Titel: Erde
Autor: callisto24
* * *
Die Macht der Farbe
Schon seit Tagen hatte sie in dem alten Herrenhaus eine seltsame Mischung aus nervöser Aufregung und unheilvoller Vorahnung wahrgenommen. Es schien ihr, als sollte ein sorgsam gehegter Plan, der über Jahre hinweg in beinahe vergessener Tiefe gereift war, endlich zur Ausübung kommen.
Camilla zupfte den schlichten Rock ihrer blauen Hausmädchentracht zurecht und strich sich die halblangen, dunkelbraunen Locken zurück. Die weiße Schürze saß nahezu perfekt, während die handgestickte Spitze mit der liebevoll altmodischen Einrichtung des Hauses wundervoll harmonierte. Mit Staubwedel, Tuch und Möbelpolitur ausgestattet, betrat sie das Reich der Frau des Hauses.
„Sie sehen wieder entzückend aus, mein Kind“, klang es ihr entgegen. Frau Ludowik hatte, obwohl sie weit über 60 Jahre zählte, ein besonders ausgeprägtes Gespür für kleine Veränderungen.
„Und wie hübsch Sie Ihr Haar tragen, meine Liebe. Ich wusste doch, dass es offen viel besser zur Geltung kommt. Ein Gesicht wie das Ihre wirkt am besten, wenn seine innere Schönheit aus einem weicheren Rahmen heraus erstrahlen darf.“
„Es ist nur, weil in meinen bisherigen Stellungen immer großen Wert auf eine streng zurückgebundene Frisur gelegt wurde“, erwiderte Camilla.
„Ach papperlapapp! An erster Stelle kommt immer die Freude, die das Betrachten eines hübschen Menschen bietet. Und jeder Mensch ist hübsch, wenn er sich nur die Mühe macht, das Beste aus sich herauszuholen. Sicher, in Ihrem Alter ist das alles noch ein Kinderspiel, aber bei mir bedarf es da bereits eines größeren Aufwandes.“
„Sie sehen aber wirklich gut aus, wenn ich das sagen darf.“
„Sie dürfen das, mein Kind, denn bei Ihnen weiß ich, dass es sich um keine leere Schmeichelei handelt. Und Sie machen mir damit eine große Freude.“
Camilla lächelte, während sie sich mit dem Staubwedel zu schaffen machte. Es stimmte, sie bewunderte Frau Ludowik von ganzem Herzen, und das nicht nur wegen ihres, für ihr Alter und ihre Lage ungewöhnlich attraktiven Äußeren.
Frances Ludowik war seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren an den Rollstuhl gefesselt und auf Hilfe von außen angewiesen. Aber sie meisterte ihr Schicksal mit bewundernswerter Kraft und Zähigkeit. Das Haus, das der Vater ihr in jungen Jahren vermacht hatte, war im Laufe der Zeit auf ihre Situation in einer Weise eingerichtet worden, die sie ihre Behinderung nur noch selten spüren ließ. Es fehlte an nichts, angefangen mit Fahrstühlen und Treppenlift bis zur automatischen Videoüberwachungsanlage, die ihr die Beobachtung jedes Raumes des Hause, sowie des Gartens und der Pforte erlaubte.
Den Betrieb ihres Vaters, einen einträglichen Stoffhandel, hatte sie, eher widerwillig, in die Hände ihres Mannes, Anton Ludowik, geben müssen. Der stille, unscheinbare Mann schien damit zufrieden, dass die wichtigsten Dinge in ihrer Ehe der Kontrolle seiner Frau oblagen. So brachte er ihr auch regelmäßig die Geschäftsbücher mit nach Hause und ertrug geduldig die ab und an für Außenstehende sehr hart wirkende Kritik.
Camilla war schon so manches Mal Ohrenzeugin geworden, wenn Frau Ludowik ihren Mann einen Stümper und Versager genannt hatte, der sich ihr Geschäft erheiratet und nun nichts anderes im Sinn hatte, als es mit aller Macht in die roten Zahlen zu bringen.
