Titel: Die Stadt
Autor: callisto24
* * *
Hin und wieder ruft er an. Er meldet sich aus einem anderen Land, aus einer anderen Stadt. Und Karina ist nicht sicher, was sie davon halten soll.
Wenn er anruft, muss sie daran denken, und Karina weiß nicht, ob sie das will. Sie denkt an ihre Stadt zur Weihnachtszeit.
Die Anonymität der Großstadt hat sie schon immer geliebt. Für jemanden, der sich in seiner eigenen Haut so unwohl fühlt, wie Karina es gewohnt war, bietet sie eine willkommene Abwechslung zu den verschiedenen Vororten, in denen sie aufwuchs.
Schon immer war es ausgesprochen angenehm, sich in der Menge vorbeieilender, mehr oder weniger geschäftiger Menschenmassen, zu verlieren. Und mehr noch: auch zu wissen, dass sie darin verloren bliebe. Anders als in den Straßen ihres Wohnortes lief sie hier kaum Gefahr erkannt zu werden. Oder schlimmer noch, in ein Gespräch verwickelt, das sich später Stunde um Stunde in ihrem Kopf herumwälzte und sie um ihren Schlaf brachte.
Zumindest fühlte Karina sich frei genug, ihrer Einbildung, dass ihr in dem steten Trubel nichts geschehen konnte, freien Lauf zu lassen. Nichts geschähe hier, was ihr empfindliches, seelisches Gleichgewicht durcheinanderbrächte. Und diese Sicherheit wog schwer und dies in positiver Hinsicht. Bis die falsche Sicherheit von der Realität erschüttert wurde.
Schon in jungen Jahren hatte Karina festgestellt, dass es ihr half, sich bis zu einem gewissen Grade den Segnungen und dem Trost des Alkohols zu ergeben, und sei es auch nur um die Illusion freiwillig gesuchter Anonymität aufrecht zu erhalten. Und wo sollte dies einfacher gelingen, als in der Stadt, die wie keine andere für den Konsum von Bier und Schnaps stand.
Die Großstadt interessierte sich nicht dafür, wenn ihr Gang ein wenig unsicher, wenn ihre Aussprache verschleppt wurde oder ihr Gesicht ein breites und sinnloses Grinsen aufwies.
Doch Karina interessierte sich dafür. Eigentlich war es zu dieser Zeit das Einzige, was sie überhaupt noch interessierte. Die wenigen Momente des Glücks auszukosten, die sich ihr boten, erkor sie zu Sinn und Zweck des eigenen Lebens, nachdem Träume, Ideale und Vorstellungen schon vor langer Zeit gestorben waren. Sie unglücklich zu nennen wäre übertrieben. Aber das Glück zu suchen, wie sie es tat, war es ebenfalls. Selbstzerstörerisch könnte als Adjektiv zutreffen, dämlich ebenfalls.
Karina konnte an wenigen Finger abzählen, welche Gründe sie am Leben hielten. Ein Sport, den sie bereits seit ihrer Pubertät ausübte. Die Anzahl der Finger reduzierte sich von Zeit zu Zeit, doch wenigstens ein kleines Exemplar ließ sich mit mehr oder weniger viel Anstrengung ausfindig machen.
Zeitweise, und nicht zuletzt aufgrund der Essstörung, die Karina in geringerer oder größerer Ausprägung mit sich herumschleppte, handelte es sich bei dem Grund, weshalb sie es vorzog, dem Leben noch eine Chance zu geben, manchmal lediglich um ein Stück zartschmelzende Schokolade. Dieses konnte ihr vor Augen schweben, ebenso wie der Riesenbrezel, den die Zeit der Kirmes ihr bot oder ein Berg von Krapfen, der im Rahmen des bunten Treibens des Faschings an den verschiedenen Ständen und Ecken der Fußgängerzogen aufgebaut wurde. Die Stadt wusste schon immer, wie gefeiert wurde.
Und wie so viele in Karinas Lage wechselten sich die Phasen der Magersucht mit den Phasen des Alkoholismus lustig ab.
In diesem Jahr war es der Alkoholismus, der Triebe ausschlug. Und wann oder wo war dieser schöner zu genießen, als während der stillen Zeit, der Adventszeit. Weihnachten in der Stadt war für Karina stets, ob nüchtern oder betrunken, ein Erlebnis. Ihre Elsternatur fühlte sich magisch angezogen von dem Glitzer, dem Leuchten und dem Gold, das die Stadt verströmte. Straßen und Gassen schmückten sich wie zu keiner anderen Jahreszeit mit Glanz und Glorie, und Karina konnte Stunden und Tage damit zubringen, ihren liebsten Christkindlmarkt zu durchstreifen. Oder von Bude zu Bude zu schwanken, und das letzte Geld in die duftenden Getränke zu investieren, die in ihrem Flair von Zimt und Nelken das Versprechen von Gemütlichkeit und einem Heim in sich tragen.
Weihnachten am Hauptplatz war immer etwas Besonderes. Das konnte Karina nie jemand ausreden. Da mochten Freunde und Verwandte kritisieren, wie kommerziell der Markt strukturiert war, wie eintönig und gleichmäßig Jahr für Jahr die Abläufe heruntergebetet wurden. Für Karina jedoch verströmte exakt dieser so offen verschmähte Ort offener Zuschaustellung der Freude am lebendigen Konsum einen unvergleichlichen Zauber, der sie Jahr für Jahr wieder in ihren Bann zog. Ja, auf den sie sich bereits lange vor Beginn der kühlen Jahreszeit in geradezu übermäßigem Ausmaße freute.
