Sonntag, 7. Februar 2010

Nacht

Titel: Nacht
Autor: callisto24
* * *

Der letzte Zug

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Gierig sog er, während seine Bedenken wuchsen. Konnte er sich wirklich darauf verlassen, dass Esmeralda ihren Mund hielt?
Sicher, sie liebte ihn. Aber reichte das aus, um ihrer beider Geheimnis zu wahren?
Andererseits konnte es auch nicht mehr lange dauern, bis er die Formalitäten erledigt, den Antiquitätenladen seiner Frau verkauft, das Vermögen nach Übersee transferiert und sich selbst ein Flugticket erster Klasse besorgt hatte. „Danach kann sie meinetwegen zu den Bullen gehen. Wer glaubt schon einer hergelaufenen Zigeunerin?“
Er wusste nicht, dass in der Zwischenzeit Esmeralda ihren Koffer, den Karl vorsorglich auf der Gepäckablage verstaut hatte, wieder hervor angelte. Ebenso wenig konnte er ahnen, dass sie nicht vorhatte, noch länger Passagier zu bleiben.
Er blies den Rauch durch die Nasenlöcher, betrachtete das seltsame Muster, das die verschiedenfarbigen Lichter den Wolken aus Qualm verliehen.
„Eigentlich schade ein so schönes Mädchen nicht mitzunehmen“, dachte er dann. Aber abgesehen von dem Verdacht, der möglicherweise doch auf ihn fiele, sollte er eine derart dumme Schwäche zeigen, hatte er nun einmal seine Prinzipien.
Und dennoch war es nicht nur eiskalte Berechnung gewesen, die Karl dazu getrieben hatte, sie zu verführen. Auch ihre unnahbare Schönheit hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Aber vor allem aus Angst davor, was sie gesehen haben konnte, war er gezwungen gewesen, Esmeralda auf seine Seite zu ziehen. Wie hätte er auch ahnen können, dass seine Frau ihrer Änderungsschneiderin den Schlüssel gegeben hatte und diese genau in dem Augenblick in die Küche getreten war, als er sich an dem Inhalt der winzigen blauen Kapseln zu schaffen gemacht hatte.
Esmeralda für sich zu gewinnen war nicht schwer gewesen. Karl wusste von seiner Wirkung auf Frauen. Auch war es ihm immer leicht gefallen, diese zu seinem Nutzen einzusetzen. So hatte er Esmeralda auch leicht von einer kurzzeitigen Trennung überzeugen können.
„Lass uns auf Nummer sicher gehen und den Leuten keinen Anlass zu dummen Gerede geben. Ich hole dich, wenn alles mit der Lebensversicherung und dem Verkauf geklappt hat. Dann werden wir zusammen glücklich sein.“

Eigentlich war alles viel zu einfach gewesen. Während Karl mit Esmeralda noch beim Pläneschmieden gewesen war, hatte die Ausführung bereits begonnen.
Sophies schwaches Herz war dem Medikament, das er ihr verabreicht hatte, nicht mehr gewachsen gewesen. „Ich hätte mehr auf sie aufpassen müssen“, so hatte er dem Notarzt sein Leid geklagt, der dann auch ohne weitere Umstände den Totenschein ausfüllte.
Ein Kinderspiel war die ganze Sache. Für einen Intellekt wie den seinen keine wahre Herausforderung.

Gemütlich schlenderte Karl durch stille Straßen, in denen nur vereinzelt noch Betrunkene grölten. Vielleicht konnte er den Schreibkram schon heute Nacht erledigen. Zum Schlafen war er jetzt einfach zu aufgedreht.