Anton Ludowik war in diesen Fällen stets sehr leise aus dem Zimmer geschlichen, die Bücher fest unter den Arm geklemmt und in den Augen den Ausdruck tiefster Ergebenheit. Dennoch hatte er für Camilla immer ein freundliches Lächeln gefunden, auch wenn diese Freundlichkeit aufgesetzt wirkte und nicht von Herzen zu kommen schien.
Camilla erwachte aus ihren Gedanken, denen sie beim Möbelpolieren stets besonders intensiv nachzuhängen pflegte, als Frances Ludowik mit einem Rascheln ihr Magazin beiseite legte.
„Sie dürfen heute etwas früher gehen, mein Kind. Heute ist Freitag, da haben Sie sicher etwas vor. Außerdem habe ich einen Termin bei meiner Coiffeuse in der Stadt. Anton fährt mich und begleitet mich auch im Nachhinein bei meinen Einkäufen.“
Sie lächelte versonnen. „Ich denke, ich werde ein paar neue Farben ausprobieren. Das Innere eines Menschen verändert sich schließlich auch ständig. Daher fühle ich mich stets verpflichtet, den Farbton herauszufinden, der meinem Gemütszustand am ehesten entspricht.“
Nachdenklich blickte sie auf Camilla, die mit flinken Händen die Bilderrahmen abstaubte.
„Und Sie, Kindchen, dürften wohl auch zu den warmen Farbtypen zählen. Natürlich wäre zuallererst eine professionelle Farbberatung vonnöten, um ganz sicher zu sein, aber ich habe es im Gefühl, dass Ihr Teint in einem Terracotta-Ton leuchten würde. Nein, da besteht wohl kaum ein Zweifel. Ihr Haar besitzt unter all der dunklen Pracht denselben rotgoldenen Glanz wie das Meine vor 30 Jahren.“ Sie warf einen Blick in den kleinen Handspiegel. „Ich wünschte wirklich, Madame Chantal gelänge es, eine solche Farbe wieder hervorzulocken. Es ist doch Ihre Naturfarbe, nicht wahr?“
Camilla nickte und strich verlegen ihre Schürze glatt.
„Dann habe ich Recht. Ein oranges Tuch alleine könnte Ihr Äußeres zum Erglühen bringen.“
Sie schüttelte skeptisch den Kopf. „Dieses blaue Kleid allerdings, es stand ja Ihrer Vorgängerin, einer Schwedin wie sie im Buche steht, ganz reizend, aber sie bräuchten etwas, das weniger Kühle verströmt.“ Ein Stirnrunzeln folgte.
„Im Augenblick allerdings werde ich an Ihrer Tracht kaum etwas ändern können. Es ist eine der Bastionen meines Gatten. Er liebt es, seine dienstbaren Geister in Blau durch die Flure schweben zu sehen. Und in kleinen Dingen ist es immer ratsam, ein wenig Kooperationsbereitschaft zu zeigen. Zumal er sich im Augenblick auf den Verkauf des Hauses versteift hat und ich nicht gewillt bin, ihm in diesem Punkt nachzugeben.“
Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. „Sie brauchen sich demnach nicht um Ihren Arbeitsplatz zu sorgen, meine Liebe. Dieses Haus ist seit Generationen in meiner Familie und ich werde es nicht aus einer Laune heraus aufgeben.“
Sie gab einen Tropfen ihres bevorzugen Duftes auf ihr Handgelenk. Ein zarter Duft nach Ambra und Sandelholz erfüllte den Raum, während ihre Gedanken weiter wanderten: „Es ist wirklich seltsam, dass Fabienne nach so vielen Jahren auf Jahren auf die Idee gekommen ist, mich zu sich einzuladen. Was mag nur in sie gefahren sein? Wir haben uns im Grunde auch nie verstanden, die übliche Geschwisterrivalität vermutlich. Dazu kommt, dass ihr jedes Gefühl für die Realität abgeht. Erst heiratet sie diesen Betrüger, lässt es zu, dass er sich mit ihrem Geld davonmacht, und zeigt sich schließlich noch nicht einmal dankbar, dass ich ihren guten Ruf wieder hergestellt habe. Billig kam es mich nicht, das hat sie sich vielleicht ausgerechnet. Kein Wunder, dass ich so lange keinen Ton mehr von ihr gehört habe. Und nun diese Einladung gleich über das Wochenende. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig verwundert und nicht gerade erfreut bin.“ Sie hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln.
