hat das zu bedeuten?“, stammelte Carina. „Mit wem willst du dich treffen?“
„Aber Schatz“, brummte Kevin beiläufig. „Beruhige Dich und gib mir den Schlüssel.“
„Nein.“ Carina presste die Lippen zusammen und wich einen Schritt zurück.
Kevin runzelte die Stirn. „Nun komm schon, Süße. Zier dich mal nicht.“
„Nein“, schrie Carina hysterisch. „Was ist mit uns? Was ist mit Rio?“
„Gib mir den Schlüssel und alles klärt sich von selbst.“ Kevin trat ein paar Schritte vor und griff nach ihrer Handtasche. Wie in Trance ließ Carina es zu, dass er diese durchwühlte und danach achtlos fallen ließ. Als er den Schmuck zusammenpackte, fragte sie urplötzlich ruhig geworden. „Du fährst nicht mit mir fort, oder?“
Kevin hielt inne, hob den Kopf und grinste sie an. „Mit einer grauen Maus wie dir? Wohl kaum.“
An das Weitere erinnerte Carina sich nur noch dunkel. Wie sie die Stoffschwere gegriffen und zugestochen hatte. Der ungläubige Blick Kevins und dann das viele Blut. Sie musste nur noch raus, fort von dem verfluchten Schmuck, fort von ihren zerstörten Träumen.
Der Motor begann zu stottern. Der Benzintank war fast leer. Ohne zu wissen was sie tat, steuerte Carina den Wagen in den Straßengraben, bis er an einem trockenen Busch zum Stehen kam.
Sie floh aus dem engen Käfig des Autos und ohne einen Blick zurück zu wagen rannte sie weiter. Nur fliehen vor den Erinnerungen. Schneller und immer schneller hastete Carina vorwärts. Sie lief und lief, bis sie auf einmal keinen Boden mehr unter den Füßen fühlte. Für einen Moment fiel sie frei wie ein Vogel, bis der Aufprall ihr das Bewusstsein, die Erinnerung und das Leben nahm.

