Montag, 15. Februar 2010

Verrat

Titel: Verrat
Autor: callisto24
* * *

In nicht allzu ferner Zukunft


„Emilia, nun beeile dich doch!“, rief Clarissa ihrer ältlichen Kollegin zu. „Es ist schon sechs Uhr durch und ich möchte noch vor den Polizeikontrollen in Gang 9 sein.“
„Ich komme ja“, seufzte Emilia Schnecke, während sie nervös in ihrem schwarzen Ungetüm von Tasche kramte. „Weißt du wo die Schlüssel zum Lager sind?“
Clarissas Lippen kräuselten sich halb spöttisch, halb mitleidig, während sie ihre sorgfältig mit schwarzem Kajal umrandeten Augen nach oben verdrehte.
„Carlos hat bereits abgeschlossen, als du noch mit deinen letzten Paketen beschäftigt warst.“
Ihre Stimme wurde etwas sanfter. „Glaubst du nicht, dass die Arbeit hier ein bisschen viel für dich wird?“
Emilia schüttelte den Kopf, so dass sich einige graue Strähnen aus ihrem dicken Zopf lösten und zu den anderen gesellten, die wirr von ihrem kleinen Kopf abstanden und ihr ein etwas absonderliches und zerstreutes Aussehen verliehen.
„Ich schaff das schon“, murmelte sie mehr zu sich selbst und schlüpfte in einen unförmigen, dunklen Mantel, nicht ohne dabei das Vorhandensein des Tränengas-Sprays und der winzigen, silbernen Betäubungspistole zu kontrollieren.
Clarissas hohe Absätze tippten ungeduldig auf den kunststoffbeschichteten Boden.
„Nun mach mal hin!“, drängte sie. „Bald kommen die ganzen Verrückten aus ihren Löchern und bis dahin möchte ich wenigstens von den Transportbändern runter und in einer gemütlich sicheren Zone voller Menschen sein.“
Emilia dachte an ihre schmerzenden Füße, während sie der Kollegin folgte. Wie jedes Mal überfiel sie ein leichter Schwindel, als sie das Rollband betrat und hatte Mühe ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Müde Gesichter tauchten aus dem grauen Dunst des Tunnels vor ihr auf und fuhren stumm an ihr vorbei, ohne von dem schwarzen Gummistreifen, der sie trug, aufzusehen. Emilia starrte in die bläulich schimmernden Leuchtröhren über ihr.
„Gang 6, ich muss!“, sagte die Jüngere plötzlich und wechselte leichtfüßig von dem Fließband auf die Rolltreppe, die einen abzweigenden Tunnel hinaufführte.
Von Ferne ertönte Musik und das Licht von dort oben erschien ein wenig wärmer und anheimelnder.
„Aber nein“, dachte Emilia. „Es ist zu spät für einen Ausflug in die Einkaufszone. In einer halben Stunde spätestens tauchen hier überall die Banden auf und machen Ärger. Oder ein Polizeitrupp marschiert ein und kontrolliert aus lauter Langeweile, ob die Selbstverteidigungsausrüstung komplett und funktionstüchtig ist.“ Der Anflug eines Lächelns umspielte, kaum wahrnehmbar, ihren Mund, als sie sich, beinahe wehmütig, an eine Nacht vor mehr als zwanzig Jahren erinnerte. Damals hatte sie ihre einzige große Liebe kennengelernt, einen Polizisten.
Zu der Zeit war die Polizei mehr Freund und Helfer gewesen, als ein im Gleichschritt aufmarschierender Kontrolltrupp, der für Menschen wie sie lediglich eine zusätzliche Bedrohung verkörperte.
Damals hatte er sie festgenommen, weil ihre Betäubungspistole defekt war.
Ein Protokoll, eine Geldstrafe, eine Nacht in Untersuchungshaft. Und dann hatte er ihr Kaffee gebracht.