„Nun denn, ab Montag wird alles wieder seinen normalen Gang gehen. Erholen Sie sich gut, mein Kind, wir sehen uns dann in der nächsten Woche wieder.“
Das war das Zeichen für Camilla, dass ihre Tätigkeit beendet war. Sie verabschiedete sich, glücklich über ein paar unerwartete Stunden Freizeit. An der Gartenpforte traf sie Herrn Ludowik, der ihr an diesem Tag ein wenig lebendiger erschien als üblich.
„Vermutlich ist es die Sonne, die nach einigen Regentagen endlich wieder hervorgekommen ist und trotz der Kälte vergeblich versucht, den Frühling einzuläuten“, dachte Camilla bei sich.
Anton grüßte sie mit einem Kopfnicken und eilte die wenigen Stufen zur Haustüre empor. Daran, dass die Angestellten das Haus je nach Laune seiner Frau zu unterschiedlichen Zeiten verlassen durften, hatte er sich längst gewöhnt. Ohne einen Blick zurück zu werfen, schloss er die Tür hinter sich und entließ damit Camilla ebenfalls in ihr Wochenende.
Es waren zwei schöne Tage. Camilla entsann sich sogar der Unterhaltung mit Frau Ludowik, als sie bei einem Bummel durch die Einkaufsmeile in einem Schaufenster einen Schal in einem matten Orange entdeckte. „Vielleicht nach der nächsten Gehaltsauszahlung“, nahm sie sich vor, nicht ohne sich zu fragen, was ihre Chefin wohl am Montag über ihre Schwester zu berichten habe. „Vielleicht feiern die beiden ja doch ein glückliches Wiedersehen“, so spekulierte sie in den Abend hinein, aber entschied sich schließlich für den Rest ihrer freien Zeit jeden Gedanken an die Ludowiks zu verbannen.
Am Montag Morgen erschien, ein äußerst ungewohnter Anblick, Anton Ludowik in der Küche, während Camilla gerade dabei war, der Köchin beim Anrichten des Frühstückes zu helfen.
„Meine Frau frühstückt heute außerhalb“, sagte er. „Es tut mir sehr leid, dass Sie sich bereits bemüht haben. Ich habe nicht daran gedacht.“
Camilla kam es vor, als wirke er ein wenig zerfahren. Die Frisur, die für gewöhnlich perfekt saß, war eine Spur verrutscht und verriet, dass einige kahle Stellen mit Hilfe eines Toupets korrigiert wurden. Auch die Augen irrten unruhig umher, wobei er von einem Bein auf das andere trat.
„Fahren Sie bitte mit Ihrer Arbeit fort wie gewohnt“, murmelte er schließlich, drehte sich abrupt um und verschwand.
„Na, der hatte wohl ein anstrengendes Wochenende mit zwei Frauen von diesem Schlag“, meinte die Köchin und goss sich den Kaffee aus dem beinahe durchsichtig wirkenden Porzellankännchen von Frances Ludowiks Tablett in ihre umfangreiche Frühstückstasse.
Camilla erledigte ihre Arbeit wie an jedem Tag der Woche. Sie vermisste ein wenig die Unterhaltung, aber andererseits freute sie sich, dass ihre Arbeitgeberin anscheinend eine schöne Zeit hatte.
Als sie jedoch am späten Nachmittag noch immer noch eingetroffen war, beschloss sie, Herrn Ludowik aufzusuchen, der beinahe den ganzen Tag zu Hause mit dem Sortieren wichtiger Papiere verbracht hatte.
Er sah verwirrt hoch, wobei seine schmale Brille auf die Nasenspitze glitt. Nervös versuchte er, sie zurecht zu rücken, aber es war, als wollte sie ihren angestammten Platz nicht mehr einnehmen.