Dienstag, 16. Februar 2010

Kekse

Titel: Kekse
Autor: callisto24
* * *

Kekse


Das war vielleicht wieder ein Tag“, dachte Rosie, während sie tief seufzend die Haustür aufschloss. „All die Plackerei in dieser vermaledeiten Hauswirtschaftsschule, wozu sollte die wohl gut sein? Kein vernünftiger Mensch wird heutzutage noch Hausmädchen. Das konnte ja auch bloß meiner Mutter einfallen.“ Auf diese Weise mit ihrem Schicksal hadernd trat sie ein, wobei ihr das ohrenbetäubende Gebrüll ihres kleinen Brüderchens mit voller Kraft entgegenschlug.
„Gott sein Dank, dass du kommst.“ Eine völlig aufgelöste Frau Malling kam ihr eilig entgegen, auf den Armen Klein-Fabian, der neben Brüllen und Weinen immer noch ausreichend Energie hatte, um wild um sich zu treten.
„Rosie, das Krankenhaus hat angerufen. Eine Kollegin ist ausgefallen. Ich muss spätestens in einer halben Stunde am Abendband sein und mich um die Planung für morgen kümmern. Bitte sei so gut und nimm Fabian, bis ich zurück bin. Es ist wirklich wichtig.“
„Waaas?“, explodierte Rosie. „Ich soll den kleinen Schreihals schon wieder hüten? Immer diese dämliche Klinik. Als ob die anderen nicht ganz hervorragend ohne dich das Brot auf die Teller packen können. So schwierig ist das nun auch wieder nicht. Ihr Diätassistenten macht das Ganze doch nur unnötig kompliziert.“
„Du weißt genau, dass es nicht so einfach ist. Wenn die Beschwerden der Patienten sich beim Chef auf dem Schreibtisch stapeln, dann weiß er sofort, bei wem er seinem Ärger wieder Luft machen kann.“
„Und dann bekommt es dein Gehaltsscheck zu spüren“, ergänzte Rosie. „Weiß ich, hab ich alles schon tausendmal gehört.“
„Du bist ein Goldschatz. Hier hast du den Kleinen.“ Ehe Rosie sich versah, drückte die Mutter ihr Fabian in den Arm und begann hastig Autoschlüssel, Geldbörse und andere unverzichtbare Kleinigkeiten in eine unförmige, schwarze Tasche zu bugsieren. Dabei erteilte sie Rosie ohne Pause Ratschläge, während das Mädchen ihr schmollend gegenüber stand.
Fabian hatte glücklicherweise eine beruhigende Beschäftigung gefunden, indem er versuchte, Rosies lange, schwarze Haare einzeln auszureißen.
„Er hat schlecht geschlafen heute“, erzählte Frau Malling. „Fängt an zu weinen bei jeder Kleinigkeit. Am besten Du spielst etwas mit ihm, was er besonders gerne hat. Und sei ja lieb zu ihm. Du weißt, seine Erkältung vor kurzem und dann der ganze Ärger mit Bernd.“
„War ja klar, dass der wieder ins Spiel kommen musste“, dachte Rosie.
„Und dann sind noch Reste im Kühlschrank. Nur aufwärmen, aber bitte, bitte nicht nachwürzen. Auch wenn du es nicht glauben kannst. Für kleine Kinder ist Salz im Essen absolut kein Gewinn.“
„Ich weiß auch das“, seufzte Rosie gottergeben. „Nun gehe schon, Mama, bevor du die ganze Bude einpackst.“
Mit einem flüchtigen Abschiedskuss für Fabian und einem dankbaren Blick an die Babysitterin entschwand Frau Malling.
„Na endlich“, seufzte Rosie und setzte erst einmal den strampelnden Bruder ab.
„Jaja, reg dich nur auf. Aber mich kriegst du nicht so schnell klein. Mal sehen, womit wir dich heute beschäftigen können.“
Aber ein Blick in das Wohnzimmer genügte, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen.
Es wies erhebliche Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld auf. Überall lagen Stofftiere und Puppen verstreut.
Fabian wurde schließlich geschlechtsneutral erzogen. Dazwischen türmten sich Bauklötze und Legosteine, Papier und Wachsmalkreiden. Auch ein unvollendetes Wandgemälde hinter dem Schrank fiel Rosie ins Auge. Auweia, das hatte Mama wohl noch gar nicht gesehen?
„Also ruhiges Spielen ist wohl nicht“, sagte sie laut zu Fabian. Dieser trommelte inzwischen ungebrochen auf den Fußboden ein.
„Dann müssen wir wohl etwas anderes versuchen.“ Sie überlegte angestrengt. „Fabian, beruhige dich doch einmal. Was hältst du vom Kekse backen?“
„Was has du gesaagt?“ Fabian hielt sofort in seiner anstrengenden Tätigkeit inne. „Kekse backen“, wiederholte sie.
„Au ja.“ Er klatschte aufgeregt in die Hände. „Kekse backen, Teig kneten, schnell, Fabi hilft.“
Flink war er auf den kleinen Beinchen und schob und zerrte mit aller Kraft an dem kleinen Hocker, der ihn auf eine Höhe mit dem Küchentisch brachte, dem eindeutig interessantesten Platz im ganzen Haus. Schon hatte er den größten Holzlöffel am Wickel und setzte sein Trommelkonzert auf der Tischplatte fort.
Rosie holte inzwischen Schüssel, Knetrolle und diverse Zutaten herbei, die sie in ungefährlicher Entfernung zu den kleinen Händchen des Brüderchens aufbaute.
„So, das hätten wir.“ Sie sah Fabian vielsagend an.
„Natürlich backen wir keine trockenen Gesundheitsplätzchen wie deine Mutter es zu tun beliebt. Nee, bei uns gibt es heute Zucker, Butter und Weißmehl satt. Kein cholesterinfreier Ei-Ersatz, kein Süßstoff und schon gar keine Halbfettmargarine.“
„Butta“, schrie Fabian. „Will Butta haben.“
„Du bekommst gleich Teig, Kleiner. Dann kannst du kneten, bis du umfällst.“
Gekonnt mischte Rosie Mehl, Butter und Zucker zusammen und knetete im Handumdrehen einen handlichen Klumpen zusammen.
„Wir sparen uns natürlich die ganzen Kinkerlitzchen von wegen den Teig kalt stellen, zwischen Folien ausrollen und den anderen Hauswirtschaftsquatsch.“
„Quatsch“, wiederholte Fabian stolz, wobei er eine Handvoll Teigkrümel gleichmäßig auf dem Küchenboden verstreute.
Rosie bewahrte mühsam die Ruhe und begann aus der langen Rolle, die sie geformt hatte, dicke Scheiben zu schneiden und auf das Blech zu legen. „Ich muss dich jetzt woanders hin verpflanzen, Fabian. Der Ofen ist heiß und ich fürchte, dass du ausrutscht und dich verbrennst.“
Wie zu erwarten setzte augenblicklich ein ohrenbetäubendes Gebrüll ein. Fabian wehrte sich mit Händen und Füßen, als Rosie ihn herunternehmen wollte.
„Schhh“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
In demselben Augenblick läutete es natürlich an der Haustür.
Rosie fuhr erschrocken zusammen. Hektisch versuchte sie den immer noch zappelnden kleinen Mann zu bändigen. „Wenn du Mama nichts sagst, geb ich dir von dem Zucker.“
Der Kleine sah sie mit großen Augen an und war auf einmal der reinste Engel.
„Fabi ist ganz lieb. Nur Zucker haben.“
Da klingelte es schon wieder.
Schnell nahm Rosie den Zucker aus dem Schrank, füllte einen Löffel davon in eine kleine Schüssel, gab es ihm hinunter und schob darauf das Blech in den Ofen.
„Ich mache nur schnell die Tür auf“, rief sie schon auf dem Weg dorthin.
Verdächtige Stille breitete sich hinter ihr aus, als sie vorwärts hastete.
„Oh nein! Was willst du denn hier?“, entfuhr es Rosie, als sie den Besucher erblickte.
„Ist deine Mutter nicht da?“ fragte Bernd, dessen Gesicht von einem überdimensionalen Strauß Rosen zum größten Teil verdeckte wurde.
„Die ist in der Klinik. Notfall“, antwortete Rosie knapp ohne von der Stelle zu weichen. Der Anflug einer Besorgnis huschte über das Gesicht des Mannes, verflog jedoch im Angesicht des herausfordernden Schmollmundes und der vorgeschobenen Unterlippe, die Rosie zur Schau stellte.
„Ahem. Kann ich denn rein kommen?“
„Wenn’s denn unbedingt sein muss“, lautete die wenig freundliche Antwort.
„Was macht denn Fabi?“, fragte Bernd, während er sich und seinen Strauß vorsichtig durch die Garderobe zwängte.
„Der ist mit seinem geliebten Zucker beschäftigt.“
Bernd machte große Augen. „Sag mal, weiß das deine Mutter, was du ihm vor die Nase setzt?“
„Bin ich hier der Babysitter oder du?“, brauste Rosie auf. „Hättest du den Job auch einmal gemacht, dann wüsstest du wie schwierig das ist. Aber was rege ich mich überhaupt auf? Das ist hoffentlich sowieso dein Abschiedsbesuch.“
„Es tut mir leid, dass ich mir so wenig Mühe gegeben habe. Aber das wird jetzt alles anders werden. Deshalb wollte ich mit deiner Mutter sprechen.“
Rosie staunte nicht schlecht. Das waren ja ganz neue Töne. Und wenn Bernd wirklich ab und an das leidige Babysitten übernähme, war das gar nicht mal so übel.
Aber man sollte sich niemals zu früh freuen. Also setzte sie ein skeptische Miene auf und sagte: „Fabi ist in der Küche. Ich werde ihn holen gehen.“
Gewichtig stapfte sie vorneweg und betrat den Raum, in dem sie Fabian zurückgelassen hatte.
„Fabi Teckdose“, verkündete der Kleine stolz, wobei der sich mit seinem Zuckerlöffel an der Steckdosensicherung zu schaffen machte.
„Fabian“, schrie Rosie erschrocken und stürzte über den Küchenboden, wobei ihr Unterbewusstsein ein merkwürdiges Knirschen registrierte. Aber noch schneller war Bernd, der wie der Blitz an ihr vorbei zischte und den Jungen von seiner gefährlichen Beschäftigung fortriss.
„Gott sei Dank“, atmeten sie beide beinahe gleichzeitig auf und sahen sich erleichtert an. In diesem Augenblick fiel Rosie das geheimnisvolle Geräusch von vorhin wieder ein und sie riskierte ahnungsvoll einen Blick nach unten.
„Oh mein Gott, der ganze Zucker!“
Eine dünne Schickt aus feinen, weißenKristallen überzog den gesamten Boden. Dazwischen lag die leere 5-Kilo-Sparpackung, die Rosie in ihrer Eile wohl zu nah am Tischrand abgestellt hatte.
Fabian sah aus, als habe er in Zucker gebadet. Von seinen Löckchen rieselten unaufhaltsam die winzigen Körnchen und verfingen sich in Bernds dickem Pullover.
„Was für eine Bescherung“, lachte Bernd und schüttelte den Kleinen, dass die Zuckerkristalle nur so flogen. Rosie war eher den Tränen nah.
„Wie soll ich das nur alles wieder sauber machen?“
„Keine Angst“, beruhigte sie Bernd. „Fabian und ich holen die Besen und im Nu ist klar Schiff.“
„Das darf doch alles nicht wahr sein“, seufzte Rosie und eilte, um dem Kleinen ein Bad einzulassen. Hoffentlich gelänge es ihr, das klebrige Zeug aus seinen Haaren zu entfernen.
Schon befand sie sich wieder auf dem Rückweg, als das vertraute Klappen der Haustür ertönte. Aber Mama konnte doch unmöglich schon wieder zurück sein, oder doch?
„Was ist denn hier los?“ erklang Frau Wallings ungehaltene Stimme. „Rosie, kann man dich denn gar nicht alleine lassen?“
„Mama, wieso bist du schon wieder zurück?“
„Es hat da ein Durcheinander gegeben. Auf einmal waren wir zwei Vertretungen und da habe ich mich halt abgemeldet. Und nun finde ich hier ein Chaos vor. Wo hast du den Kleinen gelassen?“
„Hier sind wir schon.“ Schwer bepackt mit dem inzwischen friedlich eingeschlafenen Fabian, Besen und Staubsauger tauchte Bernd hinter ihnen auf. „Es riecht etwas angebrannt.“
„Oh nein, die Kekse“, rief Rosie und stürzte zum Backofen.
„Was willst du denn eigentlich schon wieder hier?“, fragte Frau Walling Bernd angesäuert. „Ich dachte, wir hätten uns alles gesagt.“
„Seht euch nur diese Plätzchen an“, seufzte Rosie betrübt. „Kohlschwarz und hart, zum Zähne ausbeißen.“
Ohne sie zu beachten, sagte Bernd ernst: “Ich glaube, dass ich die Lösung für unsere Probleme habe. Mein Chef hat mir vorgeschlagen auf flexiblere Arbeitszeiten umzusteigen. Das würde bedeuten, dass ich meine Termine besser mit deinen abstimmen kann. Nachmittags könnte ich fast immer zum Babysitten frei sein und damit auch Rosie entlasten. Und du müsstest nicht immer so verzweifelt nach einer Betreuung suchen, wenn bei euch Not am Mann ist.“
Rosie stellte ihr Tablett ab, nachdem sie mit offenem Mund zugehört hatte.
„Das akzeptieren wir sofort, Punktum“, entschied sie. „Hast du überhaupt schon den herrlichen Strauß Rosen gesehen, Mama? Ich glaube, die brauchen dringend Wasser.“
„Aber Rosie“, meinte Frau Walling. Aber in ihren Augen stand ein kleines Zwinkern, als sie zu Rosie sagte: „Wir werden ja sehen. Ich glaube allerdings, dass sie keine ganze Badewanne voll brauche.“
„Die Wanne!“, rief Rosie und stürmte von dannen. Nur deshalb konnte sie nicht mehr sehen, wie ihre Mutter und Bernd sich gegenüberstanden und still anlächelten.