Emilia schrak auf. Das war bereits das Signal für ihre Wohnsiedlung gewesen. Sie passte die nächste Ausstiegsmöglichkeit ab und verließ unbeholfen die Rollbahn. Automatisch drückte sie ihre Tasche fester an sich und fühlte mit der anderen Hand nach dem Tränengas in ihrer Manteltasche, während sie hastig an den unzähligen, gleich aussehenden Türen vorbei trippelte. Noch war es früh genug. Um diese Zeit kamen so gut wie keine Überfälle vor.
Emilia blieb stehen und lauschte. Irgendetwas erschien ihr ungewohnt. Sie nahm mit zittrigen Fingern den altmodischen Wohnungsschlüssel aus ihrem Brustbeutel, denn dem Netzhautabtaster alleine vertraute sie nicht. Nachdem der Computer sie erkannt hatte, öffnete sie das Sicherheitsschloss und betrat aufatmend ihr kleines Heim. Gemütlich oranges Licht, Musik und Fernseher schalteten sich automatisch ein, während die Kaffeemaschine zu brodeln begann und einen angenehmen Duft nach frisch gemahlenen Bohnen verströmte.
Emilia stand in ihrer Garderobe, ohne den Mantel abzulegen, und träumte davon wie schwierig es gewesen war noch eine Genehmigung für den alten Fernseher zu erhalten. Die meisten Wohnungen wurden nur noch mit interaktiver Unterhaltungselektronik ausgestattet, aber diese Dinge machten ihr Angst. Emilias Wohnung sollte ihre Höhle sein und nur sie durfte das Recht haben sich darin aufzuhalten.
Da kroch unvermittelt wieder dieses Gefühl in ihr hoch. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass irgendetwas anders war als gewohnt.
Aus der Musikanlage erklangen langsame Liebesschlager und der Fernseher zeigte die vertraute Quiz Sendung, aber trotzdem vermeinte sie etwas Unbekanntes zu spüren. Langsam setzte sie sich in Bewegung, obwohl sich ihre Beine schwer wie Blei anfühlten.
„Ist jemand hier?“, versuchte sie zu sagen, aber ihre Stimme versagte und sie brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Instinktiv wandte sie sich in Richtung ihres Schlafzimmers und dort sah sie ihn:
Die großen, dunkeln Augen waren das Erste, was ihr an ihm auffiel. Der Junge kauerte stumm, die Beine angezogen, in der Nische zwischen Bett und Wand. Umrahmt von kleinen Sträußen getrockneter Moosröschen, die Emilias Schlafzimmerwände zierten, wirkte seine zerlumpte, schmutzverkrustete Kleidung noch erbarmungswürdiger auf die alte Frau. Unter den struppigen Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen, blickte er sie unverwandt an, ohne dass er sich einer Schuld bewusst zu sein schien.
„Wie bist du hier hereingekommen?“, fragte Emilia, nachdem sie ihre Fassung halbwegs wiedererlangt hatte. Der Junge sagte kein Wort, sondern drehte lediglich seinen Kopf beinahe unmerklich in Richtung der anliegenden Abstellkammer. Emilia bemerkte auf einmal erstaunt, dass ihre Angst verflogen war. Als wäre sie alleine, zog sie ruhig ihren Mantel aus und hängte ihn sorgfältig an den Garderobenhaken. Der Junge rührte sich auch noch nicht, als sie zurück in ihre Wohnküche ging, zwei Tassen auf den mit Kunstblumen geschmückten Tisch stellte, die dampfende Kaffeekanne und einen Teller Zwieback dazu setzte und dann auf einem der beiden kleinen Sessel Platz nahm. Vor dort aus konnte sie ihren Besucher beobachten, den ihr Verhalten auf einmal doch zu verunsichern schien, denn er begann unruhig umher zu rutschen und den gedeckten Tisch anzustarren.
Emilia schenkte Kaffee in beide Tassen, stippte einen Zwieback in ihr Getränk und begann nachzudenken. Der Junge war sicher noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt, aber da sie nie Kinder gehabt hatte, konnte sie auch dort nicht sicher sein. Offensichtlich war er verängstigt und lief vor etwas davon.
