Titel: Kekse
Autor: callisto24
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Kekse
Das war vielleicht wieder ein Tag“, dachte Rosie, während sie tief seufzend die Haustür aufschloss. „All die Plackerei in dieser vermaledeiten Hauswirtschaftsschule, wozu sollte die wohl gut sein? Kein vernünftiger Mensch wird heutzutage noch Hausmädchen. Das konnte ja auch bloß meiner Mutter einfallen.“ Auf diese Weise mit ihrem Schicksal hadernd trat sie ein, wobei ihr das ohrenbetäubende Gebrüll ihres kleinen Brüderchens mit voller Kraft entgegenschlug.
„Gott sein Dank, dass du kommst.“ Eine völlig aufgelöste Frau Malling kam ihr eilig entgegen, auf den Armen Klein-Fabian, der neben Brüllen und Weinen immer noch ausreichend Energie hatte, um wild um sich zu treten.
„Rosie, das Krankenhaus hat angerufen. Eine Kollegin ist ausgefallen. Ich muss spätestens in einer halben Stunde am Abendband sein und mich um die Planung für morgen kümmern. Bitte sei so gut und nimm Fabian, bis ich zurück bin. Es ist wirklich wichtig.“
„Waaas?“, explodierte Rosie. „Ich soll den kleinen Schreihals schon wieder hüten? Immer diese dämliche Klinik. Als ob die anderen nicht ganz hervorragend ohne dich das Brot auf die Teller packen können. So schwierig ist das nun auch wieder nicht. Ihr Diätassistenten macht das Ganze doch nur unnötig kompliziert.“
„Du weißt genau, dass es nicht so einfach ist. Wenn die Beschwerden der Patienten sich beim Chef auf dem Schreibtisch stapeln, dann weiß er sofort, bei wem er seinem Ärger wieder Luft machen kann.“
„Und dann bekommt es dein Gehaltsscheck zu spüren“, ergänzte Rosie. „Weiß ich, hab ich alles schon tausendmal gehört.“
„Du bist ein Goldschatz. Hier hast du den Kleinen.“ Ehe Rosie sich versah, drückte die Mutter ihr Fabian in den Arm und begann hastig Autoschlüssel, Geldbörse und andere unverzichtbare Kleinigkeiten in eine unförmige, schwarze Tasche zu bugsieren. Dabei erteilte sie Rosie ohne Pause Ratschläge, während das Mädchen ihr schmollend gegenüber stand.
Fabian hatte glücklicherweise eine beruhigende Beschäftigung gefunden, indem er versuchte, Rosies lange, schwarze Haare einzeln auszureißen.
„Er hat schlecht geschlafen heute“, erzählte Frau Malling. „Fängt an zu weinen bei jeder Kleinigkeit. Am besten Du spielst etwas mit ihm, was er besonders gerne hat. Und sei ja lieb zu ihm. Du weißt, seine Erkältung vor kurzem und dann der ganze Ärger mit Bernd.“
„War ja klar, dass der wieder ins Spiel kommen musste“, dachte Rosie.
„Und dann sind noch Reste im Kühlschrank. Nur aufwärmen, aber bitte, bitte nicht nachwürzen. Auch wenn du es nicht glauben kannst. Für kleine Kinder ist Salz im Essen absolut kein Gewinn.“
„Ich weiß auch das“, seufzte Rosie gottergeben. „Nun gehe schon, Mama, bevor du die ganze Bude einpackst.“
Mit einem flüchtigen Abschiedskuss für Fabian und einem dankbaren Blick an die Babysitterin entschwand Frau Malling.
„Na endlich“, seufzte Rosie und setzte erst einmal den strampelnden Bruder ab.
„Jaja, reg dich nur auf. Aber mich kriegst du nicht so schnell klein. Mal sehen, womit wir dich heute beschäftigen können.“
Aber ein Blick in das Wohnzimmer genügte, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen.
Es wies erhebliche Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld auf. Überall lagen Stofftiere und Puppen verstreut.
Fabian wurde schließlich geschlechtsneutral erzogen. Dazwischen türmten sich Bauklötze und Legosteine, Papier und Wachsmalkreiden. Auch ein unvollendetes Wandgemälde hinter dem Schrank fiel Rosie ins Auge. Auweia, das hatte Mama wohl noch gar nicht gesehen?
„Also ruhiges Spielen ist wohl nicht“, sagte sie laut zu Fabian. Dieser trommelte inzwischen ungebrochen auf den Fußboden ein.
„Dann müssen wir wohl etwas anderes versuchen.“ Sie überlegte angestrengt. „Fabian, beruhige dich doch einmal. Was hältst du vom Kekse backen?“
„Was has du gesaagt?“ Fabian hielt sofort in seiner anstrengenden Tätigkeit inne. „Kekse backen“, wiederholte sie.