„Hm, sie kommt heute Abend. Fabienne wird sie bringen.“
„Die beiden verstehen sich ausgezeichnet“, setzte er noch hinzu. „Wundern Sie sich nicht, wenn sie morgen wieder den ganzen Tag beisammen sind. Einkaufen und was Frauen so gerne tun.“
„Ich verstehe“, sagte Camilla.“Dann richten Sie ihr doch bitte meine Grüße aus.“
Aber Herr Ludowik war wohl zu vertieft in seine Akten, um sie noch hören zu können und Camilla rätselte einen Moment, ob sie sich seiner Ansicht nach eventuell mit ihrer Bitte zu viel herausgenommen hatte.
Am folgenden Tag schien die Stimmung im Hause auf eine beklemmende Wiese ähnlich eigenartig. Frau Ludowik war ungewöhnlich früh zu ihrer Schwester aufgebrochen, so erwähnte es ihr Mann wiederholt, bevor er sich zurückzog.
Dennoch waren über all die Spurenihrer Anwesenheit bemerkbar. Ein schwacher Duft ihres Parfums durchzog die Räume, das Bett und Fahrstühle waren benutzt, der Rollstuhl verschwunden und gebrauchte Kleidung durch den Wäschetunnel in ihrem Schlafzimmer in die Wäscherei-Räume des Kellers gelangt.
Bei Auswechseln der Lavendelkissen in den Kleiderschränken fiel Camilla auf, dass eines der neueren Kostüme fehlte. Ihr Blick wanderte durch das Zimmer und fiel auf den Frisiertisch, der in Höhe und Form exakt den Bedürfnissen einer Rollstuhlfahrerin angepasst war. Es wunderte sie nicht, auf dem Regal unter dem Spiegel einen einsamen Lippenstift zu entdecken. Ihre Chefin war es gewohnt, bei jedem ihrer kleinen Ausflüge einen neuen zu erwerben. Diesen pflegte sie kurze Zeit zu benutzen, um ihn dann zu den anderen in die unterste Schublade zu verbannen und reumütig zu ihrer gewohnten Marke zurückzukehren.
„Nur ein harmloser Zeitvertreib“, so hatte Frau Ludowik diese Angewohnheit einmal genannt. „Ein weiterer Schritt bei dem immerwährenden Versuch, den perfekten Farbton zu finden. Ich habe die Farbe bereits im Kopf, aber keine Kosmetikfirma der Welt ist fähig, sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Es müsste eine Mischung aus Goldbraun und beige sein, aber matt und mit einem deutlich rötlichen Unterton, so wie helles Herbstlaub an einem dämmrigen Tag. Nach so einer Farbe suche ich.“ Bei diesen Worten flog jedes Mal wiederein Ausdruck über ihr Gesicht, der am ehesten dem eines Kindes ähnelte, das sich auf einen Lutscher freute. „Es macht einfach Freude, immer wieder auf Entdeckung zu gehen. Eine Art letztes Abenteuer“, so fügte sie manchmal mit leiser Wehmut hinzu.
Camilla näherte sich dem Spiegel und betrachtete den Stift. Er stand offen, wie immer, wenn er neu war, da sich Frau Ludowik gerne an der neuen Farbe erfreute. Sie nahm ihn in die Hand und fühlte die kühle Glätte des verchromten Metallstiftes. Als sie ihn zuschraubte, spiegelte sich ihr Gesicht verzerrt in dem glänzenden Silber.
Und mit einem Mal war ihr klar, was sie zu tun hatte.
Mit entschlossenen Schritten trat sie, ohne anzuklopfen, in das Arbeitszimmer.
Herr Ludowik fuhr zusammen, als sie die Tür geräuschvoll hinter sich schloss.
„Es tut mir sehr leid Sie stören zu müssen, Herr Ludowik, aber es handelt sich um eine Art Notfall.“
„Was gibt es denn?“, fragte der Angesprochene, sichtlich ungehalten.
Camilla schlug die Augen nieder.