Montag, 15. Februar 2010

Verrat

Titel: Verrat
Autor: callisto24
* * *

In nicht allzu ferner Zukunft


„Emilia, nun beeile dich doch!“, rief Clarissa ihrer ältlichen Kollegin zu. „Es ist schon sechs Uhr durch und ich möchte noch vor den Polizeikontrollen in Gang 9 sein.“
„Ich komme ja“, seufzte Emilia Schnecke, während sie nervös in ihrem schwarzen Ungetüm von Tasche kramte. „Weißt du wo die Schlüssel zum Lager sind?“
Clarissas Lippen kräuselten sich halb spöttisch, halb mitleidig, während sie ihre sorgfältig mit schwarzem Kajal umrandeten Augen nach oben verdrehte.
„Carlos hat bereits abgeschlossen, als du noch mit deinen letzten Paketen beschäftigt warst.“
Ihre Stimme wurde etwas sanfter. „Glaubst du nicht, dass die Arbeit hier ein bisschen viel für dich wird?“
Emilia schüttelte den Kopf, so dass sich einige graue Strähnen aus ihrem dicken Zopf lösten und zu den anderen gesellten, die wirr von ihrem kleinen Kopf abstanden und ihr ein etwas absonderliches und zerstreutes Aussehen verliehen.
„Ich schaff das schon“, murmelte sie mehr zu sich selbst und schlüpfte in einen unförmigen, dunklen Mantel, nicht ohne dabei das Vorhandensein des Tränengas-Sprays und der winzigen, silbernen Betäubungspistole zu kontrollieren.
Clarissas hohe Absätze tippten ungeduldig auf den kunststoffbeschichteten Boden.
„Nun mach mal hin!“, drängte sie. „Bald kommen die ganzen Verrückten aus ihren Löchern und bis dahin möchte ich wenigstens von den Transportbändern runter und in einer gemütlich sicheren Zone voller Menschen sein.“
Emilia dachte an ihre schmerzenden Füße, während sie der Kollegin folgte. Wie jedes Mal überfiel sie ein leichter Schwindel, als sie das Rollband betrat und hatte Mühe ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Müde Gesichter tauchten aus dem grauen Dunst des Tunnels vor ihr auf und fuhren stumm an ihr vorbei, ohne von dem schwarzen Gummistreifen, der sie trug, aufzusehen. Emilia starrte in die bläulich schimmernden Leuchtröhren über ihr.
„Gang 6, ich muss!“, sagte die Jüngere plötzlich und wechselte leichtfüßig von dem Fließband auf die Rolltreppe, die einen abzweigenden Tunnel hinaufführte.
Von Ferne ertönte Musik und das Licht von dort oben erschien ein wenig wärmer und anheimelnder.
„Aber nein“, dachte Emilia. „Es ist zu spät für einen Ausflug in die Einkaufszone. In einer halben Stunde spätestens tauchen hier überall die Banden auf und machen Ärger. Oder ein Polizeitrupp marschiert ein und kontrolliert aus lauter Langeweile, ob die Selbstverteidigungsausrüstung komplett und funktionstüchtig ist.“ Der Anflug eines Lächelns umspielte, kaum wahrnehmbar, ihren Mund, als sie sich, beinahe wehmütig, an eine Nacht vor mehr als zwanzig Jahren erinnerte. Damals hatte sie ihre einzige große Liebe kennengelernt, einen Polizisten.
Zu der Zeit war die Polizei mehr Freund und Helfer gewesen, als ein im Gleichschritt aufmarschierender Kontrolltrupp, der für Menschen wie sie lediglich eine zusätzliche Bedrohung verkörperte.
Damals hatte er sie festgenommen, weil ihre Betäubungspistole defekt war.
Ein Protokoll, eine Geldstrafe, eine Nacht in Untersuchungshaft. Und dann hatte er ihr Kaffee gebracht.
Emilia schrak auf. Das war bereits das Signal für ihre Wohnsiedlung gewesen. Sie passte die nächste Ausstiegsmöglichkeit ab und verließ unbeholfen die Rollbahn. Automatisch drückte sie ihre Tasche fester an sich und fühlte mit der anderen Hand nach dem Tränengas in ihrer Manteltasche, während sie hastig an den unzähligen, gleich aussehenden Türen vorbei trippelte. Noch war es früh genug. Um diese Zeit kamen so gut wie keine Überfälle vor.
Emilia blieb stehen und lauschte. Irgendetwas erschien ihr ungewohnt. Sie nahm mit zittrigen Fingern den altmodischen Wohnungsschlüssel aus ihrem Brustbeutel, denn dem Netzhautabtaster alleine vertraute sie nicht. Nachdem der Computer sie erkannt hatte, öffnete sie das Sicherheitsschloss und betrat aufatmend ihr kleines Heim. Gemütlich oranges Licht, Musik und Fernseher schalteten sich automatisch ein, während die Kaffeemaschine zu brodeln begann und einen angenehmen Duft nach frisch gemahlenen Bohnen verströmte.
Emilia stand in ihrer Garderobe, ohne den Mantel abzulegen, und träumte davon wie schwierig es gewesen war noch eine Genehmigung für den alten Fernseher zu erhalten. Die meisten Wohnungen wurden nur noch mit interaktiver Unterhaltungselektronik ausgestattet, aber diese Dinge machten ihr Angst. Emilias Wohnung sollte ihre Höhle sein und nur sie durfte das Recht haben sich darin aufzuhalten.
Da kroch unvermittelt wieder dieses Gefühl in ihr hoch. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass irgendetwas anders war als gewohnt.
Aus der Musikanlage erklangen langsame Liebesschlager und der Fernseher zeigte die vertraute Quiz Sendung, aber trotzdem vermeinte sie etwas Unbekanntes zu spüren. Langsam setzte sie sich in Bewegung, obwohl sich ihre Beine schwer wie Blei anfühlten.
„Ist jemand hier?“, versuchte sie zu sagen, aber ihre Stimme versagte und sie brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Instinktiv wandte sie sich in Richtung ihres Schlafzimmers und dort sah sie ihn:
Die großen, dunkeln Augen waren das Erste, was ihr an ihm auffiel. Der Junge kauerte stumm, die Beine angezogen, in der Nische zwischen Bett und Wand. Umrahmt von kleinen Sträußen getrockneter Moosröschen, die Emilias Schlafzimmerwände zierten, wirkte seine zerlumpte, schmutzverkrustete Kleidung noch erbarmungswürdiger auf die alte Frau. Unter den struppigen Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen, blickte er sie unverwandt an, ohne dass er sich einer Schuld bewusst zu sein schien.
„Wie bist du hier hereingekommen?“, fragte Emilia, nachdem sie ihre Fassung halbwegs wiedererlangt hatte. Der Junge sagte kein Wort, sondern drehte lediglich seinen Kopf beinahe unmerklich in Richtung der anliegenden Abstellkammer. Emilia bemerkte auf einmal erstaunt, dass ihre Angst verflogen war. Als wäre sie alleine, zog sie ruhig ihren Mantel aus und hängte ihn sorgfältig an den Garderobenhaken. Der Junge rührte sich auch noch nicht, als sie zurück in ihre Wohnküche ging, zwei Tassen auf den mit Kunstblumen geschmückten Tisch stellte, die dampfende Kaffeekanne und einen Teller Zwieback dazu setzte und dann auf einem der beiden kleinen Sessel Platz nahm. Vor dort aus konnte sie ihren Besucher beobachten, den ihr Verhalten auf einmal doch zu verunsichern schien, denn er begann unruhig umher zu rutschen und den gedeckten Tisch anzustarren.
Emilia schenkte Kaffee in beide Tassen, stippte einen Zwieback in ihr Getränk und begann nachzudenken. Der Junge war sicher noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt, aber da sie nie Kinder gehabt hatte, konnte sie auch dort nicht sicher sein. Offensichtlich war er verängstigt und lief vor etwas davon.