Da bemerkte sie, wie er unsicher aufstand und in ihre Richtung kam. Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Ja, komm nur, ist auch für dich.“
Von Nahem wirkte er noch schlaksiger und fast ein wenig verfroren. Seine schmalen Finger umschlossen die Tasse und Emilia erinnerte sich an die Nacht, in der sie selbst voller Dankbarkeit ihre klammen Finger an einem dampfenden Kaffeebecher erwärmt hatte. Ihr Blick fiel auf Toms Foto auf der Anrichte. Es zeigte ihn in seiner schmucken Uniform, zwei Tage bevor er in einem Bandenkrieg ums Leben gekommen war und nur eine Woche vor dem vereinbarten Hochzeitstermin.
Emilia bedeckte gewohnheitsmäßig mit den Händen ihre Augen, denn sie spürte wie sie feucht wurden. In diesem Augenblick hörte sie, wie der Junge unvermittelt aufsprang, so dass beinahe sein Sessel umgefallen wäre. Aufgeregt blickte er im Raum umher, als sei er auf der Suche nach einem Fluchtweg und deutete mit zitternden Fingern in die Richtung des Bildes.
„Nein, nein! Hab keine Angst.“ Emilia verstand seine Furcht sofort. „Hier gibt es keine Polizei, niemand kann dich hier verhaften.“
Der Junge nickte, blickte aber immer noch fragend auf das Foto.
„Er war die Liebe meines Lebens“, sagte Emilia leise. „Nun ist er tot und ich bin hier allein.“ Sie atmete tief durch. „Das ist alles schon so lange her. Und jetzt bist du hier.“ Sie versuchte ein Lächeln.
Der Junge sah sie aufmerksam an, wobei er wieder seine Tasse fest umklammert hielt.
„Kannst du nicht sprechen oder willst du nur nicht?“ Sie bekam keine Antwort. „Na gut. Ich kann dir ja erzählen, was ich glaube: Du lebst in einer dieser Jugendbanden, die in den Schächten nahe der Erdoberfläche hausen. Die Sonneneinstrahlung ist dort eigentlich zu stark. Vor allem tagsüber ist die Erde so erhitzt, dass ihr euch in wenigen geschützten Winkeln zusammendrängen müsst. Erst am Abend könnt ihr euch hervorwagen und miteinander oder gegeneinander um euer Überleben kämpfen.“
Emilia nahm einen Bissen und schob dem Jungen den Teller Zwieback hinüber. „Wahrscheinlich gab es irgendwelche Schwierigkeiten in deiner Gruppe, das hört man ja immer wieder, und nun jagen sie dich. Deine Angst muss so groß gewesen sein, dass du dich alleine durch die Lichtschranken hindurch gemogelt hast und schließlich hier gelandet bist. Kann es so oder so ähnlich gewesen sein?“
Der Junge schwieg immer noch und kaute dabei konzentriert sein Gebäck.
Emilia seufzte resigniert. „Also was mache ich denn nun mit dir? Das Einzige, was ich über Kinder weiß ist, dass sie mit zehn Jahren entweder in ein Berufsbildungsprogramm gesteckt oder zum Graben von neuen Tunneln verwendet werden. Von einem, der seine Gruppe verlässt, habe ich allerdings noch nie gehört.“ Sie dachte einen Augenblick nach. „Hast du denn wenigstens einen Namen?“
Der Junge sah hoch. Einen Augenblick lang blickten die beiden sich nur schweigend an. Dann griff er sich an den Hals, riss etwas ab und schob ihr den Gegenstand über den Tisch. Es war ein metallenes Amulett mit einem eingravierten Zeichen und einem Schriftzug darauf. Emilia konnte zuerst kaum etwas entziffern, denn es war wohl schon einmal starker Hitze ausgesetzt gewesen und demzufolge halb geschmolzen und erheblich verbogen. Endlich konnte sie doch ein paar Buchstaben ausmachen: „Samu, Skorpion für immer“, stand dort in krakeliger Schrift. Das Bild zeigte einen Skorpion in Angriffsstellung. Emilia glaubte sich zu erinnern, dass Jugendbanden sich vorzugsweise nach gefährlichen Tieren benannten. Sie sah wieder auf.