Seltsam. Sein Fenster war noch erleuchtet.
Eigentlich sah es ihm gar nicht ähnlich das Licht brennen zu lassen. Aber unter Anbetracht der besonderen Umstände vielleicht kein Wunder.
Das Gartentor quietschte, als er es öffnete. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Schweißtropfen perlten von seiner Stirn beim Anblick der dunklen Nachbarfenster. Für einen Augenblick war ihm, als habe er hinter den Vorhängen graue Schatten schleichen sehen.
„Nichts außer paranoiden Wahnvorstellungen“, flüsterte er in sich hinein. Aber seine Hände zitterten, als er den Schlüssel hervorkramte. „Wie kann man auch nur so ungeschickt sein?“, verfluchte er sich. „Den letzten Zug um Mitternacht nehmen, anstatt unauffällig am helllichten Tag zu fahren.“
Aber er hatte Esmeralda nicht davon abbringen können so rasch wie möglich aufzubrechen. Und was machte er sich auch Sorgen? Ein unglücklicher Witwer, der es in seinem Schmerz nicht mehr in dem Heim, das er mit seiner geliebten Frau geteilt hatte, aushielt.
Dabei war das einzig Liebenswerte an diesem verbiesterten, strengen Weibe ihr Vermögen gewesen. Bei diesem Gedanken öffnete sich die Haustür, kaum dass er sie berührt hatte. Das Abschließen hatte er auch vergessen? Das war nicht möglich, absolut nicht akzeptabel. Er musste in Zukunft wirklich besser aufpassen. Solche Schnitzer konnte er sich einfach nicht erlauben.
Karls Puls raste, als er die düstere Diele betrat. Eilig schritt er vorwärts und öffnete die schwere Holztür zum Wohnzimmer. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Erscheinung an, die mit dem Rücken zu ihm vor den verhangenen Fenstern stand. Die knochige Gestalt, die platinblond, fast weiß gefärbten Haare, das altmodisch Kostüm, es gab keinen Zweifel: seine Frau Sophie stand vor ihm.
Das Blut gefror ihm zu Eis, während er vergeblich die Fassung zu bewahren versuchte. Seine Hände tasteten nach einem Halt, einer Stütze. Doch was sie erfassten war lebendig. Mit einem gellenden Schrei sprang Karl zur Seite. In demselben Augenblick drehte ‚Sophie‘ sich um und ihre düsteren Augen starrten ihn ausdruckslos an. „Die Augen einer Toten“, durchfuhr es ihn und er sank wimmernd in sich zusammen.
„Ich habe es doch nicht gewollt, Sophie“, stammelte er verzweifelt. „Du hast mich dazu gezwungen. Keinen Penny hast du mir gegönnt. Und ich habe mich für dich und dein Geschäft aufgerieben.“
„Niemand hier will etwas davon hören“, sagte eine Stimme aus dem Dunkel.
„Wer seid ihr?“, rief Karl voller Entsetzen, als aus den Schatten des Zimmers auf einmal Gestalten hervortraten.
„Wir sind hier, um deine Frau zu schützen“, sagte leise eine ihm bekannte Stimme.
„Esmeralda“, flüsterte er. „Dich habe ich doch weggeschickt.“
„Es funktioniert nicht alles so wie du es dir vorstellst. Sophie wusste an wen sie sich wenden konnte, als niemand ihr glauben wollte. Denn ein Mitglied unserer Familie wird immer auf uns zählen können, ungeachtet dessen wie weit es sich von uns entfernt hat.
„Aber Sophie ist tot“, rief Karl.
Im Dämmerlicht erkannte er nun seine Frau wieder, die gerade auf ihn zu schritt.
„Ich habe nie geglaubt, dass dein Hass wirklich so groß ist. All das Vertrauen, all die langen Jahre. Aber du wirst bekommen, was du verdient hast.“
„Was habt ihr vor? Ihr werdet mich doch nicht umbringen?“
„Wir werden nichts dergleichen tun“, sagte Esmeralda. „Meine Herren, sie können jetzt ihres Amtes walten.“
Jemand betätigte den Lichtschalter und Karl erkannte, dass die Schatten an den Wänden keine furchteinflößenden Gestalten, sondern im Gegenteil uniformierte Polizisten waren, von denen sich zwei an einem umfangreichen Aufnahmegerät zu schaffen machten. Sogar der Notarzt, der ihm Sophies Tod bestätigt hatte, war unter ihnen. Bei näherem Hinsehen schien Karl seine Ähnlichkeit mit Esmeralda beängstigend.
„Ich möchte mich für Ihre Hilfe bedanken“, sagte der leitende Beamte gerade. „Jetzt dürfte es nicht mehr schwierig sein, diesem verhinderten Mörder seine gerechte Strafe zukommen zu lassen.“

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