Da bemerkte sie, wie er unsicher aufstand und in ihre Richtung kam. Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Ja, komm nur, ist auch für dich.“
Von Nahem wirkte er noch schlaksiger und fast ein wenig verfroren. Seine schmalen Finger umschlossen die Tasse und Emilia erinnerte sich an die Nacht, in der sie selbst voller Dankbarkeit ihre klammen Finger an einem dampfenden Kaffeebecher erwärmt hatte. Ihr Blick fiel auf Toms Foto auf der Anrichte. Es zeigte ihn in seiner schmucken Uniform, zwei Tage bevor er in einem Bandenkrieg ums Leben gekommen war und nur eine Woche vor dem vereinbarten Hochzeitstermin.
Emilia bedeckte gewohnheitsmäßig mit den Händen ihre Augen, denn sie spürte wie sie feucht wurden. In diesem Augenblick hörte sie, wie der Junge unvermittelt aufsprang, so dass beinahe sein Sessel umgefallen wäre. Aufgeregt blickte er im Raum umher, als sei er auf der Suche nach einem Fluchtweg und deutete mit zitternden Fingern in die Richtung des Bildes.
„Nein, nein! Hab keine Angst.“ Emilia verstand seine Furcht sofort. „Hier gibt es keine Polizei, niemand kann dich hier verhaften.“
Der Junge nickte, blickte aber immer noch fragend auf das Foto.
„Er war die Liebe meines Lebens“, sagte Emilia leise. „Nun ist er tot und ich bin hier allein.“ Sie atmete tief durch. „Das ist alles schon so lange her. Und jetzt bist du hier.“ Sie versuchte ein Lächeln.
Der Junge sah sie aufmerksam an, wobei er wieder seine Tasse fest umklammert hielt.
„Kannst du nicht sprechen oder willst du nur nicht?“ Sie bekam keine Antwort. „Na gut. Ich kann dir ja erzählen, was ich glaube: Du lebst in einer dieser Jugendbanden, die in den Schächten nahe der Erdoberfläche hausen. Die Sonneneinstrahlung ist dort eigentlich zu stark. Vor allem tagsüber ist die Erde so erhitzt, dass ihr euch in wenigen geschützten Winkeln zusammendrängen müsst. Erst am Abend könnt ihr euch hervorwagen und miteinander oder gegeneinander um euer Überleben kämpfen.“
Emilia nahm einen Bissen und schob dem Jungen den Teller Zwieback hinüber. „Wahrscheinlich gab es irgendwelche Schwierigkeiten in deiner Gruppe, das hört man ja immer wieder, und nun jagen sie dich. Deine Angst muss so groß gewesen sein, dass du dich alleine durch die Lichtschranken hindurch gemogelt hast und schließlich hier gelandet bist. Kann es so oder so ähnlich gewesen sein?“
Der Junge schwieg immer noch und kaute dabei konzentriert sein Gebäck.
Emilia seufzte resigniert. „Also was mache ich denn nun mit dir? Das Einzige, was ich über Kinder weiß ist, dass sie mit zehn Jahren entweder in ein Berufsbildungsprogramm gesteckt oder zum Graben von neuen Tunneln verwendet werden. Von einem, der seine Gruppe verlässt, habe ich allerdings noch nie gehört.“ Sie dachte einen Augenblick nach. „Hast du denn wenigstens einen Namen?“
Der Junge sah hoch. Einen Augenblick lang blickten die beiden sich nur schweigend an. Dann griff er sich an den Hals, riss etwas ab und schob ihr den Gegenstand über den Tisch. Es war ein metallenes Amulett mit einem eingravierten Zeichen und einem Schriftzug darauf. Emilia konnte zuerst kaum etwas entziffern, denn es war wohl schon einmal starker Hitze ausgesetzt gewesen und demzufolge halb geschmolzen und erheblich verbogen. Endlich konnte sie doch ein paar Buchstaben ausmachen: „Samu, Skorpion für immer“, stand dort in krakeliger Schrift. Das Bild zeigte einen Skorpion in Angriffsstellung. Emilia glaubte sich zu erinnern, dass Jugendbanden sich vorzugsweise nach gefährlichen Tieren benannten. Sie sah wieder auf.
„Also Samu!“, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. „Mein Name ist Emilia.“
Der Junge zögerte einen Augenblick, bevor er ihre Hand ergriff.
„Tja, also“, Emilia lächelte unsicher und wusste nun auch nicht mehr weiter. „Da sind wir nun.“ Verlegen blickte sie in den Fernseher, wo gerade Eindrücke von der Erdoberfläche über den Bildschirm flimmerten.
„Bist du schon einmal oben gewesen?“, fragte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich würde es nicht wagen. Es kann doch unmöglich nachts so viel ungefährlicher sein als bei Tag. Und ich habe die Bilder von Verbrennungen gesehen, die manche unvorsichtige Forscher davongetragen haben. Die gehen angeblich erst bei Sonnenuntergang hinauf.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, besser man bleibt unten. Wir haben die Erdoberfläche kaputt gemacht, nun müssen wir auch die Konsequenzen tragen.“
„Nachts ist es schön dort oben“, sagte Samu. Seine Stimme war heiser, aber hell wie die eines unschuldigen Kindes. Emilia starrte ihn erstaunt an, bis ein Lächeln in ihr aufstieg.
„Du kannst ja doch reden“, rief sie erleichtert. „Ich habe es eigentlich schon nicht mehr geglaubt.“
Der Junge blickte, beinahe erschrocken von seiner eigenen Kühnheit, rasch zu Boden.
„Ich verstehe schon“, meinte Emilia. „Du sprichst nur bei besonderen Gelegenheiten.“
Samu blickte unvermittelt zur Seite und legte den Finger auf die Lippen. Seine Augen schienen immer größer zu werden, während er lauschend die Wand fixierte.
Jetzt hörte Emilia es auch. Es waren Schritte. Nicht der gleichmäßige, unaufhaltsame Rhythmus der Kontrollgruppen, sondern der Klang vieler harter Stiefel, die, einer losgelassenen Meute gleich, vorwärts stürmten. Das Geräusch schwoll an, drang herunter zu ihnen. Durch die glatten Tunnelwände wurde es mehrfach zurückgeworfen, verstärkt und wuchs an zu einer Bedrohung, zu einer Gefahr, vor der sie sich nicht verkriechen konnten.
Emilia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
„Skorpione?“, flüsterte sie fragend.
Samu nickte schweigend.
„Was wollen sie?“
Der Junge hob den Kopf und sah ihr fest in die Augen. „Rache“, antwortete er. „Sie denken, ich hätte unser Versteck verraten.“
„Und hast du?“
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr.“
Die Geräusche waren nun so nahe gekommen, dass Emilia einzelne Stimmen und Wortfetzen unterscheiden konnte.
„Der Mistkerl entkommt uns nicht“, erklang es urplötzlich so nahe, dass sie zusammenzuckte. Es kam ihr vor, als stünde der Sprecher direkt vor ihrer Tür.
„Komm heraus, Samu! Früher oder später finden wir dich sowieso“, ertönte eine tiefe Stimme mit einem gefährlichen Unterton.
„Du kannst froh sein, wenn du vorher nicht den Polizeitruppen in die Hände fällst. Die werden dich nicht so liebevoll behandeln wie wir. Immerhin gehörst du von Anfang an zu uns.“
Emilia drückte stumm Samus Hand. „Sie können nicht hereinkommen“, flüsterte sie beruhigend, als ihr auf einmal etwas in den Sinn kam. „Aber du, wie bist du eigentlich hereingekommen?“ Die Angst kroch wieder in ihr hoch und sie konnte sie nicht aufhalten.
