Dienstag, 2. Februar 2010

Metall

Titel: Metall
Autor: callisto24
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Metall
An einem anderen Tag


Ursula wusste nicht erst seit gestern, dass ihr Mann über eine ausgeprägte Phantasie verfügte, aber heute übertrieb er wirklich schamlos.
Wie von Furien gehetzt war er den steinigen Landweg, der zu dem einzigen Anwesen, das sie seit Kilometern erblickt hatten, hinab gejagt, um bleich wie der Tod und stocksteif neben ihr im Auto sitzen zu bleiben.
Natürlich hatte auch er die Sache zuerst in die Hand genommen und den Hügel zu dem einsamen Haus erklommen, um bei den Bewohnern um Hilfe zu bitten.
Sicher waren sie ausgesprochen dumm gewesen, ihren sonntäglichen Landausflug so lange auszudehnen und sich dann auch noch auf eine derartig ungeschickte Weise zu verirren, aber der Wunsch der Eintönigkeit ihres Daseins zu entfliehen, hatte sie unvorsichtig werden lassen.
Ursula fröstelte in ihrer leichten Sommerjacke. Nach Mitternacht wurde ihr immer leicht ein wenig mulmig. Und dann auch noch mit einer Reifenpanne und einem Mann, der mit glasigen Augen und ohne ein Wort zu sagen bewegungslos neben ihr saß.
Tatkraft war noch nie ihre Stärke gewesen. Und dann auch noch diese haarsträubende Geschichte, die Günther ihr, kurz bevor er in seinen erstarrten Zustand zurückgefallen war, auftischte.
Der Hausbewohner hätte ihn aufgefordert, im Wohnzimmer zu warten, damit er im Telefonbuch eine Werkstatt ausfindig machen könnte. Da Günther seine Frau nicht zu lange alleine im Auto lassen wollte, hätte er nach einer Weile begonnen, den Mann zu suchen. Aber anstatt im Inneren eines rustikalen Landhauses, hätte er auf einmal, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war, inmitten eines metallisch glänzenden Raumes gestanden, der noch am ehesten mit einem Maschinenraum voller Schalter, Hebel und blinkender Lichter zu vergleichen wäre. Zwischen dicken Schwaden bläulichen Qualmes hätten ihn riesige, glänzende Augen angesehen und dürre, graue Arme nach ihm gegriffen.
„Aliens!“, hätte er geflüstert. „Sie wollen mich holen“, und war in diese schreckliche Starre gefallen, aus der Ursula ihn trotz aller Bemühungen nicht hatte wecken können.
„Was soll ich nur tun?“, dachte sie, während lähmende Angst ihr den Rücken hoch kroch.
„Wenn er nun wirklich so etwas wie Außerirdische gesehen hat? In später Nacht ist man leichter bereit, alles zu glauben, was einem bei Tage irrsinnig erscheint.“
Argwöhnisch beobachtete sie das Haus, an dessen Eingang immer noch eine schwache Glühbirne glimmte.
Da bewegte sich die Tür. Sogar hundert Meter entfernt, von ihrem Auto geschützt, glaubte sie, das Quietschen der alten Scharniere zu hören.
„Günther“, flüsterte sie. „Günther, um Himmels willen, wach doch auf!“
Eine große Gestalt trat aus dem Eingang und verschwand hinter dem Gebäude. Kurze Zeit später wurde dieses Gebäude von Scheinwerfern erhellt, und ein altes Land-Auto rumpelte mit großem Getöse den Hügel hinunter, bis es auf der Landstraße neben Günthers Opel zum Stehen kam.
Ursula kämpfte tapfer die aufsteigende Panik nieder, als die Vordertür aufging und ein vierschrötiger, bärtiger Mann ausstieg. Ein breites Lächeln war zu sehen, als er sich niederbeugte, um an die Vorderscheibe zu klopfen.
„Alles in Ordnung bei Ihnen? Sie haben mir ja einen Mordsschrecken eingejagt, als sie auf einmal verschwunden waren.“
„Er kann Sie, glaube ich, nicht hören“, sagte Ursula und versuchte ein unsicheres Lächeln.
„Irgendetwas muss ihn furchtbar erschreckt haben, und jetzt steht er wohl unter einer Art Schock. Seine Nerven sind nicht mehr so gut nach dem Zusammenbruch.“
„Ich verstehe.“ Der Fremde sah sie aufmunternd an. „Um diese Uhrzeit auf dem Lande kommt einem Stadtmenschen so manches nicht geheuer vor. Aber wenn man hier lebt und aufgewachsen ist, erscheint einem alles völlig normal. Wenn Sie mir die Tür aufmachen, können wir ihn ins Haus bringen und einen Arzt rufen.“
„Natürlich!“, Ursula öffnete die Autotür, und gemeinsam schoben sie Günther aus dem Fahrzeug. Draußen hob der Fremde ihn einfach mit starken Armen in die Luft und setzte ihn in sein Gefährt.