„Also Samu!“, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. „Mein Name ist Emilia.“
Der Junge zögerte einen Augenblick, bevor er ihre Hand ergriff.
„Tja, also“, Emilia lächelte unsicher und wusste nun auch nicht mehr weiter. „Da sind wir nun.“ Verlegen blickte sie in den Fernseher, wo gerade Eindrücke von der Erdoberfläche über den Bildschirm flimmerten.
„Bist du schon einmal oben gewesen?“, fragte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich würde es nicht wagen. Es kann doch unmöglich nachts so viel ungefährlicher sein als bei Tag. Und ich habe die Bilder von Verbrennungen gesehen, die manche unvorsichtige Forscher davongetragen haben. Die gehen angeblich erst bei Sonnenuntergang hinauf.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, besser man bleibt unten. Wir haben die Erdoberfläche kaputt gemacht, nun müssen wir auch die Konsequenzen tragen.“
„Nachts ist es schön dort oben“, sagte Samu. Seine Stimme war heiser, aber hell wie die eines unschuldigen Kindes. Emilia starrte ihn erstaunt an, bis ein Lächeln in ihr aufstieg.
„Du kannst ja doch reden“, rief sie erleichtert. „Ich habe es eigentlich schon nicht mehr geglaubt.“
Der Junge blickte, beinahe erschrocken von seiner eigenen Kühnheit, rasch zu Boden.
„Ich verstehe schon“, meinte Emilia. „Du sprichst nur bei besonderen Gelegenheiten.“
Samu blickte unvermittelt zur Seite und legte den Finger auf die Lippen. Seine Augen schienen immer größer zu werden, während er lauschend die Wand fixierte.
Jetzt hörte Emilia es auch. Es waren Schritte. Nicht der gleichmäßige, unaufhaltsame Rhythmus der Kontrollgruppen, sondern der Klang vieler harter Stiefel, die, einer losgelassenen Meute gleich, vorwärts stürmten. Das Geräusch schwoll an, drang herunter zu ihnen. Durch die glatten Tunnelwände wurde es mehrfach zurückgeworfen, verstärkt und wuchs an zu einer Bedrohung, zu einer Gefahr, vor der sie sich nicht verkriechen konnten.
Emilia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
„Skorpione?“, flüsterte sie fragend.
Samu nickte schweigend.
„Was wollen sie?“
Der Junge hob den Kopf und sah ihr fest in die Augen. „Rache“, antwortete er. „Sie denken, ich hätte unser Versteck verraten.“
„Und hast du?“
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr.“
Die Geräusche waren nun so nahe gekommen, dass Emilia einzelne Stimmen und Wortfetzen unterscheiden konnte.
„Der Mistkerl entkommt uns nicht“, erklang es urplötzlich so nahe, dass sie zusammenzuckte. Es kam ihr vor, als stünde der Sprecher direkt vor ihrer Tür.
„Komm heraus, Samu! Früher oder später finden wir dich sowieso“, ertönte eine tiefe Stimme mit einem gefährlichen Unterton.
„Du kannst froh sein, wenn du vorher nicht den Polizeitruppen in die Hände fällst. Die werden dich nicht so liebevoll behandeln wie wir. Immerhin gehörst du von Anfang an zu uns.“
Emilia drückte stumm Samus Hand. „Sie können nicht hereinkommen“, flüsterte sie beruhigend, als ihr auf einmal etwas in den Sinn kam. „Aber du, wie bist du eigentlich hereingekommen?“ Die Angst kroch wieder in ihr hoch und sie konnte sie nicht aufhalten.
‚Ich kann mein Heim nicht schützen, es ist nicht mehr meine Burg‘, versuchte sie zu sagen, aber es gelang ihr nur, die Lippen zu bewegen. Der Gedanke, den sie eine Weile verdrängen konnte, überwältigte sie nun mit Übermacht und erschreckte sie bis ins Innerste.
„Ich verstehe das nicht“, wisperte sie. „Wie konnte ich das nur vergessen?“
Samu sah sie an. „Vielleicht warst du froh, nicht mehr allein zu sein.“
Emilia war selbst erstaunt, wie heftig sie sich schüttelte. „Ich wusste einfach, dass du mir nichts tun würdest.“
Schwere Stiefel donnerten gegen Wände und Türen.
„Besser, ihr öffnet uns!“, brüllte jemand. „Niemandem wird etwas geschehen, es sei denn, wir finden nicht, was wir suchen.“
Emilia hörte wie verängstigte Stimmen aus den benachbarten Wohnungen laut wurden. Sie spürte, wie Samu zitterte.
Entschlossen stand sie auf und ging mit festen Schritten zur Tür. Einen Moment zögerte sie noch vor der Garderobe, dann warf sie ihren alten Morgenrock über, schlüpfte in ihre Pantoffeln und fuhr sich noch einmal durch ihr Haar, so dass ihre borstigen Strähnen in alle Himmelsrichtungen abstanden. Die Lesebrille schief aufgesetzt, öffnete sie die Klappe zum Außenmonitor.
„Was ist denn nur passiert?“ Sie atmete hastig und bemühte sich, bei den Jugendlichen, die sie nun auf dem Besucher-Bildschirm sehen konnten, den Eindruck einer verwirrten, alten Frau zu erwecken, die sich gerade im Begriff befand, schlafen zu gehen.
Ein unrasierter junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren in schwarzem Leder öffnete ein Klappmesser und fuhr sich damit genüsslich über das Kinn.
„Wir suchen jemanden, Mütterchen: ein goldiges Bürschchen. Er fürchtet sich, denn er hat etwas ausgefressen. Hey Mann, pass doch auf“, schrie er, als ihn jemand beiseite schob.
„Lass mich ran, das ist mein Fall“, erklang die dunkle Stimme wieder. Gefährliche Augen musterten sie eindringlich, während Neonlichter sich in den, mit Pomade zurück gekämmten Haaren spiegelten. „Pass auf, Süße. Wir sind allesamt nette Burschen. Wenn du jemanden gesehen hast, dann rück mit der Sprache raus, ansonsten machen wir dir das Leben zur Hölle.“ Er kam dem Bildschirm näher, bis Emilia zurückwich.
„Und das ist ein Versprechen“, flüsterte er, beinahe unhörbar.
Emilia fühlte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. „Ich weiß von nichts“, brachte sie mühsam heraus. „Ich schwöre, ich würde es Ihnen sagen.“
„Die hat keinen Schimmer“, sagte der Skorpion, als ein neues Geräusch erklang.
„Verdammt, Kontrolle“, zischte jemand. „Oder jemand hat die Bullen gerufen. Lasst uns verschwinden, schnell!“
Emilia stand noch wie erstarrt, obwohl der Bildschirm schon längst wieder abgeschaltet war. Das gleichmäßige Marschieren des Polizeitrupps verklang bereits wieder, als sie sich nach Samu umdrehte. Der Junge war aufgesprungen und starrte sie mit einer Mischung aus Unglauben und Dankbarkeit an.
„Sie kriegen mich trotzdem“, sagte er schließlich.
„Das werden wir noch sehen“, erwiderte Emilia und spürte, sobald die Spannung nachließ, wie das Blut in ihren Schläfen pulsierte. Sie befreite sich mit einer Handbewegung von ihrem Morgenmantel und ließ sich aufatmend in den Sessel fallen.
Samu blickte zu Boden.
„Aber jetzt musst du mir sagen, wie du hier herein gekommen bist.“
Schweigend ging der Junge voran, in die Richtung des Ortes, wo sie ihn gefunden hatte.