Die Krone des Vergnügens bildete der riesige Baum vor dem Rathaus, dicht bestückt mit funkelnden Glühbirnchen, die je nach Stand des Alkoholpegels mehr oder minder munter flackerten.
Karina stand nicht selten neben der Säule im Zentrum des Platzes und vergaß alles um sich herum mit dem Anblick der tausenden von Sternen im grünen Nadelbett. Sie liebte diesen Baum, unabhängig davon, welch großzügige Gemeinde ihn stiftete, unabhängig davon, welche Höhe, Breite oder mitgebrachten Glühweine er mitbrachte. Sie liebte es, an ihm vorbeizulaufen, sich unter dem hohen gotischen Eingang in den Rathaushof hindurch zu ducken, die Vorstellung zu leben, sie befände sich inmitten einer Festung aus alter Zeit. Der Innenhof war ihr stets im Lichte und Klang der Festivitäten vergleichbar mit einer Burg, geheimnisvoll, dunkel, erhaben und schön. Und wenn sie diesem ruhigen Ort der eingebildeten Minne und Ritterspiele wieder entfloh, dann fand sie sich umgeben von Licht und Musik, dem Treiben des Christkindlmarktes, den Düften der Leckereien, die es nur zu dieser einen Zeit des Jahres geben durfte. Die nur zu dieser einen Zeit des Jahres genossen wurden.
Natürlich wurde es von Jahr zu Jahr auch schwieriger, diesen Zauber für sich wieder neu zu kreieren. Karina wurde älter, sie lernte, sie sah, und die Unschuld der Kindheit, sofern sie je eine gekannt hatte, verschwand. Aber Karina war immer schon verstockt. Sie gab nicht auf. Der Zauber der Weihnacht stellte den Höhepunkt ihres Jahres, den Gipfel ihrer Wünsche. Selbst wenn sie sich darum bemühen, darum kämpfen musste. Selbst wenn sie ihn vernachlässigte, um ihn stärker zu erleben. Selbst wenn sie sich dazu zwingen musste, in der Zeit zurückzuwandern.
Ablenkung half. Und Ablenkung erreichte sie in der Konzentration auf ein Leben außerhalb des Eigenen. Und wo ließ sich dieses Leben einfacher erfahren, als aus dem weichen Sessel eines Kinos aus. Karina liebte den Augenblick wenn der Vorhang sich öffnete, wenn die zuvor dunkle Leinwand aufleuchtete und einer neuen Welt Raum verlieh. Und die Vielfalt der Stadt erlaubte es ihr durch die Paläste zu tingeln, ohne dass sie sich zu oft in ein und demselben Ort wiederfand. Sicher kein unpraktischer Umstand, benutzte Karina doch das Kino vorzugsweise um sich im Schutze der Dunkelheit und im Rahmen der Gefühle, die ein Film auf Großleinwand auslösen konnte, restlos zu betrinken.
Auch zur Weihnachtszeit. Und gerade zur Weihnachtszeit, die ihren Zauber nicht verlieren durfte. Karina wusste sehr gut, dass sie diesen nur mit dem Einbruch der Dunkelheit fand, dass der Tag vergehen musste, die Belohnung verdient, bevor der Weihnachtsklang ertönte.
Vielleicht war es gut, dass sie eine hochprozentige Hilfe gewählt hatte, die ihr über die Zeit half. Vielleicht war es gut, dass der Film, erstaunlich uninteressant, eine Leere in ihr erzeugte, die tiefer ging, als die Sehnsucht nach der Wiederkehr weihnachtlicher Märchengefilde.
Wie es ihr Plan gewesen war, taumelte sie mit Hilfe des städtischen U-Bahn-Netzes Schritt für Schritt auf den Markt ihrer Sehnsüchte zu. Nur um sich angekommen, mit Bedacht und Genuss den Glühwein mit Schuss zu gönnen, den ihr verwirrter Verstand bereits seit geraumer Zeit nicht mehr nötig hatte.
Oh ja, Karinas Verstand umnebelten mehr Nebel als gut für sie war.
Doch nicht genug, als dass ihr die Gruppe junger Männer nicht aufgefallen wäre, die sich um den Tisch eines Standes sammelten. Sie sah sie an, ohne etwas zu sehen. Und ihr Gehirn, das überaus langsam zu arbeiten pflegte, registrierte zwei Dinge. Ihre eigene Einsamkeit, und die Tatsache, dass es sich um hübsche Exemplare exotischer Herkunft handelte. Sie lächelte. Sie lächelte wieder. Sie trank und ging. Sie verschwamm im Anblick des glitzerenden Baumes. Sie blinzelte gegen die funkelnden Lichter, den grellen Schein der Stände.
Bis er sie einholte. Und sie mitnahm.
Letztendlich war es das Beste, was ihr je passiert war. Nicht die Schwierigkeiten, die sich mit der Schwangerschaft, der Infektion, dem Leben mit einem Kind ergaben, dem sie kaum Mutter, geschweige denn Vorbild sein konnte.
Sondern auch weil sie feststellte, endlich feststellte, dass diese Stadt, ihre Stadt mehr war, als die glänzende Oberfläche der Verkaufswelten.
Die Stadt war Hilfe und Beistand. Und als sie die Hilfe fand, die sie suchte, als sie zuließ, dass er von ihrem Zustand erfuhr, als sie herausfand, dass er auf der Flucht war, da änderte sich ihr Leben in einem Ausmaße, das ihr zuvor undenkbar erschienen wäre.
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