‚Ich kann mein Heim nicht schützen, es ist nicht mehr meine Burg‘, versuchte sie zu sagen, aber es gelang ihr nur, die Lippen zu bewegen. Der Gedanke, den sie eine Weile verdrängen konnte, überwältigte sie nun mit Übermacht und erschreckte sie bis ins Innerste.
„Ich verstehe das nicht“, wisperte sie. „Wie konnte ich das nur vergessen?“
Samu sah sie an. „Vielleicht warst du froh, nicht mehr allein zu sein.“
Emilia war selbst erstaunt, wie heftig sie sich schüttelte. „Ich wusste einfach, dass du mir nichts tun würdest.“
Schwere Stiefel donnerten gegen Wände und Türen.
„Besser, ihr öffnet uns!“, brüllte jemand. „Niemandem wird etwas geschehen, es sei denn, wir finden nicht, was wir suchen.“
Emilia hörte wie verängstigte Stimmen aus den benachbarten Wohnungen laut wurden. Sie spürte, wie Samu zitterte.
Entschlossen stand sie auf und ging mit festen Schritten zur Tür. Einen Moment zögerte sie noch vor der Garderobe, dann warf sie ihren alten Morgenrock über, schlüpfte in ihre Pantoffeln und fuhr sich noch einmal durch ihr Haar, so dass ihre borstigen Strähnen in alle Himmelsrichtungen abstanden. Die Lesebrille schief aufgesetzt, öffnete sie die Klappe zum Außenmonitor.
„Was ist denn nur passiert?“ Sie atmete hastig und bemühte sich, bei den Jugendlichen, die sie nun auf dem Besucher-Bildschirm sehen konnten, den Eindruck einer verwirrten, alten Frau zu erwecken, die sich gerade im Begriff befand, schlafen zu gehen.
Ein unrasierter junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren in schwarzem Leder öffnete ein Klappmesser und fuhr sich damit genüsslich über das Kinn.
„Wir suchen jemanden, Mütterchen: ein goldiges Bürschchen. Er fürchtet sich, denn er hat etwas ausgefressen. Hey Mann, pass doch auf“, schrie er, als ihn jemand beiseite schob.
„Lass mich ran, das ist mein Fall“, erklang die dunkle Stimme wieder. Gefährliche Augen musterten sie eindringlich, während Neonlichter sich in den, mit Pomade zurück gekämmten Haaren spiegelten. „Pass auf, Süße. Wir sind allesamt nette Burschen. Wenn du jemanden gesehen hast, dann rück mit der Sprache raus, ansonsten machen wir dir das Leben zur Hölle.“ Er kam dem Bildschirm näher, bis Emilia zurückwich.
„Und das ist ein Versprechen“, flüsterte er, beinahe unhörbar.
Emilia fühlte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. „Ich weiß von nichts“, brachte sie mühsam heraus. „Ich schwöre, ich würde es Ihnen sagen.“
„Die hat keinen Schimmer“, sagte der Skorpion, als ein neues Geräusch erklang.
„Verdammt, Kontrolle“, zischte jemand. „Oder jemand hat die Bullen gerufen. Lasst uns verschwinden, schnell!“
Emilia stand noch wie erstarrt, obwohl der Bildschirm schon längst wieder abgeschaltet war. Das gleichmäßige Marschieren des Polizeitrupps verklang bereits wieder, als sie sich nach Samu umdrehte. Der Junge war aufgesprungen und starrte sie mit einer Mischung aus Unglauben und Dankbarkeit an.
„Sie kriegen mich trotzdem“, sagte er schließlich.
„Das werden wir noch sehen“, erwiderte Emilia und spürte, sobald die Spannung nachließ, wie das Blut in ihren Schläfen pulsierte. Sie befreite sich mit einer Handbewegung von ihrem Morgenmantel und ließ sich aufatmend in den Sessel fallen.
Samu blickte zu Boden.
„Aber jetzt musst du mir sagen, wie du hier herein gekommen bist.“
Schweigend ging der Junge voran, in die Richtung des Ortes, wo sie ihn gefunden hatte.
„Die Abstellkammer!“, sagte er. „Jede Wohnung hat diesen Zugang. Nur weiß es keiner. Keiner außer uns. Und deshalb werden sie mich auch finden.“
Er hob mit seinem Messer eine Ecke des Teppichs an und ein winziger Hebel kam zum Vorschein.
„Leg ihn um“, forderte Samu sie auf.
Zögernd folgte Emilia seiner Anweisung. Der Hebel ließ sich leicht bewegen. Gleichzeitig erklang ein raues Knarzen, als werde ein verrosteter Riegel zurückgeschoben.
Samu sprang auf und reckte sich zu der niedrigen Decke. Er schob das schmale Taschenmesser in einen kaum wahrnehmbaren Spalt. Mühsam zog er es hin und her, bis auf einmal ein viereckiger Teil der Decke sich mit einem krachenden Geräusch auf sie herab senkte. Emilia hob abwehrend die Hände und hielt auf einmal eine zusammengeschobene Leiter in der Hand, die an der Klappe befestigt war.
„Komm!“, forderte Samu sie auf und schwang sich leichtfüßig hinauf. Emilia betastete vorsichtig die schmale, silbrige Konstruktion. Die Scharniere, an denen die Falltür befestigt war, schienen zu stöhnen, als Emilia die Leiter bis zum Boden auseinander zog. Ängstlich blickte sie nach oben, wo Samu kauerte und sie nachdenklich ansah. Sie atmete tief aus und begann vorsichtig mit dem Aufstieg. Gerade, als sie glaubte Schwindel zu empfinden, reichte der Junge ihr seine Hand und zog sie die letzten Sprossen in die Höhe. Sie befanden sich in einem endlos scheinenden, düsteren Gang. In regelmäßigen Abständen erhoben sich zusammengeschobene Leitern, die einen metallenen Glanz verströmten.
„Eine für jede Wohnung“, flüsterte Emilia und wandte sich Samu zu. Der Junge sah sie betreten an.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er leise. „Die Leiter räume ich auf. Niemand wird etwas merken.“
Emilia nickte. „Es geht wohl nicht anders.“
„Nein.“
Sie standen immer noch wie festgewachsen an derselben Stelle, unfähig, sich zu trennen.
„Wohin der Tunnel wohl führen mag?“
Samu schüttelte den Kopf. „Nirgendwohin.“ Er richtete den Blick zur gewölbten Decke an der vereinzelte Neonröhren ein kaltes Licht verbreiteten. Langsam sprach er weiter. „Am Ende des Wohnblocks beginnen die Schächte, die zur Erdoberfläche führen. In manchen funktionieren noch die Fahrstühle.“
Emilia spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief. „Dorthin willst du also?“
Samus Mundwinkel zuckten. „Nur Verrückte und Verzweifelte kann man dort finden. Niemand wird mich da oben suchen kommen.“
„Und wenn die Sonne aufgeht?“
Er sah immer noch starr nach oben, als könnte er dadurch den künstlichen Lichtquellen etwas Wärme verleihen.
„Das wird sich dann zeigen“, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
„Ich komme mit dir.“
„Aber das geht doch nicht.“
„Keine Widerrede!“ Emilia begann entschlossen, die Leiter zu ihrer Wohnung nach oben zu ziehen. „Zum ersten Mal seit Jahren lebe ich wieder. Ich kann nicht mehr zurück in diese Eintönigkeit, in diese falsche Sicherheit.“ Sie hielt inne und sah Samu gerade ins Gesicht.
„Ich will sehen, wie die Nacht aussieht, spüren, welchen Geruch die verbrannte Erde verströmt und vielleicht entdecke ich sogar eine Sternschnuppe am Himmel.“
Energisch klappte sie die Leiter zusammen und schloss mit einem Krachen ihre Falltür.
„Und wenn ich das alles gesehen habe, dann gehen wir gemeinsam nach Hause und finden einen Weg. Vielleicht schaffen wir es trotz allem, in dieser Welt einen Ort zu entdecken, der das Leben erträglich macht. Vielleicht haben wir einmal Glück.“