„Mein Großvater ist schwer erkrankt. Er hat außer mir niemanden mehr, der sich um ihn kümmern kann. Ich muss Sie daher bitten, mir ein paar Tage freizugeben. Und wenn Ihre Gattin ohnehin seltener hier ist …“
„Oh ja, sicher, sicher“, beeilte sich Herr Ludowik. „Natürlich können Sie gehen, wenn Not am Mann ist. Meine Frau hat gewiss keine Einwände. Gehen Sie nur und sorgen Sie für Ihre Familie.“
Nach und nach wurde er richtig aufgeregt. Eine merkwürdige Erleichterung schien sich seiner zu bemächtigen, als ob eine Sorge weniger sein Haupt niederdrückte.
„Die Familie ist und bleibt das Wichtigste. Bleiben Sie nur fort, solange es nötig ist.“
Camilla bedankte sich, holte ihre Tasche und lief, ohne sich umzuziehen, zur Tür hinaus, durch den Garten, die Pforte und die Straße entlang bis zur Bushaltestelle.
Eine Ewigkeit später, so kam es ihr vor, stand sie vor dem großen, grauen Gebäude, das sie bis jetzt immer nur von weitem und dazu noch gemütlich in einen Fensterplatz gekuschelt, betrachtet hatte.
Zögernd trat sie ein. Die Größe der Räume und die zahllosen Uniformierten schüchterten sie derartig ein, dass sie etwas verloren stehenblieb, bis ein freundlicher junger Mann ihr zur Hilfe eilte.
„Wo möchten Sie denn hin?“ Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“ Er lächelte sie zuversichtlich an.
„Eigentlich wollte ich in das Polizeipräsidium, aber ich glaube, dass ich mich hier nicht zurechtfinde.“
„Worum geht es denn bei Ihrem Problem?“
Camilla schluckte unsicher. „Ich glaube, dass jemand verschwunden ist oder noch Schlimmeres.“
Ein paar Tage später wurde Camilla erneut in das Präsidium bestellt. Der ältere Kriminalbeamte, der ihr Protokoll aufgenommen und dabei reichlich skeptisch ausgesehen hatte, begrüßte sie ausnehmend freundlich.
„Kommen Sie nur herein, wir würden Sie gerne auf einen Kaffee einladen, denn Sie haben uns eine Menge Arbeit erspart. Dafür müssen wir uns bei Ihnen bedanken.“
„Und außerdem“, warf sein junger Kollege ein, „brennen wir darauf zu erfahren, wie Sie darauf gekommen sind. Es muss Ihnen doch etwas aufgefallen sein, da Sie dem Gaunerpärchen so zeitig auf die Schliche kamen.“
Camilla nahm zögernd ein Glas Orangensaft entgegen und verzichtete dankend auf den abgestanden duftenden Kaffee.
„Es war schon vorher alles ein bisschen seltsam, aber als mir der Lippenstift auffiel, wusste ich, dass Frau Ludowik nicht zurückkommen würde, geschweige denn, dass sie überhaupt da gewesen war.“
Sie musste lächeln, als ihr die fragenden Gesichter der Beamten auffielen.
„Die meisten Männer kennen sich nicht besonders aus mit Farben und Nuancen. Sicher gibt es Ausnahmen, aber Herr Ludowik ist keine. Er dachte, wenn er einen Lippenstift in einem beigefarbenen Ton kauft, kommt er dem Geschmack seiner Frau am nächsten. Dazu hätte er allerdings wissen müssen, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen warmen und kühlen Beigetönen gibt. Und eine Farbe wie Metallic Beige-Rose hätte seine Frau sich niemals auf ihren Schminktisch gestellt. Sie war überzeugt davon, dass ein Herbsttyp wie sie nichts außer warmen, erdigen Farben tragen dürfte. Alles andere wäre eine Beleidigung für das Auge und würde außerdem zu ihrem Innern in Missklang stehen.“
Gedankenverloren nippte sie an ihrem Glas. „Naturhaarfarben, Schnitt und Stoff der Kleidung, Parfum mit orientalischer Note, alles musste für sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sein. Ein kühler, metallischer Farbton, noch dazu in einem silbernen Stift? Mir war klar, dass sie ihn nie gewählt hätte. Etwas musste passiert sein, und so wie ihr Mann sich benahm, war es etwas Endgültiges.“
Auf einmal sah sie sehr traurig aus.