„Au ja.“ Er klatschte aufgeregt in die Hände. „Kekse backen, Teig kneten, schnell, Fabi hilft.“
Flink war er auf den kleinen Beinchen und schob und zerrte mit aller Kraft an dem kleinen Hocker, der ihn auf eine Höhe mit dem Küchentisch brachte, dem eindeutig interessantesten Platz im ganzen Haus. Schon hatte er den größten Holzlöffel am Wickel und setzte sein Trommelkonzert auf der Tischplatte fort.
Rosie holte inzwischen Schüssel, Knetrolle und diverse Zutaten herbei, die sie in ungefährlicher Entfernung zu den kleinen Händchen des Brüderchens aufbaute.
„So, das hätten wir.“ Sie sah Fabian vielsagend an.
„Natürlich backen wir keine trockenen Gesundheitsplätzchen wie deine Mutter es zu tun beliebt. Nee, bei uns gibt es heute Zucker, Butter und Weißmehl satt. Kein cholesterinfreier Ei-Ersatz, kein Süßstoff und schon gar keine Halbfettmargarine.“
„Butta“, schrie Fabian. „Will Butta haben.“
„Du bekommst gleich Teig, Kleiner. Dann kannst du kneten, bis du umfällst.“
Gekonnt mischte Rosie Mehl, Butter und Zucker zusammen und knetete im Handumdrehen einen handlichen Klumpen zusammen.
„Wir sparen uns natürlich die ganzen Kinkerlitzchen von wegen den Teig kalt stellen, zwischen Folien ausrollen und den anderen Hauswirtschaftsquatsch.“
„Quatsch“, wiederholte Fabian stolz, wobei er eine Handvoll Teigkrümel gleichmäßig auf dem Küchenboden verstreute.
Rosie bewahrte mühsam die Ruhe und begann aus der langen Rolle, die sie geformt hatte, dicke Scheiben zu schneiden und auf das Blech zu legen. „Ich muss dich jetzt woanders hin verpflanzen, Fabian. Der Ofen ist heiß und ich fürchte, dass du ausrutscht und dich verbrennst.“
Wie zu erwarten setzte augenblicklich ein ohrenbetäubendes Gebrüll ein. Fabian wehrte sich mit Händen und Füßen, als Rosie ihn herunternehmen wollte.
„Schhh“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
In demselben Augenblick läutete es natürlich an der Haustür.
Rosie fuhr erschrocken zusammen. Hektisch versuchte sie den immer noch zappelnden kleinen Mann zu bändigen. „Wenn du Mama nichts sagst, geb ich dir von dem Zucker.“
Der Kleine sah sie mit großen Augen an und war auf einmal der reinste Engel.
„Fabi ist ganz lieb. Nur Zucker haben.“
Da klingelte es schon wieder.
Schnell nahm Rosie den Zucker aus dem Schrank, füllte einen Löffel davon in eine kleine Schüssel, gab es ihm hinunter und schob darauf das Blech in den Ofen.
„Ich mache nur schnell die Tür auf“, rief sie schon auf dem Weg dorthin.
Verdächtige Stille breitete sich hinter ihr aus, als sie vorwärts hastete.
„Oh nein! Was willst du denn hier?“, entfuhr es Rosie, als sie den Besucher erblickte.
„Ist deine Mutter nicht da?“ fragte Bernd, dessen Gesicht von einem überdimensionalen Strauß Rosen zum größten Teil verdeckte wurde.
„Die ist in der Klinik. Notfall“, antwortete Rosie knapp ohne von der Stelle zu weichen. Der Anflug einer Besorgnis huschte über das Gesicht des Mannes, verflog jedoch im Angesicht des herausfordernden Schmollmundes und der vorgeschobenen Unterlippe, die Rosie zur Schau stellte.
„Ahem. Kann ich denn rein kommen?“
„Wenn’s denn unbedingt sein muss“, lautete die wenig freundliche Antwort.
„Was macht denn Fabi?“, fragte Bernd, während er sich und seinen Strauß vorsichtig durch die Garderobe zwängte.
„Der ist mit seinem geliebten Zucker beschäftigt.“
Bernd machte große Augen. „Sag mal, weiß das deine Mutter, was du ihm vor die Nase setzt?“
„Bin ich hier der Babysitter oder du?“, brauste Rosie auf. „Hättest du den Job auch einmal gemacht, dann wüsstest du wie schwierig das ist. Aber was rege ich mich überhaupt auf? Das ist hoffentlich sowieso dein Abschiedsbesuch.“
„Es tut mir leid, dass ich mir so wenig Mühe gegeben habe. Aber das wird jetzt alles anders werden. Deshalb wollte ich mit deiner Mutter sprechen.“
Rosie staunte nicht schlecht. Das waren ja ganz neue Töne. Und wenn Bernd wirklich ab und an das leidige Babysitten übernähme, war das gar nicht mal so übel.