Donnerstag, 11. Februar 2010

Stigma

Titel: Christas Liebe
Autor: callisto24

* * *

Christas Liebe
Vor langen, langen Jahren, als Vorurteile existierten.


„Mann, ist der Unterricht heute wieder öde“, stöhnte Alex. Genervt drehte sie sich zu ihrer zweitbesten Freundin um, die praktischerweise in einem von Seiten des Lehrers gesehenen toten Winkel saß. „Christa ist schon wieder nicht da“, begann sie zu tuscheln.
„Seit dem ganzen Ärger mit Pascal und ihrem Vater nimmt sie sich ständig Freistunden. Wenn sie so weitermacht, wird es bald Verweise hageln. Sie glaubt doch wohl nicht, dass den Lehrern das entgeht?“
„Was treibt sie eigentlich immer?“, fragte Steffi neugierig. „Heute früh habe ich sie nämlich noch im Physikraum gesehen. Du musst es doch eigentlich wissen. Ihr habt immer zusammengesteckt.“
Alex schüttelte den Kopf. „Ich habe versucht, mit ihr über Pascal zu reden, aber sie lässt keinen an sich ran. Manchmal sitzt sie unten am Fluss und starrt ins Wasser. Ich glaube, das ist der Ort, den sie auch während der Schulzeit aufsucht. Wenn Chris über ihren Liebeskummer erst einmal hinweg ist, wird sie sich über den Punkteverlust ärgern. Ein sensationelles Abi kann sie dann nicht mehr vorlegen.“
„Was ist eigentlich genau passiert?“ Ich habe sie ja nur ein paar Mal mit ihrem Will Smith-Verschnitt in der Eisdiele gesehen.“
„Viel kann ich dir auch nicht erzählen, aber auf jeden Fall fing es an mit ihrem Ferienjob bei McDonalds. Da hat sie ihn kennengelernt. Du weißt ja, dass sie schon immer auf Schwarze stand, nur Poster von Denzel Washington, Wesley Snipes und veralteten Soulbands gibt es in ihrem Zimmer. Aber dass sie dann wirklich einmal mit einem ausgehen würde, das hätte ich nun auch nicht gedacht.“
„Naja, wo die Liebe halt hinfällt, da kann man gar nichts machen“, warf Steffi ein.
„Wenn es aber wenigstens so etwas wie ein amerikanischer GI oder meinetwegen ein Austauschstudent gewesen wäre. Aber ein Franzose, der in Wirklichkeit sogar ursprünglich aus dem finstersten Afrika kommt, keine Ahnung woher genau, also ich wundere mich nicht allzu sehr, dass ihr Alter da ausgeflippt ist“, überlegte Alex weiter.
„Dann ist er wohl auch Moslem oder so etwas.“
„Schon möglich. Und außerdem Asylbewerber mit einer krisensicheren Dauerstellung an der Fritteuse. Da sehe ich einfach keine Zukunft für Chris, und ihr selbst ist das mittlerweile sicher auch klar geworden.“
„Niedlich sah er ja doch aus, aber man kann ja nie wissen, was in so jemandem vorgeht.“
„Andere Kultur, andere Sitten, das ist vielleicht zur Abwechslung mal ganz interessant, aber Chris ist dafür viel zu ernsthaft. Bei ihr muss es ja immer gleich die ganz große Liebe sein. Weißt du noch, wie sie sich in den Musiklehrer verknallt hatte? In jeder Musikstunde ging für sie von neuem die Welt unter.“
„Dabei hatte der Parekh noch nicht einmal eine Ahnung, dass sie existierte. Gott sei dank ist er dann zurück nach Indien. Das war wirklich nicht mehr zum Ansehen.“
„Und weißt du auch, warum sie ihn mochte? Sein exotisches Aussehen und nichts anderes war es. Erinnerst du dich noch an das dritte Auge, das sie sich immer auf die Stirn gemalt hat? Idiotisch, sich so zu verhalten. Wo es doch hier von süßen Jungs nur so wimmelt.“
„Als ob die keine Probleme machen könnten“, gab Steffi zu bedenken.
„Wo du Recht hast, hast du Recht“, stimmte ihr Alex zu und warf einen kurzen Blick aus dem schmalen Fenster links vor ihrem Platz.
„Ich fasse es nicht, da vorne läuft Chris. Gleich ist sie ab durch die Mitte. Na, die traut sich was!“
„Wo denn?“, flüsterte Steffi neugierig und verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, die Sünderin zu entdecken.
„So geht es einfach nicht weiter“, machte Alex ihrem Herzen Luft. Wahrscheinlich eine Idee zu energisch, denn sie erntete einen strafenden Blick des Lehrers und ein ermahnendes: „Alexandra Klatschek. Auch Sie sind in der Kollegstufe aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten.“
Alex rutschte etwas tiefer in ihren Stuhl und senkte demütig den Blick, eine Technik, die ihren Zweck noch nie verfehlt hatte. Auch diesmal wandte sich Herr Claasen ohne weiteren Aufenthalt wieder dem Thema zu, wobei er ein belustigtes Zucken der Mundwinkel kaum verbergen konnte.
In diesem Augenblick ertönte der Gong zum Ende der Stunde. Alex sprang auf und warf Blätter und Stifte in Windeseile in ihren Rucksack.
„Tu mir einen Gefallen, Steffi! Wenn ich nach der Freistunde nicht rechtzeitig wieder hier bin, sag doch der alten Duse bitte, dass mir schlecht geworden ist, Kopfschmerzen oder was dir so einfällt, völlig egal.“
„Klar, kein Problem, die ist sozial und versteht sowas. Sag bitte Chris, dass sie auf mich zählen kann. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten, vor allem, wenn es ums starke Geschlecht geht.“
Alex winkte noch einmal kurz und stürmte aus dem Raum. Sie war sich sicher, dass sie Christa noch erwischen würde.
Und richtig, auf dem Weg, der hinunter zum steinigen Flussbett führte, sah sie ihre Freundin wie in Trance entlang laufen. Sie schien um sich nichts zu hören und zu sehen. Durch die Pfützen, die vom nächtlichen Regen noch überall zu finden waren, spazierte Chris, offenbar ohne sich Gedanken um ihre neuen Sandalen zu machen, die sie beide zusammen vor gerade erst drei Wochen ausgesucht hatten.
„Damals sah alles noch ganz anders aus“, dachte Alex bei sich und begann zu rennen, während der Rucksack gegen ihren Rücken schlug.
„Chris!“, rief sie atemlos. „Chris, so warte doch!“
Endlich hatte sie die andere eingeholt und ergriff ihren Arm. Christa drehte sich zu ihr um.
„Was willst du?“, fragte sie müde.
„Nur reden mit dir, du musst mir endlich sagen, was los ist.“ Alex schluckte und versuchte mühsam, das Erschrecken zu verbergen, das sie beim Anblick Christas überkommen hatte. So totenbleich hatte sie ihre Freundin noch nicht einmal gesehen, als sie gemeinsam die letzte Grippewelle durch litten hatten. Das Haar hing strähnig und ungekämmt herab, und die rotgeränderten Augen zeugten von durchgeweinten Nächten.
„Komm, wir setzen uns in die Sonne“, versuchte sie ihrer Stimme einen aufmunternden Unterton zu verleihen.