„Ich glaube, dass ich lieber nicht wissen möchte, was sie mit ihr gemacht haben.“
Die Kriminalbeamten schwiegen etwas betreten. Dann unterbrach einer der Älteren die Stille.
„Sie ist sicher friedlich eingeschlafen, wenn man das unter diesen Umständen und bei dieser Menge Schlaftabletten so sagen kann. Ihre Schwester und ihr Mann haben dafür gesorgt, dass sie nicht leiden musste.“
„Auf jeden Fall kamen wir wirklich im allerletzten Augenblick. Die beiden hatten bereits alles für den Verkauf der Aktien und des Hauses in die Wege geleitet. Fabienne Ludowik konnten wir gerade noch am Flugplatz aufspüren, in ihrer Reisetasche zwei Tickets nach Bolivien.
Und dem guten Anton war seine Kleinlichkeit zum Verhängnis geworden. Anstatt das Geschäft so schnell wie möglich klar zu machen, verhandelte er derartig umständlich, dass es den Bankbeamten wohl auch ohne unsere Hilfe bald eingefallen wäre, die Unterschriften seiner Frau einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
Eine Weile hat er noch alles geleugnet, aber bei dem Gespräch mit unserem Polizeipsychologen ist er dann schließlich zusammengebrochen und hat alles gestanden. Anscheinend war Fabienne Ludowik schon lange die treibende Kraft und er, gewohnt sich einer stärkeren Frau unterzuordnen, setzte ihren Plan in die Tag um.“
Der junge Mann lächelte Camilla an. „Bei Ihrer guten Beobachtungsgabe schlage ich einen Berufswechsel vor. Wie wäre es mit unserer Branche?“
Camilla schüttelte den Kopf. „Das wäre viel zu deprimierend für mich. Den ganzen Tag nur von Tod und Leid und Schlechtigkeit zu hören, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wünsche mir eher, dass sich die Menschen freuen, wenn ich zu ihnen komme.“
Sie sagte in diesem Augenblick nicht, was ihr durch den Kopf ging, aber ein Gedanke hatte sich dort eingenistet, ein Gedanke, den sie auch auf dem Nachhauseweg nicht mehr los wurde. Plötzlich stand sie wieder vor dem Haus, in dem sich gerade erst so Vieles abgespielt hatte. Camilla schauderte ein wenig, aber sie konnte nicht anders, sie musste es betreten.
Still war es, so still, wie es wohl noch nie darin gewesen war. Aber noch etwas hatte sich verändert. Es war eine friedliche Ruhe. Der Druck, der jahrelang auf dem Haus und seinen Bewohnern gelastet hatte, war nun verschwunden. Camilla lehnte sich an eine Wand und spürte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. Sie trauerte um Frau Ludowik, um ihren Mann und um ihrer beider Leben, das sie sich gegenseitig zur Hölle gemacht hatten.
Auf einmal erklangen Schritte. Die Köchin stampfte atemlos herein, im Schlepptau den alten, steifbeinigen Gärtner.
„Camilla“, rief sie. „Stell dir nur vor. Wir sollen alle hierbleiben und sofort mit der Arbeit beginnen. Die alte Ludowik wollte es so. In ihrem Testament hat sie bestimmt, dass dieses Haus ein Zentrum für Schlaganfall - Patienten wird. Und wir alle sollen es weiterführen und den Leuten helfen, die dasselbe Schicksal erlitten haben wie sie. Was sagst du dazu?“
Sie stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich vor. „Ich sag’s euch im Vertrauen. Die hat doch über alles genau Bescheid gewusst. Nur so konnte sie sicher sein, dass der alte Anton keinen Krümel von dem Vermögen zu Gesicht bekommt.“
Ein kräftiges Nicken unterstützte ihre lautstark vorkündete Meinung.
Camilla betrachtete die mollige Gestalt, die nun voller Tatendrang durch die Räume fegte und mit ihrem Eifer jeden ansteckte, sogar betagte Gärner mit steifen Beinen, und sie musste unter Tränen lächeln.
„Ja“, dachte sie bei sich. „So ergibt es doch alles einen Sinn.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen