Samstag, 6. Februar 2010

Eden

Titel: Eden
Autor: callisto24
* * *

Ein aufregender Urlaub

„Ala“, rief die Mutter. „Komme herüber und lass dich eincremen.“ Missmutig trottete Alyssa zu dem grell bunten Liegeplatz, den ihre Familie wie jedes Jahr zum Stammplatz auserkoren hatte. Dabei dachte sie nicht im Traum daran, Rücksicht auf die Handtücher und Habseligkeiten anderer Urlauber zu nehmen.
Ein unwilliges Gemurmel erhob sich demzufolge auch hinter ihr, was Frau Summer zu einem strengen Blick veranlasste. „Ala Summer“, sagte sie tadelnd. „Andere Kinder wären froh, einen so traumhaften Urlaub verleben zu dürfen. Nur du spielst hier ständig den Miesepeter.“
Mit rotem Gesicht, dessen Farbei beinahe der ihres Lippenstiftes entsprach, rieb sie heftig Alyssas blassen, sommersprossigen Rücken ein.
„Erstens heiße ich nicht Ala“, rief Alyssa tief unglücklich. „Ich hasse diesen Namen. Warum könnt ihr mich nicht so nennen wie ihr mich getauft habt. Dann kann ich mir wenigstens vorkommen wie ein geheimnisvolle, amerikanische Schönheit.“
„Ich weiß schon, diese Schauspielerin“, unterbrach die Mutter genervt. „Musst du immer diese Flausen im Kopf haben?“
„Und dann bin ich nun wirklich alt genug um alleine in Urlaub zu fahren. Ich könnte mit Freundinnen eine Radtour nach Frankreich machen wie die Mädels meiner Klasse oder in die Staaten jetten. Wer fährt denn heute noch nach Italien?“ Wütend sprang sie auf. „Und wenn ich schon hier sein muss, dann will ich wenigstens mal etwas erleben.“
„Bleib aber in Sichtweite“, rief Frau Summer. „Und gehe auf keinen Fall alleine ins Wasser. Und pass auf …“
Aber da war Alyssa schon außer Hörweite. „Ist doch wahr“, schimpfte sie vor sich hin. „Die anderen fahren nach Tahiti, Ägypten oder zu Orten von denen ich noch nie etwas gehört habe und ich sitze hier jeden Sommer wieder an demselben öden Strand fest. Dieselbe miefige Pension, dieselben langweiligen Touristen und das Schlimmste: dieselben gestressten, ewig nörgelnden Eltern wie zu Hause auch. Nur ist es hier noch viel schlimmer. Das Essen schmeckt nicht, dauernd ist man krank, das Wasser starrt vor Dreck, die Preise sind restlos überhöht und die Post funktioniert nicht. Ich würde mir an deren Stelle auch keine große Mühe geben.“
Natürlich, zu Hause wurde dann das ganze Jahr geschwärmt, von der Sonne, der Fröhlichkeit, den Bootsfahrten bei Vollmond. Alyssa seufzte bei diesem Gedanken auf. „Na, schon zu heiß für dich?“, erklang eine schrille Stimme hinter ihr.
„Lass mich zufrieden, Toby. Du fällst mir auf die Nerven“, sagte Alyssa.
„Quatsch nicht. Wie viele Jahre treffen wir uns jetzt in diesem Sommerparadies für Scheintote? Seit unserer Geburt? Das heißt doch, dass wir füreinander bestimmt sind, oder nicht?“
„Du spinnst doch. Ich war auf jeden Fall das letzte Mal hier. Und wenn ich abhauen muss, hierhin bringen mich keine zehn Pferde mehr.“
„Das traust du dich nicht.“ Toby grinste schadenfroh. „Du gehst doch noch nicht einmal ohne Mami ins Wasser aus Angst vor Quallen und Haifischen.“
Alyssa hatte das Gefühl jeden Moment vor Zorn zu zerplatzen. „Und ob ich mich das traue“, schrie sie. „Du wirst schon sehen, was ich mich alles traue.“ Wütend packte sie ihre Luftmatratze und lief auf das glitzernde Meer zu. Einen Augenblick zögerte sie noch, aber das gemeine Lachen hinter ihr ließ sie den unbehaglichen Gedanken an kneifende Krebse und scharfe Muscheln beiseite schieben. Mit einem Platschen landete sie im blauen Wasser zwischen unzähligen pustenden und schnaubenden Urlaubern. Alyssa zog sich auf die Matratze, die kaum größer als ihr Kopfkissen war und paddelte los. „Dem werde ich es schon zeigen. Der wird sich wundern wohin ich schwimmen kann.“ Die kleinen Wellen, die sie umspielten, die Wärme des salzigen Wassers, all das bemerkte sie nicht, denn sie hatte nur ein Ziel: hinaus ins offene Meer. Damit konnte sie es ihnen allen zeigen. Alyssa sah ohnehin nicht ein, dass jeder Strand diese dummen Felswälle haben musste. Sie versperrten nur die Sicht und die schönsten Wellen wurden klein und mickrig bis sie in der erlaubten Zone ankamen. Langweilig wie alles hier. Aber sie würde endlich einmal richtige Welle zu sehen kriegen. Und sollte sie an den Felsen zerschellen, nun, dann bliebe ihr wenigstens die langweilige Rückfahrt mit der unvermeidlichen, scheinbar unendlichen Diskussion über Benzinpreise erspart. Und so trieb Alyssa unermüdlich ihr buntes Gefährt an.
Der Wind schien heftiger zu werden und auch die kleinen, niedlichen Wellen wurden langsam zu ansehnlichen Wogen. Sie fuhr mit ihnen hoch hinauf um gleich darauf wieder tief hinab zu sinken. Es ging mittlerweile so schnell, dass sie es fast nicht glauben konnte, als der graue Wall aus großen Steinen gleichzeitig links und rechts vor ihr auftauchte. „Ich schaffe es“, dachte sie atemlos. „Ich bin frei.“
Aus der Ferne hörte Alyssa undeutliche Stimmen, beinahe wie Gemurmel aus der Tiefe des Meeres. Uralte Geschichten wurden in ihr wach. Ob ihr der Meereskönig aus Andersens Märchen, Kapitän Nemo oder die Sea Quest blitzartig in den Sinn kamen, auf einmal wurde es ihr mulmig zumute. „Rede dir nur nichts ein“, schalt sie sich. „Es gibt keine Unterwassergeister und schon gar keine geheimnisvollen Unterseeboote, die an einem Badestrand Erkundigungen einziehen.“
Dennoch zitterte sie, als die winzige Matratze mit der nächsten großen Welle hinaus geschwemmt wurde in das offene Meer. Ihre Knöchel wurden weiß, so fest klammerte sie sich an ihren vertrauten Untersatz. Und so fabelhaft war der Anblick gar nicht. Schon gar nicht stellte sich irgendein Gefühl der grenzenlosen Freiheit ein, so tief Alyssa auch in sich hinein horchte. Nur kalt war es ihr, ausgesprochen kalt. Aber da musste doch etwas sein, irgendetwas anderes. Und das erschien auch.
„Ein Hai“, schoss es Alyssa eiskalt durch den Kopf. „Ein Mörderhai, wie bei Stephen King.“ Angestrengt blinzelte sie in die Sonne, während ihr das Herz bis zum Halse schlug. Da war sie wieder, die dreieckige Schwanzflosse.
„Hilfe, Hilfe“, begann sie aus Leibeskräften zu brüllen. „Hilfe, ich werde gefressen!“ Dabei ruderte sie wie wild mit Armen und Beinen ohne sich von der Stelle zu bewegen. Das Biest kam dabei immer näher. Die Tränen strömten Alyssas Wangen hinunter, als sie gleichzeitig schrie und Wasser schluckte. „Ich will doch nicht sterben“, dachte sie verzweifelt. „Lieber Gott, lass mich nicht von einem Fisch verspeist werden.“
In diesem Augenblick fühlte sie wie man sie packte und hochriss. Voller Schrecken strampelte sie und schlug um sich. Anscheinend traf sie ziemlich gut, denn ärgerliche Laute waren das Erste, das wieder in ihr Bewusstsein drang.
„Kleines Mädchen, was du machst hier draußen?“, fragte die fremde Stimme.
„Ein Hai“, fiel es ihr wieder ein. Sie sprang erschrocken auf und stellte dabei fest, dass sie anscheinend auf den Planken eines alten Fischerbootes stand. Eines von denen, die von den Touristen so bewundert wurden und deshalb ab und an ihre Ehrenrunden drehen durften. „Ein Haifisch, er wollte mich fressen“, fiel es ihr wieder ein.
„Dieser Haifisch?“, lachte einer der Männer, der eigentlich noch ein Junge war. „Der dich wollte bestimmt nicht fressen. Ist ein, wie sagt man, Katzenhai. Der ist harmlos. Isst nur Fische, so wie wir.“ Dabei blitzten seine Zähne in der Sonne und als er leicht mit den Augen zwinkerte, fing Alyssa an zu glauben, dass der Urlaub doch noch ganz schön werden könnte.

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