„Die Abstellkammer!“, sagte er. „Jede Wohnung hat diesen Zugang. Nur weiß es keiner. Keiner außer uns. Und deshalb werden sie mich auch finden.“
Er hob mit seinem Messer eine Ecke des Teppichs an und ein winziger Hebel kam zum Vorschein.
„Leg ihn um“, forderte Samu sie auf.
Zögernd folgte Emilia seiner Anweisung. Der Hebel ließ sich leicht bewegen. Gleichzeitig erklang ein raues Knarzen, als werde ein verrosteter Riegel zurückgeschoben.
Samu sprang auf und reckte sich zu der niedrigen Decke. Er schob das schmale Taschenmesser in einen kaum wahrnehmbaren Spalt. Mühsam zog er es hin und her, bis auf einmal ein viereckiger Teil der Decke sich mit einem krachenden Geräusch auf sie herab senkte. Emilia hob abwehrend die Hände und hielt auf einmal eine zusammengeschobene Leiter in der Hand, die an der Klappe befestigt war.
„Komm!“, forderte Samu sie auf und schwang sich leichtfüßig hinauf. Emilia betastete vorsichtig die schmale, silbrige Konstruktion. Die Scharniere, an denen die Falltür befestigt war, schienen zu stöhnen, als Emilia die Leiter bis zum Boden auseinander zog. Ängstlich blickte sie nach oben, wo Samu kauerte und sie nachdenklich ansah. Sie atmete tief aus und begann vorsichtig mit dem Aufstieg. Gerade, als sie glaubte Schwindel zu empfinden, reichte der Junge ihr seine Hand und zog sie die letzten Sprossen in die Höhe. Sie befanden sich in einem endlos scheinenden, düsteren Gang. In regelmäßigen Abständen erhoben sich zusammengeschobene Leitern, die einen metallenen Glanz verströmten.
„Eine für jede Wohnung“, flüsterte Emilia und wandte sich Samu zu. Der Junge sah sie betreten an.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte er leise. „Die Leiter räume ich auf. Niemand wird etwas merken.“
Emilia nickte. „Es geht wohl nicht anders.“
„Nein.“
Sie standen immer noch wie festgewachsen an derselben Stelle, unfähig, sich zu trennen.
„Wohin der Tunnel wohl führen mag?“
Samu schüttelte den Kopf. „Nirgendwohin.“ Er richtete den Blick zur gewölbten Decke an der vereinzelte Neonröhren ein kaltes Licht verbreiteten. Langsam sprach er weiter. „Am Ende des Wohnblocks beginnen die Schächte, die zur Erdoberfläche führen. In manchen funktionieren noch die Fahrstühle.“
Emilia spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief. „Dorthin willst du also?“
Samus Mundwinkel zuckten. „Nur Verrückte und Verzweifelte kann man dort finden. Niemand wird mich da oben suchen kommen.“
„Und wenn die Sonne aufgeht?“
Er sah immer noch starr nach oben, als könnte er dadurch den künstlichen Lichtquellen etwas Wärme verleihen.
„Das wird sich dann zeigen“, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
„Ich komme mit dir.“
„Aber das geht doch nicht.“
„Keine Widerrede!“ Emilia begann entschlossen, die Leiter zu ihrer Wohnung nach oben zu ziehen. „Zum ersten Mal seit Jahren lebe ich wieder. Ich kann nicht mehr zurück in diese Eintönigkeit, in diese falsche Sicherheit.“ Sie hielt inne und sah Samu gerade ins Gesicht.
„Ich will sehen, wie die Nacht aussieht, spüren, welchen Geruch die verbrannte Erde verströmt und vielleicht entdecke ich sogar eine Sternschnuppe am Himmel.“
Energisch klappte sie die Leiter zusammen und schloss mit einem Krachen ihre Falltür.
„Und wenn ich das alles gesehen habe, dann gehen wir gemeinsam nach Hause und finden einen Weg. Vielleicht schaffen wir es trotz allem, in dieser Welt einen Ort zu entdecken, der das Leben erträglich macht. Vielleicht haben wir einmal Glück.“

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