Samstag, 19. Dezember 2009

Stein

Titel: Stein
Autor: callisto24

* * *

Konstanze und ihr Traum


Die Landschaft wirkte schön. Obwohl man sie eigentlich kaum eine Landschaft nennen konnte. Zu künstlich, zu verbaut war die Gegend, eine gigantische Fläche voller Gebäude, gestutzter Bäume, Hecken und Zierpflanzen. Gerade Straßen wechselten mit gepflegten Gehwegen. Breite Pfade, perfekt gemähte Wiesen, Mauern, Häuser, die einen Begriff schrien: Universitätsgelände. Und zwar eines der Gelände, die sich in den besseren Teilen der Stadt befanden, vielleicht des gesamten Landes. Kein Wunder also, fühlte sie sich ein wenig fehl am Platze. Doch so war es nicht. Ob es daran lag, dass sich bei genauerer Betrachtung insbesondere des Inneren der Gebäude, zunehmend Fehler im Gesamteindruck einschlichen? Vielleicht wirkten die Häuserfronten von außen teuer und elegant, doch im Inneren der Mauern erkannte man nur allzu schnell das historische Erbe, das seinen Tribut forderte. Übertünchte Risse in den Wänden blieben die deutlichsten Anzeichen. Die unmodern hohen Decken, die altmodisch ausgetretenen Steintreppen mit ihren kunstvoll verzierten, wenn auch deutlich abgenutzten Geländern, erzählten von vergangenen Jahrzehnten, von der Geschichte, die in dem altehrwürdigen Fundament mitschwang.
Beim Eintritt atmeten wir weniger Komfort denn Wissen. Das Wissen, das in diesen Mauern wohnte, was gelehrt wurde, und um welches aufzunehmen, wir uns hier befanden. Welches aufzunehmen wir unsere Quartiere bezogen. Wie in der guten, alten Zeit, wie es sein sollte, wenn die Notwendigkeit bestand, das Elternhaus, das alte, vergangene Leben hinter sich zu lassen, um Neues zu suchen und zu finden. Und so lebten wir in den Räumen des einen Gebäudes, während wir täglich aufbrachen, um die weiten Wege zu beschreiten, die zwischen hohen Mauern hindurch zu stets unterschiedlichen Zielen führten.
Eigentlich wusste Konstanze nicht, warum sie sich hier befand. Sie konnte sich nicht erinnern, eine Entscheidung getroffen haben, schon gar keine, die sie zu diesen Konsequenzen führte. Obwohl sie nicht unbedingt unzufrieden war, und dies zu ihrem eigenen Erstaunen. Denn war ihr doch lange Zeit zumindest klar gewesen, dass sie mit dem Prinzip der Weiterbildung, ja des Lernens als solches, nichts mehr anzufangen wusste. Doch offenbar hatte sich dieser Zustand buchstäblich über Nacht geändert und sie stand der Bildung und insbesondere ihrer persönlichen Weiterbildung nicht mehr so negativ gegenüber, wie sie es gewohnt gewesen war.
Die Regeln lagen klar auf der Hand. Das gesamte Szenario wirkte nicht viel anders als Schule, als der trockene Ablauf schematischer und längst in Stein geschlagener Stunden- und Tagespläne. Und doch fühlte sie sich nicht vollkommen unwohl. Das zunehmende Alter schenkt den Umständen eine gewisse Lässigkeit, der man sich nicht entziehen, die zur Freude gereichen, oder wenigstens das Leben erleichtern kann, räumt man ihr nicht zu viel Macht ein. Was sie nicht tat, niemals getan hatte. Sie war immer äußerst pflichtbewusst zu Werke gegangen, hatte sich nicht irritieren lassen von Kleinigkeiten oder Ablenkungen. Ihrer Wirkung auf andere war sie sich immerzu gerade schmerzhaft bewusst gewesen. Dies folgt automatisch der Gewohnheit, sich permanent in fremde Köpfe hineinzudenken, so unangenehm, schmerzhaft und erniedrigend eine Erfahrung wie diese auch sein mochte.
Und so wunderte es Konstanze auch nicht, in dieser speziellen Situation dem Gefühl nicht entgehen zu können, als eine Musterschülerin und ein braves Mädchen in die Annalen der Ausbildungsstätte einzugehen.
Bis zu diesem besonderen Vorfall. Und dieser stellt sich in mehr als einer Hinsicht als merkwürdig heraus. Hatte Konstanze doch, nach bestem Wissen und Gewissen, in ihrem ganzen Leben noch niemals einen dieser Träume durchlebt. Nie zuvor träumte sie eine derart bekannte, klischeebeladene Situation, die vermutlich Therapeuten und Analytiker über die Welt verteilt, erfreut.
Nein, ihre Träume blieben immer hart am Rahmen der Realität. Meist verlor sie etwas, suchte, und fand es nicht. Niemals träumte sie sich in die klassische Situation des Fliegens oder vergleichbarer elementarer Freiheitserlebnisse. Und niemals träumte sie, dass sie gar nackt vor einer Klasse stünde. Wieso sollte sie auch? Eine Situation wie diese war nicht einmal denkbar, bei aller Fantasie, die sie sich zuschrieb, nicht vorstellbar. Nicht in diesem Leben. Konstanze verschwendete ihre Zeit nicht mit Gedanken über Nacktheit. Es läge ihr fern, ihren Körper auch nur annähernd unbekleidet zu präsentieren. Ganz im Gegenteil. Sogar beim Schwimmen, trug sie mehrere Schichten an schützenden Stoffen. Von Bademänteln über alles verhüllenden T-Shirts war ihr nichts zu unangenehm oder zu unbequem um eine vielleicht unangebrachte Blöße zu verdecken.
Umso erstaunlicher, dass sie sich mit einem Mal nackt unter Menschen befand. Wenngleich diese Nacktheit einen Sinn in sich trug. Denn alles in allem war sie ein rationaler Mensch. Sie tat nichts, ohne einen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund anführen zu können. Und schon gar nicht käme sie auf die Idee, etwas derart Verrücktes zu unternehmen.
Warum tat sie es also? Ganz einfach, weil es eben nicht verrückt war. Es war sogar ganz logisch. Und woran lag das wohl? Genau: am Stundenplan. Besser gesagt am Fach des Schwimmens, das eingeflochten und als sinnvoll bewertet wurde. Und es lag ja auch nahe. Auf einem riesigen Gelände, wie diesem, durfte es selbstverständlich weder an Schwimmlehrer noch an Schwimmbädern fehlen. Und obwohl Sport niemals zu Konstanzes Lieblingsfächern oder zu einer Betätigung gehörte, die sie freiwillig ausübte, so war sie doch bereit und willens, den ausgeschriebenen Pflichten Folge zu leisten.
Ebenso wie Konstanze den Plänen eifrig nachkam, die für uns notiert und vorgeschrieben wurden. Ebenso wie sie den anderen folgte, ihren Kolleginnen und Kollegen, die stets besser wussten als sie, wo die entfernt liegenden Vorlesungsräume und Säle zu finden waren. Die den Zahlen und Nummern Aufmerksamkeit schenkten, die verzwickten Wege durch Gänge, hinauf und hinab der breiten Treppen, entlang der Streifen frischen Grüns am Rande der Wege, bereits kannten und ihrem Verlauf auch Sinn und Unsinn abgewinnen konnten. Konstanze dagegen tat sich nie leicht damit, den Weg zu finden, die richtige Strecke einzuschlagen, auf dem Pfad zu wandeln, der sie dorthin führte, wo sie sich tatsächlich aufhalten sollte. Also folgte sie stets jenen, die es besser wussten. Dennoch behielt sie ihren Kopf bei sich. Sie zog Schlussfolgerungen und handelte selbstständig. Und ganz im Ernst: es entbehrte doch wohl nicht einer gewissen Logik, wenn man darauf Rücksicht nahm, die persönliche Garderobe den Gegebenheiten anzupassen. Und so passte sie an. Konstanze registrierte und analysierte Sachlage und Stundenplan, und empfand es als günstig, die Stunde des Schwimmens in die Planung des Tages einzubeziehen.
Warum also sich der Mühe unterziehen, unter phänomenaler Anstrengung und Aufbietung von Geschmack und Stilbewusstsein Kleidung auszuwählen, die doch nur allzu schnell den Weg des Vergänglichen beschritte, sprich in einem unangenehmen Spind eingeschlossen werde. Klang es da nicht mehr als logisch, sich sofort und von Anfang an unbekleidet zu geben?
Natürlich blieb ein Rest-Geheimnis, und zwar entbehrte dem Fehlen jeglicher Bekleidung doch die eine oder andere Grundlage, und damit spreche ich auch von der spärlichsten und geringsten aller Bekleidungsmöglichkeiten, die dem Zwecke der Verhüllung des Allerprivatesten dienen und daher ihre beinahe ausschließliche Verwendung im Sinne der Ausübung des Schwimmsports fanden.
Wie dem auch sei, erschloss sich Konstanze anscheinend nicht umgehend, warum vollkommene Nacktheit sich nicht als angemessene Form der Erscheinung anbot. Und offensichtlich ging es ihren Leidensgenossen und Genossinnen nicht anders. Musste sie doch beobachten, dass jene durchaus der Kunst des Bekleidens mächtig waren, und sich ebenso wie an jedem anderen Tag angezogen hatten, ohne ein auffälliges Gebaren zur Schau zu stellen. Zu deren Verteidigung musste Konstanze jedoch anführen, dass sie ihrer doch ein wenig auffallenden Nacktheit keinerlei Beachtung schenkten, sie sich also weder unangenehmen Bemerkungen noch peinlich berührten Blicken ausgesetzt sah.
Letztendlich erwies sich das Irren von Gebäude zu Gebäude, treppauf, treppab, und die Hetze aus der Not geboren mit anderen Schritt zu halten, die sich leichter darin taten, die vorgeschriebenen Orte zu entdecken, als weitaus unangenehmer, als die bloße Tatsache ihrer Nacktheit.
Und ebenfalls als unangenehm bezeichnen konnte man die Tatsache, dass weder von einem Schwimmbad, noch von einem Schwimmlehrer und schon gar nicht von dem in Aussicht gestellten Schwimmunterricht im eigentlichen Sinne die Rede war.
Was tat Konstanze also in diesem Kreise elitärer Wissbegieriger, und wollte sie überhaupt unter ihnen sein?
Eine Frage, die sich nicht ohne weiteres und sicherlich auch nicht auf die Schnelle beantworten ließ. Und immer noch steckte sie fest in dieser Situation. Konstanze erinnerte sich an die Auswahl von Unterwäsche und dann doch das letztendliche Ablehnen derselben aus vielerlei und vor allem praktischen Gründen.
Davon abgesehen, dass ihre Unterwäsche nicht gerade zu den elegantesten gehörte, so erschien es ihr doch erneut als erheblich unpraktisch, sich der Mühe des An- und Ausziehens schlichtweg für nichts und wieder nichts zu unterziehen. Zudem glaubte sie immer noch fest daran, sich kurz vor dem Abstiege ins Bade zu befinden, der die Nacktheit letztlich notwendig machte. Doch stattdessen irrte sie Gänge entlang, lief von Zimmer zu Zimmer, fühlte Blicke auf sich, die doch langsam aber sicher den Wunsch in ihr weckten, sie hätte sich doch für die eigentlich nicht vorzeigbare Wäsche als minimalem Schutz entschieden. Doch es sollte nicht sein, und so tappte Konstanze barfuß von Gebäude zu Gebäude. Sie erklomm Höhen, fand sich wieder auf Emporen, die mir Aussicht gewährten auf eine Vielzahl fleißiger Schüler und Studenten, die – und ihre Verwunderung darüber bestand eisern, es vorzogen, ihren Unterricht bekleidet aufzusuchen.
Was war zu tun? Selbst in ihrem verwirrten und vielleicht doch noch am ehesten als traumwandlerisch zu bezeichnenden Zustand, sprang ihr langsam aber sicher das Unangenehme ihrer Lage ins Auge. Nicht nur, dass es sich ausgesprochen unvorteilhaft anfühlt, den verschiedenen Sitzreihen sozusagen mit blanker Haut begegnen zu müssen, es ließ sich auch nicht mehr leugnen, dass ihr Gefühl für Scham, das, vermutlich begründet auf reinem Selbstschutz, bislang nicht vorhanden gewesen war, aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hervorkroch und schließlich Beachtung forderte. Wirkliche Beachtung. Ausreichende Beachtung, die Konstanze doch zwang, den Ernst der Lage zu erkennen. Und was ist zu tun, erkennt man erst den Ernst einer Lage? Man ist dazu verpflichtet, diese zu verändern, oder ihrer zu fliehen. Konstanze ihrerseits tat beides. Sie flüchtete. Und dies zu dem Zwecke ihre Blößen zu bedecken, zumal der Fall des Schwimmunterrichts sich nun doch ein für allemal erledigt hatte.
Selbstverständlich wollte sie nicht auffallen. Und so benahm sie sich nach besten Kräften so unauffällig wie nur möglich. Sie wanderte in einiger und im Laufe der Zeit zunehmender Entfernung hinter ihren Leidensgenossen her. Sie beobachtete diese, und die anderen beobachteten sie. Und sie erkannte ihre Chance.
Gut, der eine oder andere mochte sie entdeckt haben, als sie die breite Eingangstreppe in unüblicher Hast und so wie Gott sie schuf, hinab lief. Und doch war Konstanze längst darüber hinaus, sich Gedanken über einzelne Personen und deren Meinungen zu machen. Soweit hatte sie sich schon entwickelt. Und tatsächlich gelang es ihr, sicher wie im Schlaf, geleitet von unsichtbaren Engeln, ihren Weg wieder zu finden. Den Weg, der sie in ihren Schlafraum führte und zu der glücksverheißenden Möglichkeit, sich selbst mit Stoffen zu umhüllen. Niemand ahnt, wie angenehm dies sein kann, ging einem dieses Gefühl nicht irgendwann abhanden. So wie es Konstanze geschehen war. Und so wie ich sie von Ferne beobachten durfte.