Aber man sollte sich niemals zu früh freuen. Also setzte sie ein skeptische Miene auf und sagte: „Fabi ist in der Küche. Ich werde ihn holen gehen.“
Gewichtig stapfte sie vorneweg und betrat den Raum, in dem sie Fabian zurückgelassen hatte.
„Fabi Teckdose“, verkündete der Kleine stolz, wobei der sich mit seinem Zuckerlöffel an der Steckdosensicherung zu schaffen machte.
„Fabian“, schrie Rosie erschrocken und stürzte über den Küchenboden, wobei ihr Unterbewusstsein ein merkwürdiges Knirschen registrierte. Aber noch schneller war Bernd, der wie der Blitz an ihr vorbei zischte und den Jungen von seiner gefährlichen Beschäftigung fortriss.
„Gott sei Dank“, atmeten sie beide beinahe gleichzeitig auf und sahen sich erleichtert an. In diesem Augenblick fiel Rosie das geheimnisvolle Geräusch von vorhin wieder ein und sie riskierte ahnungsvoll einen Blick nach unten.
„Oh mein Gott, der ganze Zucker!“
Eine dünne Schickt aus feinen, weißenKristallen überzog den gesamten Boden. Dazwischen lag die leere 5-Kilo-Sparpackung, die Rosie in ihrer Eile wohl zu nah am Tischrand abgestellt hatte.
Fabian sah aus, als habe er in Zucker gebadet. Von seinen Löckchen rieselten unaufhaltsam die winzigen Körnchen und verfingen sich in Bernds dickem Pullover.
„Was für eine Bescherung“, lachte Bernd und schüttelte den Kleinen, dass die Zuckerkristalle nur so flogen. Rosie war eher den Tränen nah.
„Wie soll ich das nur alles wieder sauber machen?“
„Keine Angst“, beruhigte sie Bernd. „Fabian und ich holen die Besen und im Nu ist klar Schiff.“
„Das darf doch alles nicht wahr sein“, seufzte Rosie und eilte, um dem Kleinen ein Bad einzulassen. Hoffentlich gelänge es ihr, das klebrige Zeug aus seinen Haaren zu entfernen.
Schon befand sie sich wieder auf dem Rückweg, als das vertraute Klappen der Haustür ertönte. Aber Mama konnte doch unmöglich schon wieder zurück sein, oder doch?
„Was ist denn hier los?“ erklang Frau Wallings ungehaltene Stimme. „Rosie, kann man dich denn gar nicht alleine lassen?“
„Mama, wieso bist du schon wieder zurück?“
„Es hat da ein Durcheinander gegeben. Auf einmal waren wir zwei Vertretungen und da habe ich mich halt abgemeldet. Und nun finde ich hier ein Chaos vor. Wo hast du den Kleinen gelassen?“
„Hier sind wir schon.“ Schwer bepackt mit dem inzwischen friedlich eingeschlafenen Fabian, Besen und Staubsauger tauchte Bernd hinter ihnen auf. „Es riecht etwas angebrannt.“
„Oh nein, die Kekse“, rief Rosie und stürzte zum Backofen.
„Was willst du denn eigentlich schon wieder hier?“, fragte Frau Walling Bernd angesäuert. „Ich dachte, wir hätten uns alles gesagt.“
„Seht euch nur diese Plätzchen an“, seufzte Rosie betrübt. „Kohlschwarz und hart, zum Zähne ausbeißen.“
Ohne sie zu beachten, sagte Bernd ernst: “Ich glaube, dass ich die Lösung für unsere Probleme habe. Mein Chef hat mir vorgeschlagen auf flexiblere Arbeitszeiten umzusteigen. Das würde bedeuten, dass ich meine Termine besser mit deinen abstimmen kann. Nachmittags könnte ich fast immer zum Babysitten frei sein und damit auch Rosie entlasten. Und du müsstest nicht immer so verzweifelt nach einer Betreuung suchen, wenn bei euch Not am Mann ist.“
Rosie stellte ihr Tablett ab, nachdem sie mit offenem Mund zugehört hatte.
„Das akzeptieren wir sofort, Punktum“, entschied sie. „Hast du überhaupt schon den herrlichen Strauß Rosen gesehen, Mama? Ich glaube, die brauchen dringend Wasser.“
„Aber Rosie“, meinte Frau Walling. Aber in ihren Augen stand ein kleines Zwinkern, als sie zu Rosie sagte: „Wir werden ja sehen. Ich glaube allerdings, dass sie keine ganze Badewanne voll brauche.“
„Die Wanne!“, rief Rosie und stürmte von dannen. Nur deshalb konnte sie nicht mehr sehen, wie ihre Mutter und Bernd sich gegenüberstanden und still anlächelten.
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