„So, und jetzt erzähl mir genau, was passiert ist! Aus diesem Sumpf musst du dich unbedingt heraus schaufeln. Das kann doch nicht alles nur wegen Pascal sein! So viel Ärger ist kein Mann wert.“
Christa schüttelte den Kopf. „Es ist nicht seine Schuld. Ich weiß nur einfach nicht, was ich machen soll.“
Alex überlegte einen Augenblick.
„Also, ich weiß, dass dein Vater einen Riesenstunk gemacht hat. Der Krach war ja im ganzen Viertel zu hören.“ Sie machte eine kleine Pause. „Der ist wohl so richtig durchgedreht?“
Christa starrte stumm vor sich hin, während ihre Augen bereits wieder verräterisch zu glänzen begannen.
„Ich habe immer gedacht, es wäre ihm egal, mit wem ich zusammen bin. Ständig diese Witze über den erfolgreichen Geschäftsmann, den ich mir einmal angeln würde. Das war doch nie ernst gemeint.“
„Und als er Pascal gesehen hat, ist er dann ausgeflippt?“
„Es war nicht nur die Hautfarbe. Zuerst hat er sich noch ganz normal mit ihm unterhalten.“
Sie schluckte schwer. „Aber als er dann gemerkt hat, wie schwer sich Pascal manchmal im Deutschen tut und dass er in der Küche arbeitet und auch nach Asylbewerber ist …“
„Da war es dann wohl mit der Freundlichkeit zu Ende.“ Alex nickte verstehend.
„Andauernd hat er gesagt: ‚Ich bin doch wohl ein toleranter Mensch, ich habe keine Vorurteile, aber ich kann doch nicht zulassen, dass du mit deiner Spinnerei dein Leben ruinierst. Eines Tages sitzt du dann da mit einem Mischlingskind, ohne Job, ohne Zukunft, ohne Aussicht auf einen Mann, und er macht sich inzwischen in Afrika ein schönes Leben mit seinen vier oder mehr Frauen, die alle für ihn arbeiten. Oder noch schlimmer, er nistet sich bei dir ein, und wir dürfen ihn durchfüttern. Nein danke!‘ Und dann hat er ihm verboten, mich wiederzusehen.“
Christa kramte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Jeans und tupfte sich die Tränen ab.
Alex schwieg nachdenklich, bis Christa schließlich zu ihr aufsah. „Nein, das ist ein Riesenquatsch. Pascal hat mir immer gesagt, dass ich die einzige Frau für ihn bin und dass er nie von hier fortgehen möchte. Er hat so lange in Frankreich gelebt, bevor er hierher kam, dass er schon fast europäischer ist als ich.“
Alex überlegte. „Also schwierig ist das sicher. Hast du ihn denn seitdem wiedergesehen?“
„Dad hat gesagt, er schmeißt mich raus, wenn ich’s tue.“
„Das darf er gar nicht so ohne weiteres, zumindest soviel ich weiß. Wir könnten uns da informieren.“
„Wo denn?“ Christa steckte ihr Taschentuch wieder ein und sah ihre Freundin erwartungsvoll an.“
„Also im Zweifelsfall beim Vertrauenslehrer oder irgendwelchen Jugendberatungsstätten. Da gibt es Leute, die Bescheid wissen, auch was die Probleme mit der Religion und der unterschiedlichen Lebensweise angeht.“
In Christas Gesicht stieg langsam eine leichte Röte auf, während sie Alex zuhörte.
„Das hat mich alles so verunsichert. Bisher habe ich Pascal immer völlig vertraut. Es ist mir auch egal, wo er arbeitet oder wie unsere Zukunft aussieht. Es weiß doch ohnehin niemand, was passieren wird. Aber soll ich ihn aufgeben, nur wegen Problemen, die von anderen gemacht werden, von meinem Vater, von irgendwelchen grauen Gestalten, die Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, oder von einer Religion, die hierzulande sowieso nur mäßige Bedeutung genießt?“
Sie sah Alex offen an, in ihren Augen leuchtete wieder der alte energische Glanz, wie ihre Freundin erleichtert feststellte, und mit einem Lächeln antwortete sie: „Auf die Gefahr hin, von nun an in Klischees auszubrechen, fällt mir dazu nur das altbewährte ‚Hör auf dein Herz, mein Kind‘ ein. Horch ganz tief in dein Inneres, und wenn du nur einen kleinen Zweifel daran hast, dass Pascal dich glücklich machen kann, dann ist es vielleicht wirklich besser, du verzichtest auf den ganzen Ärger. Aber so wie du seit Wochen herumläufst, scheint das keine Lösung zu sein. Denk mal, in zwei Jahren spätestens bist du sowieso weit weg von zuhause, vermutlich mit Steffi und mir in einer WG. Dann kann dir keiner mehr erzählen, mit wem du dich treffen sollst. Nur noch unsere dummen Kommentare musst du dann noch über dich ergehen lassen.“
Sie nahm Christas Hand und drückte sie. „Nur eines noch. Handle dir um Himmels willen keinen weiteren Ärger mit der Schule ein. Du willst doch nicht noch ein Jahr hier die Bank drücken.“
Christa nickte seufzend. „Ist schon gut. Ich habe verstanden. Lass uns gehen und brave Schüler sein!“
Alex stand schmunzelnd auf. „Und noch eins: wo kannst du eigentlich besser ungestört über den Sinn des Lebens und der Liebe nachdenken als in Geschichte bei Frau Duse.“
Christa sog tief die Luft ein. ‚Danke Alex‘, dachte sie still. ‚Ich hatte wirklich vergessen, wie gut es tut, sich von einem Freund helfen zu lassen.‘
Vor dem Schulhof wartete bereits Steffi aufgeregt auf die Beiden. „Gut, dass ihr kommt“, rief sie, während sie ihnen entgegen lief. „Die Stunde fängt gleich an und …“, sie sah Christa prüfend an, „da wartet jemand auf dich. Er hat schon vor einer halben Stunde nach dir gefragt. Jetzt steht er am Tor und sieht recht einsam aus.“ Sie zwinkerte den Freundinnen zu. „Ich würde mich ja beeilen, bevor der Direx kommt und ihn verschreckt.“
„Na, lauf schon“, schob Alex sie vorwärts. „Den Kopf zerbrechen kannst du dir auch später.“
Zögernd ging Christa auf das Tor der Schule zu, von dem sich nun langsam eine dunkle Gestalt abhob und in das grelle Sonnenlicht trat.
„Pascal!“, jauchzte sie und flog in seine Arme. Seine dunklen Augen strahlten, als er sie festhielt. „Ich habe dir vermisst“, flüsterte er. „Kann sein, dass es schwierig werden, aber ich kann nicht ohne dir sein. Ich werde auf dir warten, immer.“
„Auf dich“, verbesserte Christa schluchzend. Aber diesmal waren es keine verzweifelten Tränen mehr, die sich von ihren Wimpern lösten, sondern Tränen der Erleichterung.
„Wir werden einen Weg finden. Die Zukunft gehört uns, und wir werden sie mit unseren Träumen und Vorstellungen leben. Und außerdem …“, sie blickte zu Alex und Steffi, die gerade dabei waren, sich diskret zu verziehen, „… sind wir nicht allein.“

Dienstag, 9. Februar 2010

Fürst

Titel: Fürst
Autor: callisto24
* * *

Mit mir nicht, meine Herren
Sylvester


„Das gibt‘s nicht. Was machst du denn in München?“
Grit drehte sich überrascht um. Die Stimme kannte sie doch.
„Micki! Na, das ist ja ein Ding. Wir haben uns doch schon ewig nicht mehr gesehen.“
„Genauer gesagt, seit der Abiturfeier nicht mehr, als du …“
Michael verstummte plötzlich. Eigentlich wollte er sich nicht mehr unbedingt an den schmerzhaften Moment erinnern, in dem Grit ihm gestanden hatte, dass sie für eine Beziehung keinen Nerv mehr besaß. Freundschaft ja, aber ihr Studium in Ökotrophologie und der Umzug in die Nähe der Weihenstephaner Uni gäben ihr keinerlei Raum mehr für Privates. Im Augenblick zumindest, so meinte sie damals.

Michael riss sich kurzerhand aus seinen Erinnerungen.
„Und nun sind wir wieder auf einer Party. Du siehst toll aus, so ganz in Silber.“ Er lächelte sie bewundernd an.
„Danke.“ Sie schüttelte ihre schwarzen Locken zurück. „Aber du hast dich auch nicht lumpen lassen. Anzug und Krawatte, nur weil wir heute Sylvester haben?“
Michael verdrehte die Augen. „Auftrag meines alten Herren. Als künftiger Restaurantchef soll ich nach Mitternacht den Laden schmeißen, da er noch ein Treffen mit einem Geschäftsfreund hat. Darauf kann auch nur ein Gastronom kommen!“
Michael schüttelte den Kopf. „Sylvester würde mir normalerweise etwas Besseres einfallen, als auf so einer streifen Feier rumzuhängen. Oder ein Geschäftsgespräch zu führen.“ Er schnalzte mit der Zunge.
„Aber was treibst du eigentlich hier?“
Grit trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ein Freund hat mich gebeten, auf ihn zu warten. Er möchte mich nachher abholen, und wir werden noch etwas zusammen unternehmen.“ Sie blickte ihn unbehaglich an und versuchte abzulenken.
„Ist das hier denn das Restaurant deiner Eltern? Das wusste ich gar nicht. Vielleicht lerne ich sie dann doch einmal kennen?“
Michael schluckte das ungute Gefühl, das ihn bei dem Wort ‚Freund‘ überkommen hatte, tapfer hinunter. Einen Freund hatte sie also schon wieder. War ja klar, dass sie der kurzen Zeit mit ihm nicht lange nachtrauere.
„Das Lokal gehört uns nicht. Mein Vater hat nur die Leitung hier kurzfristig übernommen, weil Sylvester immer alles auf dem Kopf steht. Deshalb wurde sogar ich vom Kartoffelschäler kurzfristig zum kultivierten Beobachter befördert. Wäre nicht Not am Mann, hätte Paps mich niemals aus der Gemüseküche gelassen. Aber so springt er zwischen zwei Festivitäten hin und her, nur damit irgendwelchen reichen Fabrikbesitzern das Buffet auch wirklich genehm ist.“
„Du bist also doch im Restaurantfach gelandet. Ich dachte, dass dies das Allerletzte für dich gewesen sei?“
„Das war es auch.“ Michael zupfte an seinem engen Kragen herum. „Ich konnte mich zu nichts durchringen. Irgendwie hat mich nichts mehr interessiert. Also besorgte Paps mir einen Praktikantenjob in seiner Küche. „Damit weißt du dann, was dich beim Bund erwartet“, waren seine Worte. Und ich fühle mich auch schon wie bei einer endlosen Strafarbeit.“
Er sah zu Boden. „Erzähl doch lieber du von dir! Wahrscheinlich hast du mehr Spaß als ich.“
„Das würde ich nicht sagen. Irgendwie ist alles sehr kompliziert. Als ob ich auf einmal erwachsen, um nicht zu sagen furchtbar alt geworden wäre.“
In diesem Augenblick sah Michael seinen Vater durch die Schwingtür des Restaurants treten. Sein Blick schweifte suchend durch den geschmückten Raum, um schließlich an Grits silbrig schimmerndem Kleid hängen zu bleiben. So ein seltsames Benehmen hatte Michaels alter Herr allerdings noch nie an den Tag gelegt. Anstatt wie sonst auch mit strengem Gesichtsausdruck Dekoration, Buffet und Service einer gnadenlosen Prüfung zu unterziehen, begann er auf einmal, eigenartig nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten, sich wie ein Teenager durch die Haare zu fahren und unkontrolliert mit den Augen zu zwinkern.
„Da wir von ‚furchtbar alt‘ und im Augenblick wohl auch etwas überlastet sprechen“, sagte Michael, „mein Vater ist gerade gekommen und benimmt sich äußerst merkwürdig.“
„Wo ist er denn?“, fragte Grit.
„Schwarzer Anzug, graue Schläfen“, erwiderte Michael, mittlerweile reichlich verwundert.
„Und außerdem läuft er rot an. Da kann doch etwas nicht stimmen.“
Sein Vater bemühte sich unterdessen, zum Ausgang zurück zu gelangen, wobei er versuchte, hinter einem Paar, das gerade im Begriff war, die Mäntel abzulegen, Deckung zu suchen.
Michael schüttelte erstraunt den Kopf.
„Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Er wird doch nicht krank sein?“ Er stellte sein Glas ab und wollte gerade in Richtung Ausgang, als eine Woge neu ankommender Gäste fürs erste jedem den Fluchtweg versperrte.
„Ist das dein Vater?“, fragte Grit mit großen Augen.
Die Gäste gerieten nun doch in Partystimmung. Es wurde geschoben, gedrängt und umarmt, bis sie sich auf einmal zu dritt gegenüberstanden.
„Ihr kennt euch also?“, fragte Michaels Vater, während er sich nervös mit einem Taschentuch die Stirn abtupfte.
„Was ist hier eigentlich los? Ist mit dir auch alles in Ordnung?“
Nun war Grit an der Reihe, nervös zu werden.
„Ich schwöre dir, Micki, ich habe nicht gewusst, dass er dein Vater …“
„Es war ja auch gar nichts. Wir haben uns rein freundschaftlich getroffen. Die ganze Arbeit, der Stress, irgendjemand, mit dem man reden kann …“ Der Mann geriet ins Stottern.
Michael erkannte, dass dies einer der wenigen Momente war, in denen seinem sonst entschiedenen Herrn Vater die Worte fehlten. „Das gibt es doch gar nicht“, dachte er. „Mein Vater in der Midlife-Crisis. Und dann auch noch mit meiner Ex-Freundin. Das ist ja wie in einem schlechten Film.“
„Augenblick mal.“ Grit hatte sich mittlerweile gefangen. „Also haben wir hier keinen Gastronomen von Weltruf, keinen Weltreisenden und vermutlich auch niemanden, der von seiner Frau so schmählich im Stich gelassen wurde, dass mir beinahe die Tränen gekommen wären.“
Ihre Augen warfen Blitze, bis auch Michael zurückwich.
„Champagner, Rosen und Kaviar kann ich offensichtlich auch vergessen. Und Micki …“
Bevor sie abrauschte, sah sie sich noch einmal um: „Am nächsten Sylvester bitte ohne Verwandtschaft!“
Zurück blieben Vater und Sohn im Trubel der Jahreswende.
„Nun“, sagte der Ältere, nachdem er seine übliche Gelassenheit beinahe zurückgewonnen hatte. „Das war dann wohl doch eine Nummer zu groß für mich. Was deine Mutter angeht …“
„Auf die Ausrede bin ich gespannt“, fiel Michael ein. „Andererseits, wenn du mich vom Frondienst in der Küche befreist, dann ließe sich vielleicht darüber reden?“
Sie lächelten sich gequält an und erkannten, dass dies einer dieser seltenen Momente sein musste, in denen Vater und Sohn sich wirklich verstanden.