„Übrigens, mein Name ist Hannes Ungeheuer. Er ist aber auch das einzig Schreckliche an mir. Darf ich Ihnen helfen?“ Damit reichte er Ursula seine große Hand. Sie ergriff diese dankbar, stieg ein und stellte sich nun ihrerseits vor.
Schweigend fuhren sie den Berg zu dem Haus hinauf, während in Ursula seltsame Gedanken aufstiegen. Von einem Mann wie diesem Fremden hatte sie in ihrer Mädchenzeit geträumt. Jemand, auf den man sich verlassen konnte, der Geborgenheit und Wärme vermittelte. Jemand mit großen, starken Händen, die gewohnt waren zuzupacken.
„Wahrscheinlich sind Sie hier draußen völlig unabhängig?“ fragte Ursula, nachdem sie ausgestiegen waren.
„Das kann man so nicht sagen“, murmelte Ungeheuer ausweichend, während er versuchte, Günther zu stützen. Doch Günther starrte weiterhin kraftlos vor sich hin.
Die schwere Holztür knarrte wirklich ein wenig, als sie eintraten. Diele und Wohnzimmer waren spärlich, aber gemütlich eingerichtet. Hannes lud Ursula ein, Platz zu nehmen; und ließ Günther neben ihr niedersinken.
„Ich werde, sobald es geht, einen Arzt verständigen“, versprach er. „Leider sind hier draußen die Telefonleitungen manchmal etwas überlastet. Es kann also eine Weile dauern. Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ihnen wird sehr bald geholfen werden.“ Er zwinkerte ihr noch einmal aufmunternd zu und verschwand.
Ursula holte tief Luft. Jetzt konnte es ja nur noch besser werden. Dieser sympathische Mann würde sie aus ihrer misslichen Lage befreien. Und Günther bräuchte nur ein paar weitere Besuche bei seinem Psychiater, etwas Meditation vielleicht, und alles würde wieder wie immer sein.
Interessiert betrachtete sie die wenigen Landschaftsbilder an den dunklen Holzwänden, als sie ein leises Summen wahrnahm, das langsam lauter zu werden schein.
„Unser Gastgeber lässt aber wirklich lange auf sich warten“, sagte sie laut, um ihre plötzlich eingetretene Nervosität zu überspielen. Günther reagierte nicht, aber das Summen begann ihr unangenehm zu werden.
„Ob da vielleicht ein Generator verrückt spielt?“, kam es ihr in den Sinn. Sie presste beide Hände auf die Ohren, aber das machte es nicht besser.
„Herr Ungeheuer“, rief sie. „Hannes, wo sind Sie nur?“ und ging widerstrebend auf die Tür zu, hinter der er verschwunden war. Sie klopfte, aber als das Summen nicht aufhörte, öffnete sie beherzt die Tür.
Das Summen schwoll an zu einem lauten Orkan, und ein beißender Qualm erfüllte die Luft, so dass sie kaum atmen konnte. Ihre Augen tränten. Sie schwankte, denn es war, als ob ein starker Wind sie vorwärtstreiben würde. Durch den Tränenschleier erblickte sie ein metallenes Portal mitten im Raum, das erfüllt war von einer leuchtenden Erscheinung, die noch am ehesten mit einem rotierenden Wirbel zu vergleichen war. Gerade als sie meinte, sich nicht mehr auf den Füßen halten zu können, trat unvermittelt Stille ein.
Ursula zitterte am ganzen Körper. Da spürte sie, wie eine warme Hand die Ihre ergriff. Hannes stand neben ihr. Er blickte konzentriert zu dem glänzenden Tor, in dessen Lichterschein langsam dunkle Umrisse Gestalt annahmen. Ursula klammerte sich an den Mann neben ihr.
„Was ist das?“, wollte sie flüstern und sah ihn an. Doch es war kein gutmütiges, bärtiges Gesicht, in das sie blickte, sondern eine bleiche, geisterartige Grimasse mit riesigen, schwarzen Augen, in denen sich ihr Entsetzen spiegelte.
„Das ist nur eine der Gestalten, die ich annehmen kann“, sprach das Wesen. „Du wirst mich als das sehen, was du dir wünschst.“ Ursula zuckte zurück, als sich die weißen Finger ihrem Gesicht näherten.
„Du wirst mit uns kommen und alles verstehen“, wisperten Stimmen von allen Seiten. „In unserer Welt wirst du eine Auserwählte sein.“
Ein Schwindel erfasste Ursula. Alles begann sich um sie zu drehen, bis eine erlösende Ohnmacht ihr die Sinne nahm. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie in Hannes‘ brauen Augen, die besorgt die Ihren erforschten.
„Komm!“ Er half ihr vorsichtig auf. „Komm mit in ein neues Leben.“
Sie spürte, wie der leuchtende Wirbel sie erfasste und fort trug in eine Welt jenseits ihrer Vorstellungskraft.

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