Bühne

Titel: Bühne
Autor: callisto24
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Schauspiel



Wie auch immer, Konstanze fand sich wieder auf eben dem Gelände, über das sie zuvor noch nackt gelaufen war. Und doch in einer vollkommen anderen Situation und mit einem vollkommen und erstaunlich anderen Ziel vor Augen. Schule, Universität, die Ausbildung hatten ihre Bedeutung verloren. Wenn auch nicht vollkommen. Oh nein, an dem Haken der Kultur hing sie immer noch. Oder von Neuem. Vielleicht zum buchstäblich ersten Mal, zogen Konstanze doch bislang unerkannte Bänder in die Richtung eines Schauspiels, dem zu begegnen ihr wohl ansonsten niemals eingefallen wäre.
Wie bereits vordem erwähnt, zählte Konstanze zu den pflichtbewussten Charakteren. Und demzufolge sah sie es auch nicht ein, warum sie bereits gekaufte Karten verfallen lassen, bereits gefasste Pläne in den Wind schießen sollte. Noch dazu, wo es ihr aus Gründen der Unerklärlichkeit, doch vielleicht des ersten wirklichen Glücksfalles an diesem Tag, und erstaunlicherweise gelungen war, ganz recht, genau die Pause abzupassen, um ihr Umzugsgeschäft zu erledigen. Wie sie es allerdings schaffte, auch noch die Theateraufführung, auf die sie sich vorbereitet hatte, doch derer sie keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken bedacht gewesen war, in eben jene Pause hinein zu quetschen, blieb eine beachtliche Leistung, sollte sie denn gelingen. Und Konstanze hatte ernsthaft vor, sie gelingen zu lassen.
Und so durchquerte sie das bereits beschriebene und wunderschöne Gelände, was an sich nicht einfach war, sahen doch vielerlei Gebäude, Straßen und Plätze sich einfach zu ähnlich. Doch es gelang, und nach dem Überschreiten einer breiten und wohlbefahrenen Straße, entdeckte Konstanze das kleine Straßencafé, in welchem am Vormittag und zwischen Tür und Angel, ein viel beworbenes Stück aufgeführt wurde.
Zu ihrer eigenen Schande gestand Konstanze mir, dass sie sich an das Stück als solches nicht mehr erinnerte. Verschwamm doch der Rest der Ereignisse insgesamt in einem undurchsichtigen Nebel, vermutlich ausgelöst durch die Erschöpfung als Folge der anstrengenden und nervenzerreißenden ersten Stunden des Tages, wie geschildert – die der vollkommenen Nacktheit.
Zumindest war sie nun angezogen. Warum sie hin und wieder auch hier den Platz wechselte, warum sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie die Darsteller kannte, warum sie in der Pause der Pause, beziehungsweise in der Pause zwischen den Akten, nicht die Gelegenheit ergriff wie angeboten mit den Darstellern zu kommunizieren, blieb ein Rätsel. Ebenso wie die Frage, warum sie mit einem gesichtslosen Mann stattdessen eine uninteressante Unterhaltung auf einer Parkbank führte, wohl nie geklärt werden dürfte.
Fakt war, dass sie die zweite Hälfte des Stücks mindestens ebenso genoss, wie sie die erste Hälfte genossen hatte. Fakt war, dass ihre Kleiderauswahl sich als erstaunlich gelungen entpuppte. Und das für sie, die es gewohnt war, kaputte Jeans und T-Shirts zu tragen. Doch der schwingende Rock und die gestylten Haare, taten ihrem Selbstvertrauen gut, so gut, dass sie gehobener Stimmung und angeregt durch die soeben verabreichte Dosis an Kulturgut, den Rückweg anzutreten gedachte. Nur, dass dieses Vorhaben nicht so leicht in die Tat umzusetzen war, wie Konstanze es sich vorgestellt hatte. Denn die vielen Straßen, Wege und Grünflächen, die Gebäude, Denkmäler und befahrenen Autobahnen begannen ihr unbekannt zu erscheinen, je weiter sie lief. Sie verwirrten Konstanze zusehends, bis sie erkannte, dass sie einem Irrweg zu Opfer gefallen, die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Sie war gezwungen, den Weg zurückzugehen, sich zu beeilen, zu hetzen, die gefährliche Straße diesmal in ungewohnter Hast zu überqueren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Gedanken an Risiken. Alles sah gleich aus. Alles wirkte entsprechend licht, fröhlich und geordnet. Ein elegantes, vornehmes Ambiente. Eine gute Gegend, zu gut. Denn auch dieser Weg stimmte nicht.
Konstanze steuerte an dem offen dargelegten Luxus vorbei, bis sich die Bilder der Gebäude, die errichtet worden waren, um Wissen zu erlangen und zu verbreiten, aus ihrem Kopf mit denen vermischten, die ihre Augen vor sich erkennen konnten. Erleichterte Seufzer entströmten ihren Lippen. Froh war sie, den Pfad zurück entdeckt zu haben. Nicht froh allerdings, dass es spät war, zu spät. Ihr Plan war nicht aufgegangen. Die Pause, die hätte ausreichen sollen, die sie benutzen wollte, um ohne weitere Auffälligkeiten wieder in den Trott des Systems einzufallen, erwies sich als zu kurz. Als bei weitem zu kurz.
Konstanze verharrte vor verschlossenen Türen. Sie fühlte mich wieder wie ein Kind, ein Kind, das ausgesperrt ist, das nirgends zugehörig nicht weiß, wohin oder an wen es sich wenden kann. Konstanze war dieses Kind. Und doch war sie es nicht. Denn die Jahre hatten sich nicht spurlos über sie gedrängt, Konstanze langsam aber sicher in die Knie gezwungen. Sie wusste, dass Lösungen existierten und wusste, dass sie diese nur suchen musste.
Es gab Möglichkeiten, wie jene freche, mutige Idee, die Türen zu öffnen und den Raum zu betreten. Vielleicht eine Entschuldigung auf den Lippen, vielleicht ein Lächeln. Die Reaktionen auf das Zuspätkommen zu ertragen. Auch wenn es tatsächlich spät war, viel zu spät, wie sie dann letztendlich beschloss. Zu spät, eine zu starke Präsentation peinlicher Vorfälle, als dass sie diesen ins Gesicht sehen könnte. Konstanze war nicht in der Lage zu erklären, zu deuten, zu entschuldigen und vielleicht auch nicht in der Lage, die Meinung, das Urteil anderer zu ertragen. Der anderen, die sich in höheren Positionen befanden, als sie selbst. In weitaus Höheren.
Konstanze tat, was sie immer tat. Sie zog sich zurück. Die Lösung, die übrig blieb, erschien ebenso logisch, wie fragwürdig. Und doch, mit etwas Glück konnte sie klappen. Und mit größerem Glück merkte niemand welche Ausrutscher sie sich geleistet hatte. Vielleicht erkannten sie Konstanze nicht. Vielleicht waren sie ausreichend von sich selbst eingenommen, genug mit ihrem eigenen, erbärmlichen oder wahlweise hellauf strahlenden Leben beschäftigt, als dass sie ihr Beachtung schenkten. Einer traurigen, nutzlosen Figur wie ihr, die letztendlich nicht sicher war, was sie in einer Welt wie dieser zu suchen hatte. Und doch befand sie sich in dieser. Und es handelte sich nicht um die Schlechteste aller Welten.
Vielleicht war es möglich, die unangenehmen Folgen, den Beigeschmack der stetig von neuem begangenen Fehler herunterzuschlucken, und sich auf das zu konzentrieren, was hinter dem oberflächlichen Eindruck einer schmucken Hülle steckte. Vielleicht konnte man über den Verdacht hinwegsehen, dass jene Hülle doch nur eine künstliche Schale darstellte, die nichts bedeutete, keinen Einfluss ausübte, weder Schutz noch Wirkung bot, sondern lediglich die Leere überdeckte, die ihr innewohnte. Vielleicht gab es doch mehr. Und vielleicht war dieses Mehr es wert, sich darum zu bemühen. Vielleicht führten viele Wege zum Ziel, verspätet oder pünktlich. Vielleicht mussten peinliche Augenblicke durchlebt und erlitten werden. Vielleicht verlieh es uns Kraft, der eigenen Unzulänglichkeit ins Auge zu sehen, den Perfektionsanspruch fahren zu lassen, und nach der Wahrheit hinter all dem Schein zu suchen. Wie auch immer diese Wahrheit aussehen mochte.
Möglich, dass es sich lohnte, dass sie einfach versuchen sollte, sich während der Zwischenstunde, der kleinen Lücke zwischen den Zeiten, einen Weg zu bahnen. Sie konnte hineinschlüpfen, sich in das Innere drängen, vorgeben, sie wäre niemals fort gewesen. Und auf ihr Glück hoffen, auf die Dummheit der Menschen vertrauen. Auf deren Desinteresse bauen, dass es ihr vielleicht ermöglichte, einen Weg weiterzugehen, der ihr eigentlich bereits verbaut war. Ein Risiko? Ja.
Und bis zu einem gewissen Grade sogar unehrlich, verschlagen, nicht von der Reinheit und Ehrlichkeit geprägt, die zu erlangen, sie sich stets erhofft hatte.
Doch war das Leben nicht auch so? Eine unehrliche, schmutzige Angelegenheit? Eine Zeitspanne, während derer man strebte, versuchte, sich Blößen gab, blamierte und nicht zuletzt in Grund und Boden schämte. Eine Zeitspanne, die Momente beinhaltete, während derer man das Mauseloch suchte, in dem es sich für immer verstecken ließ, die Decke unter der zu verschwinden sich so verlockend anbot.
Doch diesmal fiele sie nicht darauf hinein. Sie sah den Konsequenzen ins Auge, die sich aus ihrem Verhalten ergaben. Selbst wenn es ein erträumtes Verhalten, eine wirre Aneinanderreihung unwahrer Zustände und ein weit von der Realität entfernter Irrsinn war, in dem sie steckte, gefangen und verschluckt. Doch nicht ohne die Gelegenheit, sich zu befreien. Nicht ohne die Kraft, sich frei zu strampeln. Und genau das tat sie.
Sie strampelte sich frei.
Und ich achtete sie dafür.

Chronisch

Titel: Chronisch
Autor: callisto24
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Schuld daran war definitiv die rechte Gehirnhälfte, genauer gesagt, die Auswucherungen derselben. Nicht unbedingt in physischer Hinsicht – oh nein. Rein anatomisch betrachtet fiele wohl auch dem genauesten Diagnosegerät keine Anomalität derselben auf. Und doch existierte diese.
Ob es die Nervenverbindungen waren, die an Überspannungen ihrer Kontakte litten oder die ausufernde Elektrizität, die sich in diesem Teil des Gehirns konzentriert, konnte lediglich ein Neurologe feststellen. Toni blieb die Spekulation und damit gab sie sich zufrieden. Sie war lediglich froh darüber, einen, wenn auch wenig greifbaren Grund für ihren Zustand, für ihre Zustände, gefunden zu haben.
Die Überaktivität einer Gehirnhälfte bot genau diesen, galt es doch mittlerweile als erwiesen, dass mit der besagten, wuchernden, galoppierend explodierenden Hälfte des Organs nicht nur die Wurzel für Kreativität und die Fähigkeit zum Überblick gewährt wurde, sondern auch die Anlage zur Depression sich verstärkte. Wobei Toni sich manchmal fragte, ob nicht vielleicht ein Zusammenhang zwischen beiden Aspekten bestand. Denn wer – der sich die Mühe machte, einen Blick auf die Welt im Allgemeinen zu werfen, sich einen umfassenden Überblick verschaffte, sollte nicht umgehend von einem Hang zur Schwermut erfasst werden. Nur wer in seinem kleinen Rahmen blieb besaß die Chance, sich auch innerhalb dieser Grenzen eine zufriedene, wenn nicht gar glückliche Existenz aufzubauen.
Toni war dazu nie in der Lage gewesen. Und sie hatte es gewusst. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte, so wie es wohl jeder versuchte, der sich zumindest einen Hauch von Hoffnung bewahrte. Aber jeder einzelne Versuch war gescheitert. Nicht unbedingt zu ihrem Erstaunen. Schon gar nicht zu ihrer Freude, aber es ließ sich nicht leugnen, dass langsam aber sicher ein Schema hervortrat.
Aus verschiedenen Gründen kam ihr die Überzeugung auch überhaupt nicht ungelegen. Konnte sie die Schuld abstrakten Fehlschaltungen in den undurchsichtigen Windungen ihres Verstandes zuschieben, so existierte zumindest kein Grund mehr, sich mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu quälen. Dann war es eine höhere Macht, eine biologische Unpässlichkeit, die für ihr Unglück verantwortlich zeigte und Toni fühlte sich eher in der Lage mit einer Situation wie dieser umzugehen, als mit der ständigen Überzeugung, dass sie und nur sie allein und ihr eigenes Unvermögen, ihre Fehlbarkeit für die Dramen verantwortlich waren aus denen ihr Leben bestand.
Auf jeden Fall bot ihr die freimütig akzeptierte, wenn auch nur im Ansatz begriffene Erklärung eine visuelle Vorstellung der innerkörperlichen Vorgänge, eine Tatsache für die alleine sie sich bereits dankbar fühlte. Ebenso wie für die Konsequenzen der wissenschaftlichen Diagnose, die ihr so wissenschaftlich auch wieder nicht vorkam. Doch der Effekt sprach für sich. Und Toni konnte keineswegs leugnen, dass die verschriebenen Tabletten in ihrer Wirkung wie gewünscht einschlugen. Nicht dass sie es geglaubt hatte – in einem Alter wie dem ihren und nach all den Experimenten, die sie durchgeführt hatte, nur um ihr Leben ein klein wenig zu verbessern.
Umso erstaunter registrierte sie die körperlichen Reaktionen ihres Körpers auf ein an sich doch harmloses Medikament.
Nun hätte sie sich nicht dazu bereit erklärt, wenn die Lage nicht schier aussichtslos gewesen wäre. Wenn sie nicht mit absoluter Sicherheit jeden Eid beschworen hätte, dass sie sich an einem Endpunkt befand. Nichts und niemand konnte sie aus dem Sumpf, in dem sie versank, befreien. Der letzte Strohhalm, an den sie sich klammerte, er musste den notwendigen Halt bieten. Andernfalls wäre ihr Leben gelebt, die Wahl nur noch zwischen den Gleisen der S-Bahn oder dem Sturz aus dem Fenster möglich.
Sie schluckte die bitteren Pillen nach Anweisung und wartete. Nichts geschah. Es wurde nicht besser, im Gegenteil – schlimmer. Die enttäuschte Erwartung verstärkte die Verzweiflung, der Abgrund schloss sich um sie.
Bis – an diesem einen Tag, nach nur drei Wochen, etwas Merkwürdiges geschah. Eine Offenbarung, eine Erkenntnis, das winzige Gespür, die Ahnung davon, wie das Leben sein könnte, aus den Augen eines anderen Menschen gesehen.
Toni fühlte sich nicht besser, sie war nicht glücklicher, nicht beruhigter, nicht entspannter. Sie spürte nur, dass sie mit einem Mal fähig war, nur dazusitzen, letztendlich nur zu sein.
Und dass sie lächelte. Sie lächelte ohne Grund. Einfach so. Einfach vor sich hin. Das Leben war vielleicht doch nicht gar so schlecht. Das Leben konnte vielleicht gelebt werden, wie es jeder andere Mensch auch lebte. Ohne die Schmerzen, verursacht von den unzähligen Narben, die ihre Seele trug. Ohne die Ängste, die Qualen, mit denen sie sich täglich, stündlich herumschlug. Eine Pause von all diesem Leid. Ferien von der Selbstzerfleischung, der Existenzangst, der Todesfurcht.
Oder auch nicht Ferien. Vielleicht der Weg, auf dem sie weiterlaufen konnte. Vielleicht die Lösung, die Hoffnung, eine Chance darauf, noch für eine Weile den unverfälschten Geschmack des Lebens kosten zu können.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Ein Numb3rs Weihnachtsfest

Titel: Eine Eppes-Weihnacht
Autor: callisto24
Fandom: Numb3rs
Rating: PG
Genre: Comedy
Warnungen: Geschmacklos und anstößig
Disclaimer: Nichts davon gehört mir und ich verdiene hiermit kein Geld.
* * *


„Du bist so still“, sagte Alan Eppes zu seinem Sohn, der gedankenverloren in seiner Tasse Kaffee rührte.

Mathematikprofessor Charlie Eppes nickte und rollte mit den Augen. „Das liegt daran, dass die Autorin, die diese Geschichte verfasst, in der Schule nicht richtig aufgepasst hat.“ Er seufzte auf und legte den Löffel ab. „Deshalb versteht sie auch nie, wovon ich eigentlich spreche, wenn ich damit beginne, meine abstrakten Theorien und komplizierten Berechnungen zu erläutern.“

Alan runzelte die Stirn. „Aber weshalb sollte sie dann die Serie ansehen, geschweige denn darüber schreiben?“
Charlie zuckte mit den Schultern. „Sobald ich anfange zu reden, schaltet sie ihr Gehirn ab und beginnt damit, meine dunklen Locken zu bewundern. Oder ihre Gedanken wandern zu Dons muskulösem Körper, beziehungsweise der Art, wie er seine Jeans trägt – eng und knackig.“

Don sah auf. „Was ist mit mir?“
Charlie schüttelte den Kopf. „Das willst du nicht wissen, glaube mir.“

Don wandte sich wieder seiner Akte zu. „Also, wie weit sind wir nun?“

Sein Vater kratzte sich am Kopf.
„Nicht sehr weit. Bis jetzt haben wir vier Leute, die Hanukkah feiern.
Drei, die beim besten Willen kein Fest in ihrer Religion finden konnten, das auch nur annähernd in die Nähe des Dezembers fällt,
fünf, die unsere Idee ablehnen
und drei, die grundsätzlich bereit wären, ein nicht-konfessionelles Winterfest zu begehen.
Außerdem fünf Christen, von denen vier behaupten, dass ihnen Weihnachten herzlich egal ist, sie aber unterm Strich lieber in einem lebensgefährlichen Einsatz steckten, als mit ihrer Familie den Abend zu verbringen.“

Don überlegte kurz, schlug dann Kommandoton an. „In diesem Fall würde ich mich doch gegen die Idee einer Weihnachtsfolge entscheiden.“

Alan schob die Unterlippe vor. „Die Leute lieben Weihnachtsfolgen“, bemerkte er. „Und auch wenn ich persönlich nicht verstehe warum - Hanukkah macht erheblich mehr Spaß und bietet wenigstens eine aufregende Hintergrundgeschichte - so bin ich doch in einem Alter, in dem es sich auszahlt auf die Zuschauerwünsche einzugehen. Ganz im Ernst – die erfolgreichen Serien wachsen nicht auf Bäumen, das muss ich euch beiden doch wohl nicht sagen.“

Charlie nickte. „Statistisch gesehen…“
Don hob warnend den Zeigefinger. „Nicht jetzt, Charlie. Wir haben kein Geld übrig für die aufwendigen Computeranimationen, die dein Mathematik-Geschwafel untermalen.“ Er räusperte sich. „Und außerdem bin ich aus der Übung was den konzentrierten, zugleich gelangweilten und unterschwellig genervten Gesichtsausdruck angeht, mit dem ich darauf reagieren muss.“

„Das ist aber jetzt unfair“, meldete Amita sich zu Wort. „Als Inderin und praktizierende Hindu liegt mir der Weihnachtsgedanke zwar fern, aber diese Animationen, zumal wenn sie um mich kreisen, sind doch jedesmal wieder eine Augenweide.“
Charlie legte seine Hand auf ihre und blickte ihr tief in die Augen. „Da stimme ich dir vollkommen zu, mein Liebling.“

„Und was ist mit mir?“ warf Larry Fleinhardt ein. „Hatte ich nicht vorgeschlagen das Ganze von einer astronomischen Warte aus zu betrachten? Rotierende Planeten, Sternenhimmel und vielleicht hier und da ein vorbeizischender Komet, während ich das Prinzip von Licht im Dunkel erläutere, passen in fast jede Religion oder Weltanschauung und bieten außerdem noch was fürs Auge. Ich könnte eine Anspielung auf den Stern von Betlehem fallen lassen, womit wir das Christentum gleich erledigt hätten.“

„Nicht schlecht.“ Don hob die Augenbrauen. „Auch das Mythologische ließe sich so elegant abhaken.“
Charlie nickte eifrig. „Wir enden mit einem geselligen Beisammensein, wahlweise inklusive des Entzündens der Menora oder des Aufbruchs in die Synagoge. David und Colby küssen sich unter dem Mistelzweig, Nikki lädt Liz in die Moschee ein und irgendwo brennt ein Feuer zur Wintersonnenwende.“

Alan rieb sich die Hände. „Das hört sich doch gut an. So dürften wir ausreichend Vielfalt einbringen und niemanden vor den Kopf stoßen.“

„Mit Ausnahme der Autorin“, gab Larry zu bedenken.
Charlie sah ihn erstaunt an. „Wieso denn das?“
Larry grinste. „Na, die hat von den empfindlichen religiösen Gefühlen der Leser noch weniger Ahnung als von Mathematik.“
„Gibt’s nicht“, staunte Charlie.

„Oh doch“, seufzte Amita. „Ich konnte ihr das Einmaleins beibringen, aber das Wirken Shivas hielt sie für ein ostafrikanisches Märchen.“

„Das kann schwierig werden“, stellte Alan fest. „Nebenbei benötigen wir ja auch noch den Weihnachts-Klassiker: einen wahnsinnigen Serienkiller, der es auf Mitarbeiter des FBIs abgesehen hat.“
Er kratzte sich am Kinn.
„Da existiert ein weiteres Problem. Wer erklärt ihr diesmal die Mechanik von Schusswaffen, oder anatomische Grundsätze, wenn es um das Spritzen von Blut oder das Ausweiden der Organe geht? Das gibt doch wieder ein Desaster, wenn wir versuchen, die Sache der Gerichtsmedizin zu präsentieren.“

Don klappte seine Akte zusammen und stand auf. „Ich übernehme das“, erklärte er resolut.
Charlie hob eine Augenbraue. „Sei vorsichtig“, warnte er. „Wenn es in ihrem Büro nach Glühwein liegt und irgendwo ein paar Dessous herumliegen, dann nimm lieber Robin zur Selbstverteidigung mit.“
„Das hilft nichts“, seufzte Don. „Beim letzten Mal schlug sie einen flotten Dreier vor.“
Alans Mund klappte auf. „Ihr habt doch nicht…?“
Don grinste. „Wo denkst Du hin. Ich hab nur zugesehen.“



Ende

Samstag, 7. November 2009

Mentor

Titel: Mentor
Autor: callisto24
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Von Anfang an.
Es war immer schwer, jemanden zu etwas zu überreden, was er nicht tun wollte. Noch schwieriger, wenn es sich bei demjenigen um das eigene Kind, sprich die eigene Tochter handelte. Doch was war zu tun, wenn die Betreffende von vornherein alles, und wirklich alles ablehnte? Und was sollte er tun, wenn ihm die Beweggründe und die Gefühle an sich so vertraut waren, dass nichts leichter wäre, als diesen ohne weitere Zweifel und Umschweife nachzugeben.
Natürlich konnte er ihnen nicht nachgeben, wusste er doch nur zu gut, und auch aus eigener Erfahrung, wohin Verhalten wie dieses letztendlich führte. Zur Vermeidung von allem und jedem, sämtlicher Risiken und damit auch sämtlicher Erfolge, sämtlicher Möglichkeiten jene Erfolge zu sammeln und damit, letztendlich sich zu dem Menschen zu entwickeln, als der man gedacht war.
Es führte dazu, dass die Entwicklung als solche abgelehnt wurde, ebenso wie jedwede Tendenz in einer entsprechenden Richtung.
Doch langsam konnte er nicht mehr. Hatte es doch schon vor langer Zeit begonnen, im frühesten Alter, begann mit der Erkenntnis erwähnter Tochter, dass Gefahren da draußen existierten, die es zu meiden galt. Und natürlich besaß sie diese Erkenntnis oder Veranlagung nicht von ungefähr, sondern übernahm sie direkt von ihm. Nein, auch er vollbrachte nichts. Niemals. Risiken waren ihm eine Gräuel und er unternahm keinerlei Ansätze einer Anstrengung, deren sofortiger Sinn und Zweck sich ihm nicht sofort erschloss.
Wieso sollte er sich also wundern, dass sein kleines Mädchen sich weigerte zu versuchen, was er, der Große, der Vater ihm vor die Nase hielt.
Es erschöpfte ihn. Er wusste es, dass er der Schuldige war, mit seiner Schlamperei, seiner Pflichtvergessenheit, seiner Haltlosigkeit. Er zeigte eindeutig verantwortlich dafür, dass trotz aller Bemühungen nichts von Erfolg gekrönt sein konnte. Kein bisschen, kein Stückchen, verpuffte Zeit, Energie, verschleudertes Geld. Sie tauchte nicht auf, sie würde nie auftauchen. Es war zum Heulen. Richtig zum Heulen. Und er war schuld. Er hatte versagt, als Mentor versagt. Er hatte sie verraten.

Nebelscheinwerfer

Titel: Nebelscheinwerfer
Autor: callisto24
* * *


Es war einer ihrer üblichen Träume. Daniela träumte stets nahe der Realität. Nahe genug, so dass sie beim Erwachen mehr als nur einen Moment benötigte, bis sie sich darüber klar wurde, dass sie soeben Erlebtes ihrer Fantasiewelt zuordnen konnte. Und in den meisten Fällen erleichterte Daniela diese Zuordnung kolossal. Nicht unbedingt, dass die Wirklichkeit es ihr leichter machte, als ihre Träume es taten. Doch zumindest verlief diese in der Regel weitaus ruhiger und ohne die merkwürdigen Schnitzer und absurden Verläufe, welche ihre Träume für gewöhnlich nahmen.
Dieses Mal begann alles mit einem Ausflug, mit der konfusen Mischung aus der regelmäßigen, wöchentlich stattfindenden Wahrnehmung eines Termins, der es erforderte, dass sie mit ihren Kindern den Ansatz einer Reise unternahm, welche am Bahnhof des Ortes startete. Nur, dass sich diese Reise auf einmal ausdehnte, von einer Reise in ein Ereignis verwandelte. Eines, das nicht nur sie und ihren Nachwuchs, sondern auch Danielas Eltern mit einbezog. Eine Tatsache, die darauf schließen ließ, dass es sich um ein Ereignis handelte, das in erster Linie mit Kultur und stadtinterner Politik zu tun hatte. Und nicht nur, dass Daniela sich in einer Welt wiederfand, die sie nicht kannte, nie besuchte, nie kennenlernen wollte, sie fand sich zusätzlich mit einer Handvoll Kinder dort, für die ausgerechnet sie allein die Verantwortung trug, wenigstens zeitweise, und ohne ihre Gesichter Personen zuordnen zu können, die Daniela bekannt waren. Die Kinder liefen zwischen ihren Füßen herum, irritierten Daniela und erhöhten ihre Besorgnis.
Bis ihr plötzlich eine hohle Stimme aus einem ebenso hohlen Körper mitzuteilen geruhte, welcher Pflicht, sie sich zu unterziehen hatte, dass diese darin bestand, betreffende Kinder von dem Eindringen in eine, wie sie nun bemerkte, sorgfältig errichtete Szenerie abzuhalten. Dabei handelte es sich um nicht weniger als um eine Einweihung, ein festlicher Akt, der offizielle und nicht unerhebliche Bedeutung besaß. Ein Akt, zu dem jeder Zugang erhielt, doch zu dem nicht jeder Zugang besaß. Ganz sicher nicht jeder. Die Prominenz in ihren edlen Kleidern war willkommen ebenso wie ihr gepflegtes Benehmen. Herumlaufende, unkontrollierbare Kinder jedoch durften in einer Welt wie dieser nicht existieren.
Natürlich ließen sich Kinder wie diese, wie die ihr Anvertrauten, Kinder, die ihren eigenen Kopf, ihren eigenen Willen behielten, nicht von den Zielen abhalten, die nur sie in ihrem Kindergemüt verstehen konnten. Unabhängig davon wie sehr Einrichtungen wie Schule oder auch schon Kindergärten sich mühten, ihnen diese zu nehmen, in Bahnen zu lenken, die der Gesellschaft genehm waren. Ihre Kinder blieben dabei zu forschen und zu entdecken, wohin es sie zog und was ihre Aufmerksamkeit fesselte. Und wenn es sich um mühsam errichtete Dekorationen, kunstvoll verlaufende Wasserbäche und arrangierte Zierfiguren handelte, so änderte dies nichts in ihren Kinderaugen. Und es änderte auch nichts in den Augen Danielas. Zumindest solange bis sie auf die Reaktion und die Beschwerden der Menschen stieß, die hart daran arbeiteten, die Vorstellung perfekt, das Ereignis denkwürdig und elegant zu gestalten.
Ein Vorsatz an dem Daniela in jeder Beziehung und bereits im Vornherein scheiterte. Sie war nicht elegant. Sie machte sich nichts aus ihrem Äußeren, und schon gar nichts daraus, wie sie auf die Gesellschaft wirkte. Was einfach war, bewegte sie sich doch in der Regel außerhalb der Gesellschaft als solcher, außerhalb jeder Gesellschaft und definitiv außerhalb derer, die sich als fein oder gar vornehm bezeichnete. Es spielte also keine Rolle, wie sie sich präsentierte, vermied sie es doch tunlichst sich überhaupt zu präsentieren.
Doch nun und ohne Vorwarnung purzelte Daniela in diese künstlich gestaltete Welt, die direkt dem Werbefernsehen entsprungen schien, inklusive Sonnenschein und blauem Himmel. Helle Säulen ragten in den Himmel, gepflegte Menschen, gekleidet in ansprechend leichten Farben schritten bedächtig die perfekt dekorierten Tische ab, inspizierten funkelndes Besteck, feines Porzellan und kostbare Blumengebinde. Und hin und wieder streiften die Blicke dieser perfekten Gestalten Danielas Erscheinung, die unter dem prüfenden Blick förmlich schrumpfte, während es ihr endlich gelang, die Kinder aus der Gefahrenzone, den Bereichen, die Zerbrechliches aufwiesen, zurückzuziehen.
Nur dass es damit nicht beendet war. Nur, dass sie sich mit einem Mal wieder in der Mitte von Menschen wiederfand, die sie kritisch begutachteten, die Flecken auf ihren Schultern, die Spuren von Erbrochenem bemerkten. Spuren, die Kinder jeden Alters, Spuren, die das Leben an ihr hinterlassen hatte.
Und als er, die Autorität, der Verantwortliche des Ereignisses sie mit diesem eindeutig einzuordnenden, abschätzigen Blick begutachtete, und aufforderte, darüber nachzudenken, wo sie sich befand, da wusste Daniela, dass es Zeit war zu gehen, dass sie sich zurückziehen musste, verschwinden aus einer Variante des Lebens, in die sie nicht gehörte. Zurückkehren in die Existenz, die ihr vertraut war. In ein Leben, das Verstecken und Verbergen beinhaltete. Dessen Credo darin bestand unsichtbar, unauffindbar zu bleiben. Aus der Entfernung zu beobachten, nicht mehr.
So gab Daniela dem Impuls nach, der ihr vertraut geworden war. Sie blieb die Beobachterin, doch floh der Verantwortung, dem Geschehen, dem Leben. Sie zog sich in den Nebel zurück der alles umgab, wartete auf das Ende der Veranstaltung, betrachte diese aus der Entfernung, spielte den Verfolger aus der Dunkelheit. Sie befasste sich mit Hintergründen, Analyse und der Suche nach Inspiration für die eventuelle Möglichkeit, ihre eigene Lage und die ihrer Kinder zu verändern.
Wäre diese Suche von Erfolg gekrönt worden, hätte sich niemand mehr gewundert, als sie selbst. Doch tat sich eine ganz andere, und vollkommen unerwartete Möglichkeit auf. Eine Schicksalswendung, mit der niemand und am wenigsten Daniela selbst rechneten. Ein Botengang nur, der ihr nebenbei aufgetragen wurde, und den zu erledigen lediglich eine kleine Aufgabe außerhalb der natürlichen Ordnung sein sollte. Er hatte nichts mit der Suche und den Fragen zu tun, die sie sich stellte, und doch bot er eine Beschäftigung, einen Grund und eine Herausforderung, die zu erfüllen nicht leicht, wenngleich auch nicht derart schwierig war, wie sie es sich ausmalte. Wie sie es sich ihr Leben lang ausgemalt hatte, Grund genug, um auszuweichen, anstatt diese Herausforderungen als das anzunehmen, was sie waren. Doch nun war sie es, die den Nebel durchdrang, die Scheinwerfer ausrichtete. Ihre Verantwortung, dass die Kinder den Weg fanden, auch wenn sie niemals erfuhren, wer das Licht angestellt hatte.
Den Auftrag zu erledigen war verwirrend, nicht einfach, nicht schwierig, doch am Ende verstörend. Und zugleich aufregend genug, um ihren Blick zu erweitern, jene Aufgeschlossenheit in ihr zu erwecken, die Veränderungen vorausgehen. Sie fand Kontakte, traf Menschen. Menschen, die sich unfreundlich zeigten, abweisend, denen ihre Anwesenheit eine Last war, aber auch Menschen, die ihr halfen, die sie als Gleichgestellte betrachteten, als eine von ihnen, unter ihnen, mit ihnen.
Und so entschied sie sich dafür, diesen Weg gehen zu wollen, es zu versuchen. Sie ging, sie fragte, sie erkundigte sich, versuchte, hoffte und trieb sich an.
Und scheiterte. Die Voraussetzungen, ihr Leben stimmte nicht. Sie war nicht ausgebildet, Anforderungen wie den vor ihr liegenden zu begegnen. Und so begegnete sie ihnen nicht, versagte ein weiteres Mal, enttäuschte ihre eigenen Erwartungen, ebenso wie die stummen, bereits nicht mehr ausgesprochenen Erwartungen anderer. Der Nebel senkte sich über sie herab und der Weg führte sie zurück, zurück auf den Bahnhof, zurück zu der regelmäßigen Reise, an die sie sich gewöhnt hatte. Und es war nicht alles schlecht. Daniela hatte dazugelernt. Und als sie aufwachte, lächelte sie.

Sonntag, 18. Oktober 2009

Klan

Titel: Durchschnittsfamilie
Autor: callisto 24

* * *
Beschäftigen wir uns mit der Interaktion innerhalb einer Durchschnittsfamilie. Obwohl es sich in diesem Fall im Grunde nicht direkt um eine Durchschnittsfamilie handelt. Wenn wir ehrlich sind, fällt diese Familie sogar in mehr als einer Hinsicht aus dem Rahmen. Aber besehen wir uns die Lage objektiv, so springen vorerst weder Ecken noch Kanten ins Auge. Erst bei genauerer Betrachtung offenbaren sich die unschönen Wahrheiten, der versteckte Hass und die verwirrten, verwischten und durcheinandergewirbelten Gefühle, die zu erkennen, zu analysieren, ja selbst auseinanderzudividieren dem Familienmitglied in der Regel das Werkzeug abgeht. Einige Jahre intensiver Therapie können hilfreich erscheinen, um Mechanismen aufzudecken, die nur allzu negative Folgen nach sich ziehen können. Doch andererseits nützt auch diese Offenbarung letztendlich nicht mehr, als ein endgültiger Rückzug es tun könnte.
In besagter, angesprochener Familie kommt es nun zu den üblichen, Familientreffen, denen aus vielerlei Gründen positive Auswirkungen zugeschrieben werden. Als solche seien erwähnt die unweigerlich auftretenden Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Liebe, der Verbindungen, die so deutlich mit den Banden des Blutes zusammen hängen. Ob da nun Blut im Spiel ist, oder nicht.
Und hin und wieder legen diese Familientreffen ob absichtlich oder unabsichtlich dar, worin die Problematik, das verborgen schwelende Unheil liegt.
In dem Fall, auf den wir uns hier beziehen, war es die unschuldig vorgebrachte Bemerkung, den bevorstehenden Urlaub betreffend, die offenbar verschiedene Fässer zum überlaufen brachte, ohne dass diese sich ihrer Fülle vielleicht sogar bewusst waren.
Denn so erzählte der Sohn der Familie in Gemeinschaft mit Frau und Kindern davon, einer bevorstehenden Reise ins Auge zu sehen. Worauf die Vertreterin jener Familie, gut, eine der Vertreterinnen, nämlich seine Mutter, mit der kurzen Frage konterte: „Schon wieder?“
Nun beharre ich persönlich doch auf meiner Überzeugung, dass jene Frage in aller Unschuld und bar jeder bösen Absicht oder anklagender Hintergedanken gestellt worden war. Immerhin handelte es sich bei der Fragestellerin um eine Frau. Und wie wir alle wissen, sind Frauen schnell mit dem Wort. Oftmals schneller als mit ihren Gedanken, die zudem noch in eine vollkommen andere Richtung gehen können, als ein Sprössling, noch dazu einer vom anderen Geschlecht, sich ausmalen könnte.
Wen sollte es also wundern, dass eine Äußerung wie die angegebene, falsch verstanden wurde und noch dazu in einer Kehle landete, die daran zu ersticken drohte. Oder wie anders lässt es sich erklären, dass der erwähnte Sprössling, also der im Begriff abzureisen Stehende, lautstark zurückbellte.
Und nicht nur das. Er erklärte wortreich und mit geradezu unüberhörbarer Deutlichkeit, dass er sozusagen niemals in den Urlaub fahre, täglich vierundzwanzig Stunden im Dienste von Job und Familie tätig sei und auch sonst jedwede Anschuldigung weit von sich weise.
Nun gut. Stellt sich die Frage, wo er eine Anschuldigung gehört hat. Denn die erwähnte Mutter reagierte mit großen Augen und zitternden Lippen. Und für eine redegewandte Dame wie sie äußerst auffälligem Schweigen. Für den neutralen Beobachter blieb zu erkennen, dass sie sich bei ihrer Frage wenig bis nichts und schon gar nichts Böses gedacht hatte. Oder vielleicht doch?
Man sollte auch die Verschlagenheit einer Durchschnittsmutter nicht unterschätzen. Denn die Tatsache bleibt, dass der erwähnte Sohn, und dies wurde maßgeblich im Familienkreise zu einem späteren Zeitpunkt, bei dem jener selbstverständlich nicht anwesend war, diskutiert, doch recht häufig verreiste. Zum puren Vergnügen verreiste, nicht etwa geschäftlich. Und warum auch nicht? Wer mache ihm daraus einen Vorwurf?
Was war hier also vorgefallen? Prallte das Schuldgefühl eines Sohnes, der sehr gerne reiste mit der Frustration einer Mutter zusammen, die ihm diese Möglichkeiten neidete? Eskalierte die Situation aus den Gründen verdrängten schlechten Gewissens und den unausgesprochenen, doch dafür angedeuteten Vorwürfen, die das schlechte Gewissen verstärkten und damit zur Katastrophe führten? Oder wie anders lässt es sich erklären, dass ein kurzer, einfacher Dialog zu einer jener Nachrichtenmeldungen führte, die das Auslöschen einer Familie beinhaltete inklusive des Selbstmordes des Täters.
Welcher der Betreffenden den Abzug drückte, möge jeder für sich selbst entscheiden. Nur soviel sei gesagt: Es muss nicht immer das männliche Chromosom als ausschlaggebend für Gewalttagen zeichnen. Nicht immer. Auch wenn die Natur sich meistens doch ihre Bahn bricht.

Samstag, 17. Oktober 2009

Knospe

Titel: Knospe
Autor: callisto24
* * *


Ein junger Mensch könnte vergleichbar sein mit einer Knospe. Die Farben sind noch blass, die Blütenblätter zart und empfindlich. Sie schützen sich mit einer festen Hülle, eine Kapsel, die den weichen Kern bewahrt. Sind junge Menschen auch so?
Manche vielleicht. Nico ist es auf jeden Fall. Was nicht gut ist, denn Nico ist ein Junge. Man mag Mädchen oder junge Frauen mit Blüten vergleichen, aber was Jungen angeht, so besteht in dieser Beziehung zweifelsohne eine Hemmschwelle.
Die größte Schwierigkeit liegt für Nico in der Tatsache, dass er selbst die Kapsel, die sein Inneres schützt, nicht als Schutz wahrnimmt. Sie fühlt sich für ihn ebenso weich und nachgiebig an, wie die gefalteten samtenen Blätter, die sich tief in ihm zusammenpressen, als hätten sie Angst davor, sich zu entfalten und ihre Schönheit zu zeigen.
Und so verbarg sich Nico, verbarg den Reichtum, der in ihm lag, ebenso wie er versuchte, sein Äußeres so gut es ihm möglich war, zu verstecken. Natürlich war dies nicht möglich. Nico war da, er existierte, beanspruchte seinen Platz im Leben, auch wenn er sich tief innerlich dafür schämte. Vielleicht lag darin der Grund, dass er es vorzog für sich zu sein, Tätigkeiten nachzugehen, die er alleine ausführen konnte, Spiele zu spielen, die ihn nicht dazu zwangen, sich zu präsentieren, seine Erscheinung, sein Wesen Menschen vorzuführen, die ihm fremd waren, denen er fremd war, und denen gegenüber er sich stets unterlegen fühlte.
Das Gefühl der Unterlegenheit war kaum abzuschütteln, quälte, und hielt ihn davon ab, der zu sein, der er sein sollte.
Denn genauso in sich gefaltet, versteckt und verborgen wie die Innersten aller feinen Blütenblätter, wuchs auch in Nico die Überzeugung, dass er zu etwas bestimmt war. Eine Bestimmung, die er nur ahnte, die er nicht erfassen konnte, die keine Gestalt annahm, so oft er auch um die bloße Idee herumtanzte. Und das verunsicherte Nico. Wer sagte ihm, dass er nicht irrte? Wer sagte ihm, dass die Bestimmung, der er folgen sollte, nicht nur eine Illusion war, eine Einbildung, auf die zu vertrauen von nicht mehr als reiner Dummheit zeugte.
Vielleicht verdiente er es nicht besser, als für immer in dieser Kapsel eingesperrt zu bleiben, so klein, so unscheinbar, so versteckt wie nur möglich. Wenn sich in ihm nichts befand als verkrüppelte Ansätze, farblose Stümpfe, die nicht dafür geschaffen waren, je das Sonnenlicht zu erblicken, dann fällte sein Instinkt doch die richtige Entscheidung, hielt er ihn davon ab, sich in die Weite der Welt zu wagen, das Geheimnis zu präsentieren, das in ihm schlummerte.
Junge Menschen schwanken zwischen den Extremen. Und auch Nicos Gefühle veränderten sich. Doch selbst wenn er die gefalteten Blätter in sich drängen spürte, die Kraft fühlte, die sich befreien wollte, die Kapsel sprengen, entfalten und zeigen, was sich unter der Schale befand, gelang es ihm, diese geschlossen zu halten. Mochte auch das Leben darunter pulsieren, der Wunsch nach Befreiung größer und stärker werden mit jedem Tag, so nahm auch die Angst davor zu, was nach dieser Befreiung geschähe.
Denn stünde er bloß und offen in voller Blüte, so befände er sich auch in einer ausweglosen Position, einer Lage, aus der es keinen Rückzug mehr gäbe. War die Kapsel erst gesprengt, so konnte keines der zarten Blätter jemals wieder in ihren Schutz zurückkehren. Sie wären frei und schutzlos den Elementen, der Kritik, der Vernichtung ausgesetzt, die früher oder später und unweigerlich auf die eine oder andere Weise einsetzten. Und so krümmte sich Nico – wenn überhaupt möglich – noch stärker in sich zusammen, versuchte geringer zu sein, unscheinbarer, und letztendlich zu verschwinden.
Das Wichtigste war, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, unter dem Radar zu reisen und das Ende der Reise stets im Blick zu behalten. Einfach und schlicht, um nicht verrückt zu werden in der endlosen und grenzenlosen Weite des Seins.
Nico blieb dabei, blieb klein, blieb versteckt und seine Knospe verkümmerte in ihrer Schutzhülle. Nicht weil seine Pflanze zu wenig Nahrung, zu wenig Licht oder Erde erhielt, sondern weil die Hülle, die ihn umgab schwach war, ein Hauch nur, aus dem er sich weder befreien, noch sicher fühlen konnte.
Eine ewige Knospe, stets vor der Blüte, bis sie verkümmerte, bis sie vertrocknete und das Alter ihr die Kraft raubte, so verblieb Nico. Und er fühlte sich unglücklich dabei, traurig, schlecht. Unvollständig, stehen geblieben in einer Phase, die keinen Stillstand erlaubte. Nico konnte weder vor noch zurück.
Auch ein alter Mensch kann einer Knospe gleichen. Und vielleicht verbirgt er den in sich gefalteten Reichtum, den er in seiner Jugend nicht wagte zu zeigen. Entscheidend bleibt, dass er eines Tages das Wagnis eingeht, die Schale sprengt, den Reichtum zeigt, Blätter und Farben entfaltet und sich all den Risiken aussetzt, die für jede Blume da draußen wartet.
Auch Nico sollte dies tun. Die Welt rief nach ihm. Doch je mehr an seiner Kapsel geklopft, je stärker an seinem Stiel gerüttelt wurde, desto kleiner krümmte er sich, desto winziger wollte er sein. Solange, bis die Knospe hinab fiel und auf dem harten Boden auseinanderbrach. Wie schön hätte seine Blüte sein können. Nicht zwangsläufig im herkömmlichen Sinne. Vielleicht wäre er keine Rose, keine Dahlie, keine Tulpe geworden. Vielleicht ein unscheinbares Gebilde, dessen Wahrheit erst auf den zweiten Blick sich offenbarte. Wenn auch dafür umso schöner, heller, vielleicht auch filigraner und dunkler, mystisch oder verrucht.
Nico darf keine Knospe bleiben.

Stern

Titel: Stern
Autor: callisto24

* * *
„Geh nicht“, flüsterte Lasse in Giovannis Ohr. „Ich kann nicht so lange ohne dich sein.“
Giovanni hielt den jüngeren Mann fester, zog ihn näher an sich, obwohl eine größere Nähe physisch kaum möglich schien. „Ich muss“, antwortete er leise in Lasses Ohr. „Ich habe es dir doch erklärt. Es… es ist zu schwer für mich.“
Lasse lehnte seinen Kopf an Giovannis Schulter, rieb seine Wange gegen den kratzigen Wollpullover. „Bitte bleib bei mir“, flehte er noch einmal.
Giovanni atmete mit einem Seufzer aus, einem Laut, der zugleich Schmerz als auch Erleichterung ausdrückte. „Dann komm mit mir“, flüsterte er. „Wir könnten zusammen sein. Wir könnten an Deck schlafen, über uns die Sterne.“
Lasse schluchzte. „Du weißt, dass ich nicht gehen kann“, wisperte er. „Es gibt zu vieles hier, zu viele Verpflichtungen, zu viele Zwänge.“
„Und genau deshalb muss ich gehen“, antwortete Giovanni. „Ich kann dir nicht dabei zusehen, wie du dich zerstörst, wie du all das versteckst, was dich ausmacht, wofür du bestimmt bist.“
„Ich verstecke nichts“, wehrte sich Lasse. „Das ist mein Leben. Meine Pflichten, meine Beziehung, meine Familie – alle verlassen sich auf mich. Keiner könnte es verstehen.“
„Du gibst ihnen auch keine Chance.“ Giovanni drückte Lasse einen Kuss auf die Stirn. „Aber das ist in Ordnung. Das bist du. So bist du, und ich liebe dich auch aus diesem Grund, weil du so bist.“
„Giovanni“, flüsterte Lasse und barg sein Gesicht an Giovannis Schulter. „Es… es tut mir so leid.“
„Stell dir nur vor, wie es sein könnte“, sagte Giovanni auf einmal heiser. „Stell dir nur für einen Augenblick vor, was wäre, wenn wir uns nicht auf diesem Steg befänden. Wenn ich nicht die Leine des Bootes hinter mir wüsste, bereit gelöst zu werden, sobald ich meinen Fuß auf das Schiff setze. Wenn wir nicht hier wären, Gefangene unserer Leben. All der Pflichten, die uns eine verschwendete Zeit, die wir ohne einander verbringen mussten, auferlegten.
Lasse schloss die Augen und stellte es sich vor. Seine Hände krallten sich in den Stoff der Kleidung, die Giovanni trug, und er fühlte, wie der andere seine Arme enger um ihn schlang, wie er ihn emporhob, ihn in eine Fantasie entführte, die er bislang nur vage und mit wenigen Worten entworfen hatte.
Die Luft trug ihn, ebenso wie Giovanni ihn durch die Luft trug, bis sie mit einem Ruck an ihrem Ziel ankamen. Lasse blinzelte, als der Boden unter seinen Füßen zuerst vibrierte und dann begann zu schwanken. Oder er hatte schon immer geschwankt, nur dass Lasse die Bewegung jetzt erst wahrnahm. Keine unangenehme Bewegung, eher ein sanftes Schaukeln, das keine Sorgen oder Unruhe verursachen konnte. Nicht solange Giovanni ihn festhielt, solange er seine starken Arme um Lasse geschlungen hielt und keine Anstalten unternahm, keinen Versuch, ihn jemals wieder loszulassen. Lasse schloss die Augen wieder und stieß einen zufriedenen Seufzer aus, der von einem tiefen Lachen beantwortet wurde, welches schwach an sein Ohr drang, welches er mehr in Giovannis Brust spüren konnte, als dass er es hörte.
„Was ist so lustig“, flüsterte er gegen den warmen Stoff, ohne seine Augen wieder zu öffnen. Stattdessen rieb er seine Stirn gegen den Körper des Größeren und seufzte erneut zufrieden.
„Nichts“, wisperte Giovanni zurück. „Nur deine Fantasie. Sieh, wohin du uns gebracht hast.“
Lasse deutete ein schwaches Kopfschütteln an. „Ich will es nicht wissen“, gab er zu. „Ich will nur sein, wo du bist.“
„Sieh nur hin“, ermunterte ihn Giovanni erneut. „Wir sind alleine. Du hast uns an den ruhigsten und einsamsten und gleichzeitig schönsten Ort geführt, den ich mir nur erträumen könnte.“
„Und wo sollte das sein?“ Nun blinzelte Lasse doch, drehte seinen Kopf und schmiegte seine Wange gegen den Stoff, während er aufsah. „Oh“, stieß er hervor.
„Nicht wahr?“, lachte Giovanni glücklich.
„Wo sind wir?“, fragte Lasse. „Es sieht aus als flögen wir… durch die Sterne.“
Amüsiert schüttelte Giovanni seinen Kopf. „Auf ruhiger See“, antwortete er leise. Die Sterne spiegeln sich in der glatten Oberfläche und wir schweben. Wir schweben über das Wasser.“
„Ja“, murmelte Lasse. „Und wir sind allein.“
„Niemand kann uns sehen“, bestätigte Giovanni. „Niemand wird je wissen, wo wir sind, oder was wir tun.“
„Dann lass uns hier bleiben“, antwortete Lasse. „Auf unserem eigenen Stern. Wie ich wünschte, dass es immer so sein könnte. Wenn du nur wüsstest wie sehr.“
„Aber das weiß ich doch“, flüsterte Giovanni zärtlich. „Glaub mir, ich weiß es.“

Blut

Titel: Blut
Autor: callisto24
* * *


Beinahe zu perfekt, so kam er ihr vom ersten Moment an vor. Anna hatte ihren Teil an kaputten Beziehungen ebenso hinter sich, wie die Qualen der sogenannten großen Liebe, die doch Stück für Stück und unvermeidlich in die Brüche ging. Nicht dass es mit Matthias einfach gewesen war. Von Anfang an existierten Probleme und Missverständnisse zwischen ihnen und es kostete sie beide große Kraft, diese zu überwinden, ein normales Verhältnis zu erreichen.
Und doch bestand diese Anziehung zwischen ihnen sofort, unmittelbar nach dem ersten Blick, den sie miteinander gewechselt hatten. Auf eine unterbewusste, ungenaue Art hatte sie es schon damals gewusst. Vielleicht lag es allein an der optischen Übereinstimmung. Sie passten einfach zu gut zueinander. Niemand bezweifelte das.
Anna achtete immer auf ihr Aussehen. Sie sorgte stets dafür, dass ihr Haar in weichen Wellen ihr gepflegtes Gesicht umrahmte. Tönung und gelegentliche Haarspangen ergänzten sich und ihr dezentes Make-up betonte die Vorteile ihrer Züge. Niemals wäre es ihr eingefallen, ohne Lipgloss aus dem Haus zu gehen. Ihre Lippen schimmerten stets verlockend.
Und so ließ sich wohl kaum leugnen, dass auch Matthias‘ äußere Erscheinung ihre Wirkung auf sie nicht verfehlte. Er war genau dieses Stück größer als sie, dass es sich gut anfühlte, sich anzulehnen, zu spüren, wie seine Arme sie umfingen, festhielten und beschützten.
Obwohl sie immer Wert darauf legte als starke und selbstständige Frau behandelt zu werden, so nagte doch tief in ihr manches Mal der Wunsch danach, sich einfach fallen zu lassen, die Verantwortung abzugeben an jemanden, der sie tragen konnte. Der vielleicht von Natur aus dazu geschaffen war, der die Kraft besaß, auch ihre Last auf seine Schultern zu nehmen, ihr eine Zuflucht zu bieten, einen Ort der Sicherheit, die Geborgenheit, die sie nie zugäbe, sich zu ersehnen. Nicht vor anderen und nicht einmal vor ihm.
Nicht zuletzt sah er gut aus, und das nicht nur ihrer Meinung nach. Sich mit ihm zu schmücken konnte ihr nur zum Vorteil gereichen. Einen attraktiveren Begleiter im klassischen Sinne hatte sie nie zuvor gehabt. Dunkles Haar, dunkle Augen und ein griechisches Profil ließen jedes Frauenherz höherschlagen und gewiss auch das Herz des einen oder anderen Mannes. Beinahe war er zu schön, um wahr zu sein. Seine Wimpern ein wenig zu lang, seine Augen einen Deut zu groß, um männlich zu wirken. Doch das kantige Kinn und die ausgeprägten Wangenknochen erlaubten nie einen Zweifel an seinem Geschlecht. Und er wusste, sich gut anzuziehen. Ein Talent, das Anna ebenfalls schätzte. Zu den gut geschnittenen Kostümen, die sie vorzog zu tragen, passten seine schlichten und doch eleganten Anzüge. Es war kein Geheimnis, das er auf sein Äußeres achtete. Und es lohnte sich. Es lohnte sich sehr. Und sie beide zusammen zogen wohl mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es jedem von ihnen alleine gelänge.
Alles passte. Der Weg zeichnete sich von selbst. Mit jedem weiteren Tag breitete sich die Zukunft deutlicher vor Anna aus. Er war ein Mann, wie ihn sich jede Frau erträumte. In seinem Beruf glänzte er, die Entschlossenheit trieb ihn vorwärts. Seine Aussichten schienen ebenso makellos wie seine Gestalt oder sein Lebenslauf.
Matthias passte zu ihr, so wie sein Leben, seine Geschichte zu ihrer passten. Sie beide hatten Kinder, die sich verstanden. Sie beide Erfahrungen hinter sich gelassen, die sie nicht zerstörten, aber Spuren hinterließen, sie geformt und geprägt hatten. Eine Geschichte, die es nur noch einfacher für sie beide machte, sich über die Klippen und Abgründe, die sich unerwartet auftaten, hinweg zu angeln.
Es war einfach zu schön, eine wundervolle Illusion.
Bis sie an diesem einen Tag zu ihm ging. Unvorbereitet, unerwartet, ohne dass sie zuvor ein Treffen vereinbarten. Doch das war in Ordnung, sie waren ein Paar, gehörten zusammen und vertrauten sich. Sie wollten heiraten, die Pläne standen. Und natürlich wusste sie von den Problemen, die er mit sich herumtrug. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Medikamente benötigte. Dass die gelegentlichen Schübe es erforderten, der Chemie, die er seinen Körper zufügte, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Und doch hatte sie nicht erwartet, ihn so zu sehen. Er wirkte krank, er wirkte fern. Fern von ihr. Seine Haare hielten nicht die Form, die er ihnen sonst verlieh. Sein Hemd stand offen, die Ärmel waren falsch und ungehörig, nur durch das Fehlen der Manschettenknöpfe, durch die nachlässige Art, in der sie aufgekrempelt waren.
Matthias‘ Blick war leer, und obwohl sie sehen konnte, dass er darum kämpfte wieder zu sich zu kommen, offenbarte sich, dass er dazu nicht in der Lage sei.
Anna begriff, dass sie ihm helfen sollte. Er sah hilflos aus, so hilflos wie sie sich fühlte. Und Anna fühlte sich gelähmt. Eine innere Schranke fiel zwischen ihr und ihm herab, hinderte sie daran sich zu bewegen, zu sprechen, ihm zur Seite zu stehen. Was es war, das ihn quälte, entzog sich ihrer Erkenntnis, wenngleich die Ahnung einer Tragödie, die sie längst abgeschlossen glaubte, sich in ihr Bewusstsein bohrte. Das Sterben seiner Frau, der blutige Mord, den er mit angesehen hatte, blieb die offene Wunde, die sie seit der schrecklichen Tat gewesen war.
Und Anna war nie in der Lage gewesen, ihm zu helfen, es war ihr nie gelungen der Balsam auf seinem Schmerz zu sein, den er brauchte. Schwer genug war es für sie gewesen zusammenzufinden, schwer genug, sich als die Menschen zu erkennen, die sie waren, die füreinander bestimmt waren. Dennoch hatte sie nie gefühlt, wie heftig die Fassade bebte, die er um sich errichtet hatte, wie dünn und zerbrechlich die Schutzhaut war, die er wachsen ließ.
Er hatte es ihr immer wieder gesagt, dass sie ihn veränderte, dass sie der Anker für ihn war, den er brauchte. Dass dieser Teil seines Lebens der Vergangenheit angehört. Und Anna glaubte ihm. Sie wusste von seinem Kampf und sie bewunderte seine Stärke. Doch was er sich von ihr ersehnte, diese Frage stellte sie sich nie.
Und in diesem Moment, mit dem Eintritt in sein Haus, erkannte sie, dass sie weit davon entfernt war, ihn zu verstehen, vielleicht weiter als je zuvor.
Starr verharrte sie, ihre Augen auf das Bild des Mannes gerichtet, dem sie sich versprochen hatte, und der ihr begegnet war, um ihr Fels zu sein. Ein brüchiger Fels, der die Arme ausstreckte, der sich von ihr erbat, was sie nicht verstand.
Ihre Lippen öffneten sich in einer stummen Frage, die trotz allem und überraschend Antwort erhielt mit dem Eintritt Kevins. Für einen Augenblick glaube Anna, dass es nun ihre Pflicht sei, sich aus ihrer Lethargie zu reißen, dem Jungen den Anblick seines Vaters zu ersparen, ihrer Pflicht als Erwachsene nachzukommen. Doch war sie nicht imstande auch nur einen Finger zu rühren, einen Schritt zu machen, nur einen Laut von sich zu geben.
Und Kevin stoppte nicht einmal in seiner Bewegung. Er huschte an ihr vorbei, ließ mit einer fließenden Bewegung seinen Rucksack gegen die Wand rutschen, und näherte sich seinem Vater. Doch gerade als Anna sich versucht fühlte, ihn aufzuhalten, dem Jungen wenigstens ihrer Anwesenheit zu versichern, da hatte dieser bereits seinen Vater hinter sich gelassen, ohne ihm mehr Beachtung zu schenken, als er ihr schenkte. Rasch und doch ruhig öffnete Kevin erst die obere und dann die untere Schublade des Schreibtisches. Mit geübten Bewegungen entnahm er der einen eine schmale Spritze und der anderen ein kleines Fläschchen. Und bevor Anna noch registrieren konnte, was er tat, hatte er bereits den Arm seines Vaters abgebunden und die Nadel in dessen Haut gesenkt.
Anna schnappte erschrocken nach Luft, doch Matthias zuckte nicht einmal, als Kevin seine Tätigkeit beendete, die Spritze entsorgte und einen kleinen Wattebausch auf die Stelle presste, auf der sich ein kleiner, roter Tropfen bildete.
Das Geräusch, das Matthias von sich gab, ähnelte am ehesten einem Seufzen, als er mit bebenden Händen den Bausch übernahm, während Kevin sich abwandte und die nun nutzlos gewordenen Utensilien zu der Spritze in den Abfallbehälter warf.
Erst dann drehte er sich nach Anna um, und bewies ihr, dass er durchaus von ihrer Anwesenheit Notiz genommen hatte.
„Geschieht das öfter?“, fragte Anna heiser, als sie ihre Stimme endlich wieder fand. Kevin sah zu seinem Vater, der mit geschlossenen Augen in seinem Sessel saß. „Nicht oft“, meinte er dann und zuckte mit den Schultern. „Dinge passieren.“
„Ja“, wisperte Anna, als traute sie sich nicht, es zuzugeben. „So ist es wohl.“

Donnerstag, 3. September 2009

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autor: callisto24

* * *
Unterwegs

Der kleine Junge bemühte sich Schritt zu halten. Er lief weiter, obwohl er sich längst am Ende seiner Kräfte befand. Der Weg nahm kein Ende. Jeder kämpfte für sich alleine. Jeder einzelne von ihnen befand sich auf der Flucht. Jeder einzelne lief um sein Leben. Sekunden dehnten sich zu Minuten. Diese weiteten sich zu Stunden, endlosen Stunden.
Der Tag begann mit dem Aufgehen der Sonne. Sie gingen, und der Junge sah zu, wie die Sonne über den Himmel wanderte. Sie stieg langsam, jedoch unaufhaltsam, bis sie den Zenit erreichte. Genauso unaufhaltsam, wie sich die Menge an Menschen vorwärtsschleppte, bewegte der brennende Stern sich auf seiner ewigen Reise. Schritt für Schritt.
Die Straße endete nicht. Der Weg führte weiter und der Junge wusste nicht, wohin er führte. Er wusste nur, dass er dabei bleiben musste. Dass er darauf angewiesen war, diesen Weg zu gehen, ihn mit den anderen zu gehen. Dass er verloren war, wenn er aufgab. Man hatte es ihm erklärt. Deutlich erklärt und das wieder und wieder, solange bis er verstanden hatte. Er verstand immer noch, verstand den Gesichtsausdruck der Menschen, die mit ihm sprachen. Sie waren ernst, sie hatten Angst. Und Angst empfand er auch. Große Angst.
Die Geschichten, die er hörte, die er zufällig mit anhörte, erschreckten ihn. Und mehr als er sich noch etwas anderem bewusst war, so spürte er seine Defizite. Er spürte seine eigene Größe oder das Fehlen derselben. Der Junge war klein und er wusste es. Die Erwachsenen sahen auf ihn herab, wenn sie ihn ermahnten, wenn sie ihn dazu bringen wollten mitzuhalten. Oder auch, wenn sie einfach nur an ihm vorbei liefen. Mit gesenktem Kopf, müden Augen und zusammengepressten Mündern.
Jeder ging für sich alleine. Jeder versuchte sich zu retten.
Der Junge schaffte es nicht. Wenn der Tag begann, versuchte er sich vorne zu halten. Er wusste, wie wichtig es war, in der Menge zu bleiben. Er wusste, dass er ohne die anderen verloren war. Verloren in einer Welt, die aus Trümmern bestand.
Und tief in sich war er sich darüber im Klaren, dass es so nicht sein durfte. Dass die Welt anders aussehen sollte, dass sie einmal anders aussah.
Es musste einmal eine Zeit gegeben haben, in der nicht die Zerstörung herrschte. Eine Zeit, in der Flucht nur ein Wort war.
Der Junge fragte sich nicht wovor er floh. Von Soldaten hatte er gehört. Von Mord und Tod. Und Mord und Tod waren dabei ihm vertraute Begriffe zu werden. Ebenso wie der Krieg es war. Denn der Krieg begleitete ihn, solange er denken konnte, sein Leben lang.
Die Sonne wanderte weiter. Sie überschritt den Zenit, ließ die Schatten der Wandernden, den Schatten des Jungen länger werden. Und er wusste, was das bedeutete. Je größer sich die Schatten auf dem Grund dehnten, desto schwerer wurde es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nicht dass es sonst leicht wäre. Doch mit dem Beginn der zweiten Tageshälfte, wenn die Erschöpfung stieg, wurde es beinahe unmöglich, sich weiterzuschleppen. Nicht nur die Füße schmerzten, es war der ganze Körper. Jede Bewegung wurde zur Qual, jeder Meter ein Kampf. Ein Kampf, den der Junge drohte zu verlieren, jeden Tag von neuem. Immer öfter stieg in ihm der Wunsch empor, sich einfach auf den Grund sinken zu lassen, die müden Glieder auszuruhen, seinen schmalen Körper auf den rauen Stein der Straße zu senken, ganz egal wo er war, was sich unter ihm befand, und wohin er gehen sollte.
Doch er konnte nicht. Er durfte seiner Sehnsucht nicht nachgeben. Denn die Angst, die ihn umgab war größer, weitaus größer. Wenn er sich fallen ließe, so könnte er nicht mehr aufstehen. Nie wieder. Und die Dunkelheit würde ihn bedecken und ersticken. Denn die Dunkelheit wäre das Einzige, das ihm bliebe.
Denn dann wäre er alleine. Er wusste, dass die anderen nicht umdrehen konnten. Selbst wenn sie es bemerkten, selbst wenn sie es wollten. Sie konnten nicht umdrehen. Sie mussten weitergehen, so wie er weitergehen musste.
Vielleicht war der Krieg beendet, doch die Flucht war es nicht.
Und die Menge entfernte sich von ihm. Die Erwachsenen waren schneller als er, größer. Eine große, graue Masse, die unermüdlich vorwärtsschritt, die nicht aufzuhalten war, nicht aufgehalten werden wollte. Eine Masse, die sich über die Straße wälzte, weiter und weiter, ebenso wie die Sonne über ihm. Und doch begannen die Menschen das Licht zu vermissen, das von der Sonne ausging.
Das war gut so, denn jedes Licht erlosch früher oder später. Jedem Morgen folgte der Abend. Die Sonne bedeutete laufen, die Dunkelheit bedeutete Rast. Und wenn der Junge es schaffte, wenn er nicht versagte, wenn es ihm gelang, die sich immer weiter von ihm entfernende, graue Masse im Auge zu behalten und weiterzulaufen, dann würde alles gut. Wenn er nur weiterliefe In die Richtung, in der die anderen verschwanden, solange bis er sie einholte.
Denn einholen musste er sie. Der Junge war nicht schnell genug, um mit ihnen zu gehen. Seinen kurzen Beinen gelang es nicht mit ihrem Tempo mitzuhalten. Er blieb zurück, je weiter der Tag fortschritt. Unaufhaltsam, ebenso wie der Gang der Sonne unaufhaltsam war. Ebenso wie der Marsch der Menschen nicht gestoppt werden konnte.
Wovor sie auch flohen, es musste schlimmer sein, als dieser Weg, schlimmer als die Erschöpfung, als das nächtliche Weinen und das Stöhnen, das den vielen Kehlen entwich, die nicht mehr fähig waren, Worte zu bilden.
Angst trieb sie an, und Angst trieb den Jungen an. Die Angst davor allein zu sein, der schreckenerregenden, unvorstellbaren Gefahr alleine gegenüber zu stehen. Einer Gefahr, die so groß und so grauenvoll sein musste, dass der Krieg im Vergleich zu ihr nur noch zu einem Lebensumstand wurde.
Krieg erschreckte niemanden mehr. Häuser waren zerstört, Nächte in Kellern verbracht worden, das Geheul der Sirenen und das Nahen der Bombenflieger die einzigen Laute, die zählten.
Es blieb nichts als die Flucht und sie nahm kein Ende. Die Menge entfernte sich, die grauen Gestalten wurden kleiner und kleiner. Sie schrumpften, versuchten am Horizont zu verschwinden. Der Junge versuchte, sie aufzuhalten, doch er konnte es nicht. Sie gingen weiter, liefen ohne sich umzusehen.
Und so lief auch der Junge weiter, trotz seiner schmerzenden Beine, trotz seiner tauben Glieder, trotz des brennenden Durstes und des quälenden Hungers.
Er lief, weil er keine Wahl hatte, weil er weitergehen musste, weil es weitergehen musste. Auch wenn er nicht wusste, was es war.
Dennoch zwang es ihn vorwärts, bis die Großen selbst vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bis sie sich entschieden Halt zu machen, die Nacht willkommen zu heißen, ihre Gebete in die Dunkelheit zu schicken.
Dann kam er ihnen näher. Dann ging er langsam, Schritt für Schritt, auf die anderen zu. Unaufhaltsam, unermüdlich. Das war sein Leben.

Freitag, 28. August 2009

Gefängnis

Titel: Gefängnis
Autor: callisto24
* * *

Carmens Magen knurrte. Und das war gut so. Er sollte knurren. Er sollte schmerzen, sollte sich zusammenziehen, kleiner werden als eine vertrocknete Pflaume, klein genug, um den Ort, an dem er saß, in eine pervers nach innen gerichtete Wölbung zu verwandeln.
Carmen wusste, dass der Magen schrumpfen konnte. Und sie wusste auch, dass mit dem Schrumpfen der Hunger verschwand. Zu dumm nur, dass der ihrem Willen nicht gehorchte, nicht so gehorchte wie sie es sich erträumte. Denn der Hunger verschwand nicht. Die ekelhafte Gier nach Essen verblieb in ihrem Körper, verharrte in ihren Gedanken, so sehr sie sich auch bemühte, diese mit anderen, mit vernünftigen Wünschen zu ersetzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Hände sich um ihre Taille schlossen. Sie wusste, dass es möglich war. Andere aus der Gruppe hatten es ihr gezeigt. So wie sie ihr auch weitere Tricks gezeigt hatten. Wie man Essen in der Serviette verschwinden ließ, oder in der Hosentasche. Wie man nach der unentschuldbaren Sünde des nachgegebenen Heißhungers, die unerwünschte Nahrung wieder aus dem Körper bekam. Oder wie die eigene, hagere Gestalt versteckt werden konnte, verborgen unter weiter und warmer Kleidung. Denn weit musste sie sein, um den lästigen Fragen der gelegentlich auftauchenden Bekannten zu entgehen, die sich noch daran erinnern konnten, wie unförmig, wie schwabbelig sie einst gewesen war.
Warm musste sie sein, weil Mädchen wie sie ständig froren. Aber auch das war gut so. Frieren lieferte den Beweis, dass der Körper unnötige Fette verbrannte, dass er das Wenige, wohl Durchdachte an Nahrung, das sie sich gönnte, wieder loswurde. Nur eines konnte ihr die Gruppe nicht beibringen. Eine Lösung fand auch sie nicht. Eine Lösung für das, womit Carmen sich am meisten quälte. Der Gedanke daran. An das Essen. Die ständige zwanghafte Fixierung auf Nahrung, auf Speisen, roh oder zubereitet. Auf verbotene Speisen, auf Eiscreme und Schokolade. Auf Kuchen und Pommes, auf Frittiertes und mit Sahne Bestrichenes. Es waren Gedanken wie diese, die Carmen in den Wahnsinn trieben.
Sie konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr daran denken, sich nicht pausenlos, in jeder Minute, in jeder Sekunde den Geschmack auf der Zunge schmelzender Schokolade ausmalen. Das Gefühl der Zähne, die sich durch ein knackendes Gebäckstück bissen, die genüsslich kauten. Die nicht winzige Stückchen abbrachen, um die Zeit der Nahrungsaufnahme auszudehnen. Die nicht öfter kauten, als notwendig war, nur damit der Speichel floss, damit mehr Bestandteile der Speisen bereits im Mund zersetzt wurden, und damit die irrationale Hoffnung vermittelten, dass sie nicht in der verhassten Wölbung des Bauches landeten. Des Leibes, der, sobald er sich nach vorne wölbte zu einem Gegenstand des Schreckens wurde, zu einem widerlichen Anblick unter dem Carmen Höllenqualen litt. Und um den zu vermeiden, sie sich der selbstauferlegten Tortur der Essensverweigerung aussetzte, darauf verzichtete auch nur das Notwendigste, das Geringste, sogar das Kalorienärmste aller Lebensmittel zu sich zu nehmen.
Selbst ein solches wäre zu viel, blähte ihren Bauch unnötig auf, verwandelte sie in eine wandelnde Tonne, einen Schandfleck im Angesicht der Erde. Denn nicht nur der Bauch sprang jedermann wie eine Beleidigung ins Auge. Auch ihr Gesicht quoll an mit jeder Speise, die sie durch ihren Schlund rutschen ließ.
Als teigiges Mondgesicht quoll es ihr aus dem Spiegel entgegen, füllte zugleich ihre Arme und Beine mit unerwünschten Rundungen, ersetzte jedes mühsam verlorene Kilo mit hässlicher Widerwärtigkeit. Es half auch nicht, den Blick in den Spiegel zu vermeiden. Es half ihr auch nicht, den Versuch zu wagen, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Nein, so fett und ekelhaft sie sich auch fühlte, nach dem verabscheuungswürdigen Gefühl der Fülle stellte sich nur allzu rasch die Sucht nach mehr, nach viel mehr Essen ein. Sie wollte essen, essen, und das Gefühl des Hungers war willkommen, solange ihr der Anblick der Kugel vor ihrem Leib erspart blieb.
Von wegen Magersucht. Die Sucht nach Essen war es, unter der sie litt, immer leiden werde, denn mittlerweile glaubte Carmen nicht mehr daran, dass die sie ständig heimsuchenden Gedanken jemals ein anderes Thema finden könnten. Sie schwankten lediglich zwischen den Extremen, zwischen dem nagenden Hunger, und den peinlichen Selbstvorwürfen, dem Selbsthass, der mit einem schwachen Willen einher ging. Wäre sie weniger schwach, wäre sie stärker, so bliebe ihr Bauch flach, so zöge er sich nach innen, gäbe den Blick frei auf Rippen und Knochen, die noch erlaubt waren, vorzustehen. Der flache Bauch war den Hunger wert, die Besessenheit, die Besetzung der Gedanken. Er war es wert, für immer eingesperrt zu bleiben inmitten der Wände, die sie um sich selbst gebaut hatte, und die sie schützten vor den Einblicken anderer, schützten vor der Notwendigkeit sich selbst zu verlassen, über sich hinauszuwachsen. Wände, die sie sorgfältig in ihren Gedanken eingeschlossen hielten, die wie ein Gefängnis waren, kein Entkommen gewährten, keine Flucht, nicht einmal die vage Vorstellung einer Flucht zuließen. Und deshalb war es gut so. Deshalb war Carmen froh zu sein, wie sie war. Denn schließlich blieb dies die einzige Art für sie zu existieren. Zu mehr war sie nicht imstande. Mehr war sie nicht wert. Mehr hatte sie nicht verdient.
Sie wünschte nur, dass die Gedanken eines Tages ein Ende hätten.

Dienstag, 25. August 2009

Klassentreffen

Titel: Klassentreffen
Autor: callisto24


Alice hatte nie vorgehabt, ihre kostbare Lebenszeit mit einem Klassentreffen zu verschwenden. Bereits während ihrer Schulzeit war ihr klar gewesen, dass ein Klassentreffen so ungefähr das Letzte war, das sie in ihrer Zukunft sah.
Natürlich hatte sie ohnehin niemals viel in ihrer Zukunft gesehen. Die Erwartungen, die ihre Klassenkameraden still oder laut äußerten, die Pläne und Vorstellungen schienen Alice stets aus einer anderen Welt zu stammen, einer Welt, in die sie nicht eingelassen wurde. Selten spürte sie ihre Andersartigkeit derartig stark wie in den Momenten, in denen andere mit einer felsenfesten Sicherheit, von der Alice nur träumen konnte, ihren Lebensentwurf festlegten. Als ließe sich das Leben, die Entwicklung der Geschehnisse tatsächlich planen. Als habe man Einfluss auf die Dinge, die in der Zukunft warteten.
Wenn Alice daran dachte, dann nur in den negativsten aller Kategorien. Sie zweifelte nicht, dass ihre Mitschüler es schaffen konnten, ihre Pläne verwirklichten, aber sie blieb sich ebenso sicher, dass ihr eigenes Leben einem Trauerspiel gliche, dass ihre Zukunft nichts beinhalte, und vor allem nichts, das sich lohnte, guten Gewissens weiterzuerzählen.
Warum Alice also auf diesem ersten aller Treffen, nach mehr als 20 Jahren Schulabschluss auftauchte, war ihr selbst nicht klar. Nur, dass sie auf einmal dort war, zu ihrer eigenen Verwunderung und zu ihrer eigenen, spontan auftretenden Freude.
Es sollte kein Zufall sein, dass ein ausgedehnter Zeitraum wie dieser verstrichen war, bevor sich die Abschlussklasse zu einem Treffen bequemte.
Sicher gab es hin und wieder Anstrengungen, Aufrufe, doch scheiterten diese meist an dem vorherrschenden Desinteresse der potentiellen Teilnehmer.
Und nun, da Nägel mit Köpfen gemacht worden waren, nun, da sogar Alice, die Unauffällige, die Stille, mit deren Auftreten wohl kaum einer gerechnet hatte, das Gebäude betrat, wirkte alles vollkommen anders, als es jeder von ihnen wohl erwartet hatte.
Sie alle standen in der Mitte ihres Lebens, hatten diese vielleicht sogar bereits überschritten. Angabe, Illusionen und Träume verloren mit jedem Lebensjahr an Bedeutung, wurden je nach Charakter ersetzt mit Resignation oder der Hingabe an eine Karriere, ein Ziel, das alles bedeuten musste, sogar wenn es nichts bedeutete.
Alice sah sich um. Ihre übliche, eher unauffällige, wenn nicht gar schlampige Kleidung hatte sie durch eine Auswahl ersetzt, die ihr nicht ähnlich sah, an die sie seit ihrer Jugend nicht mehr gedacht hatte.
Sie trug einen Rock, einen leichten, hellblauen Sommerrock, der obwohl untypisch für ihre burschikose Art, ihr doch ein lange vermisstes, kaum noch in ihrem Gedächtnis vorhandenes Gefühl von Leichtigkeit vermittelte. Auf merkwürdige Weise fühlte sie sich beschwingt, losgelöst von ihrem trüben Alltag, und zu ihrer eigenen Verwunderung auch zurückversetzt in Zeiten, die wenngleich nicht viel zu bieten gehabt hatten, doch wenigstens den Anschein der Hoffnung in sich trugen.
Und zu ihrem Schrecken spürte sie auch die Begleiterscheinung in sich aufwallen, das niedrige Bedürfnis, sich zu verstellen, ein Bild ihrer Selbst zu erzeugen, das nicht der Wahrheit entsprach.
Lange schon war sie nicht mehr auf diese Versuchung hereingefallen. Schwer genug war es ihr gefallen, die Folgen und Auswüchse dieser tiefsitzenden Tendenz zu erkennen, abzuwägen und schließlich als des Dramas nicht würdig, dass sie unweigerlich hervorriefen, einzuordnen.
Alice war einen langen Weg gegangen, einen schwierigen Weg, der sie immer wieder gezwungen hatte innezuhalten, ihre Richtung zu überdenken und zu ändern, ihre Pläne auf den Müll zu verwerfen, und ihre Entscheidungen tief zu bereuen.
Nicht dass dieses unerwartet kam. Alice wusste immer, dass sie schwach war, wusste immer, dass der Zweifel als ihr ständiger Begleiter Hindernisse in den Weg warf, denen andere Menschen ohne sie überhaupt wahrzunehmen, geradezu spielerisch, auswichen.
Doch vielleicht und nur vielleicht behielten die Stimmen recht, die ihr erzählten, dass sie auch gewänne. Dass jede Schwierigkeit, die sie überbrücken konnte, Alice einen Schritt weiterbrachte in der Ausbildung ihrer Persönlichkeit.
Und warum sollte diese so falsch sein?
Alice hatte gehört von Klassentreffen. Sie kannte die Geschichten derer, die unglücklich zurückgekehrt waren, die ihr Leben von einer anderen Warte betrachteten, nachdem es den Vergleich mit dem Leben jener aushalten musste, die einen Ausgangspunkt für sich beanspruchten, der nicht allzu weit von ihrem entfernt war.
Und von diesem Vergleich enttäuscht zu sein, fiel nicht schwer. Selbst unter der Voraussetzung, dass jeder bestrebt war, sich das eigene Leben so perfekt als möglich zu reden.
Es war nicht schwer die Defizite zu erkennen, wenn sie wieder und wieder unter die Nase gerieben wurden. Glückliche Familien, zahlreiche gesunde Kinder, große Häuser, Erfolg im Beruf und im Privatleben beanspruchte jeder einzelne für sich. Vielleicht wurden Scheidungen verschwiegen, vielleicht Reisen aufgebauscht, Karrieren zu ballonartiger Größe gedehnt, doch für jemanden, dessen Leben dem Durchschnitt näherkam, als er es je erwünscht hatte, bedeutete die Betrachtung der Lebenswege einstiger Gleichgestellter, nur den Beginn einer andauernden Depression. Ging es doch von diesem Abend an nur noch bergab, zurück in ein Leben, das weder Erwartungen, noch hochfliegende Träume erfüllte. In ein Leben, das sich von Alltagsdrama zu Alltagsdrama hinzog, gespickt mit all den kleinen, unauffälligen und doch so zeit- und nervenraubenden Ärgernissen, die damit einher gingen.
Alice seufzte auf. Vielleicht lag genau darin ihr Vorteil. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie diese Träume nie gehegt hatte, die es ihr unmöglich machten, selbst im Angesicht eines Vergleiches enttäuscht zu sein.
Jede Karriere, jede noch so schöne Villa, jedes perfekte Kind, passte nicht zu ihr, hatte nie zu ihr gepasst und würde niemals zu ihr passen. Sie war nicht der Mensch, der sein Leben mit Zielen anfüllte. Ebenso wenig wie sie der Mensch war, der jemals erwarten konnte, auch nur eines dieser Ziele zu erreichen. Sie blendete dergleichen aus, die Vorstellung, den Traum, den bloßen Gedanken daran.
Und es funktionierte, wusste sie doch, dass jede Realität sich anders gestaltete, als das Bild von ihr.
Sie wusste, dass sie in einer Villa nicht glücklich werden konnte, wusste, dass eine Karriere, die nichts bedeutete, sie erschöpft und leer zurückließe. Und sie wusste, dass das perfekte Kind durchaus in der Lage war, sie in den Wahnsinn zu treiben.
Das war nicht ihre Welt, nie gewesen. Und so war auch die Schule nie ihre Welt gewesen, die Zukunft nicht für sie, das Leben ein Leben, das sie nicht führte.


Alice blickte sich in dem engen, dunklen Gang um, der weder einladend wirkte, noch darauf schließen ließ, dass er zu einem Ort führte, der auch nur annähernd als das passende Umfeld einer Festivität wie der geplanten durchging.
Als Alice in den Raum trat, lüftete sich das Geheimnis, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Denn zu ihrem Erstaunen erkannte Alice, dass der ebenso dunkle, als auch enge Raum, in den sie gelangte, definitiv nicht zu weitläufig bemessen war für die geringe Anzahl an Besuchern, die sich in den provisorisch aufgebauten Sitzgelegenheiten lümmelten.
Alice fühlte sich einmal mehr zurückversetzt in ihre Jugendzeit, als sie die Polster und Matratzen erkannte, die ähnlich einer lockeren Party-Ausstattung locker an die Wände stießen.
„Alice!“ Die Angesprochene drehte sich um und erkannte Birgit, die ihr eifrig zuwinkte. Sie nickte pflichtschuldig, fragte sich einmal mehr, warum dieses Mädchen… diese Frau… korrigierte sie sich, einen derartigen Narren an ihr gefressen hatte. Seit zwanzig Jahren waren sie sich nicht mehr begegnet, und doch erschien ihr die Frau um keinen Tag gealtert, zudem enthusiastischer denn je zuvor.
Die kleine Brille mit den runden Gläsern wippte auf ihre Nasenspitze, als sie zu Alice hinüberlief. Nicht einmal ihre Kleidung hatte sich geändert, doch mit einem kurzen Blick auf ihren Rock entschied Alice sich in Erwägung zu ziehen, dass auch bei der anderen nostalgische Gründe den Ausschlag gegeben haben konnten.
„Ist ja toll, dass du gekommen bist“, platzte Birgit heraus. „Das waren noch Zeiten damals, nicht wahr. Wir haben uns ja…“ Sie runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, räusperte sich dann. „Wir haben uns wohl nur einmal gesehen seit damals.“
Alice senkte den Blick und versuchte ein Erröten zu vermeiden. Es war keiner ihrer besten Momente gewesen, in dem Birgit ihr damals über den Weg gelaufen war, sie mit der ihr eigenen Direktheit und der positiven Erwartungshaltung, die sie jedem gegenüber stets zur Schau trug, nach ihrem Werdegang befragt hatte.
Alice war ehrlich gewesen, wenngleich vielleicht sogar negativer, als sie sich selbst gefühlt hatte. Andererseits, ausgestattet mit dem ausreichenden Pegel Alkohols im Blut kam einem die eigene Lage nie so übel vor, wie sie anderen gegenüber vielleicht erschien.
Birgits Augen hatten sich geweitet, und doch bemerkte Alice den inneren Schritt, den diese zurückwich, auch wenn ihr Körper diesen nicht in die Tat umsetzte.
„Wie tief kann frau sinken?“, hatte Alice mehr im Spaß gemurmelt, und doch von Birgit nichts als den Versuch einer Ermunterung erhalten.
Umso erstaunlicher, dass die andere ihr so freimütig gegenübertrat, und ohne zu zögern einen Kontakt wieder aufnahm, den Alice für endgültig abgebrochen gehalten hatte, ebenso wie alle anderen Kontakte aus dieser Zeit, an die sie sich noch erinnerte.
„Schön, dich zu sehen“, wiederholte Birgit erneut und strahlte über ihr freundliches Gesicht.
„Ist auch schön, dich zu sehen“, erwiderte Alice wärmer als sie sich verpflichtet fühlen wollte, konnte jedoch nicht umhin ihre Aufmerksamkeit von der anderen weg und auf die übrigen Gäste zu richten.
Und wie Alice zu ihrem Schrecken, ebenso wie zu ihrer Erleichterung erkennen konnte, blieben ihr die Gestalten, die sich auf den unüblichen und definitiv kaum altersgemäßen Sitzgelegenheiten tummelten, fremd. Weitestgehend fremd. Hin und wieder sprang sie eine Erinnerung an, jedoch verschwommen genug und ohne Bezug zu einem Wort, geschweige denn einem Namen, als dass Alice diese ernst nehmen konnte.
Bis sie ihn sah, Helmut. Ihr Sitznachbar über lange Jahre hinweg, ihr Freund. Und ebenso wie Birgit hatte auch er sich kaum verändert. Selbst wenn es unter dem dämmrigen Licht schwer auszumachen war, so konnte Alice doch weder graue Strähnen noch schwindenden Haarwuchs ausfindig machen.
Selbst der Drei-Tage-Bart, den er während seiner Schulzeit gewohnt gewesen war zu tragen, war geblieben. Ebenso wie seine Lässigkeit. Die langen Glieder beiläufig ausgestreckt, lehnte er gegen die Wand, vertieft in genau der Art von Scherzen aus einer anderen Zeit, an die Alice sich weigerte zu denken. Die Frauen neben ihm lachten, und Alice wand sich ab. Jedoch nur für einen Moment. Unsichtbare Fäden zogen sie zurück zu ihm, zu der Betrachtung seines Verhaltens, seiner Bewegungen, seinem Wesen, das sich in zwanzig Jahren nicht um einen Deut geändert hatte.
Und dann erblickte er sie, erkannte sie, lächelte. Alice starrte zurück, als Helmut ihr winkte, und mit wenigen, für Alice unverständlichen Bemerkungen zu seinen Sitznachbarn einen Platz für sie freischaufelte.
„Hallo.“ Ihre Stimme klang belegt und sie verfluchte sich für das Zittern in ihren Knien, über das sie sich seit Jahrzehnten erhaben geglaubt hatte.
Er nickte und reichte ihr seine Hand um sie neben sich zu ziehen. Und Alice fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als eine Berührung ihr Herz zum Flattern gebracht hatte.
Unsicher tappte sie vorwärts, ließ sich dankbar auf die Kissen sinken, zog ihre Beine an, wurde sich des ungewohnten Gefühls bewusst, dass sie einen Rock trug, dass sie ihre Beine schließen und nicht jeden Blick erlauben sollte.
„Wie geht es?“, fragte er kurz, und lächelte bereits jemanden an, der hinter ihrer Schulter auftauchte.
Alice nickte, wusste, dass Worte nicht notwendig waren, dass diese vermutlich nicht einmal wahrgenommen wurden, so wie ihre Worte selten wahrgenommen worden waren. Nicht, wenn es darauf ankam. Nicht von ihm.
Neben ihm, leise und unbeweglich, stumm lächelnd fühlte Alice sich einmal mehr zurückversetzt, zurückversetzt in ihren Albtraum, in die Zeit, das Leben, das sie überwunden, hinter sich gelassen hatte.
Sie wollte nicht, konnte nicht noch einmal dorthin. Und gleichzeitig stiegen Blasen der Albernheit in ihr auf, tanzten durch ihr Blut, erreichten ihren Kopf und erweckten in ihr das Bedürfnis zu kichern, nein, zu lachen, sich lustig zu machen über alles dies. Über die lächerliche Ansammlung mittelalterlicher Gestalten, die versuchten ihre Jugend zurückzuholen, oder – und bei weitem schlimmer – die versuchten, sich selbst und ihr Leben zu erhöhen, indem sie darauf warteten, dass andere sie bewunderten, mit leeren und bedeutungslosen Floskeln die Anstrengungen anerkannten, mit denen sie die vergangenen Jahre verbracht hatten.
Nicht notwendig. Dies war nicht notwendig. Alice brauchte das nicht, brauchte sie nicht. Sie wusste genug über sich, über ihr Leben, über die Wahrheit, um zu sehen, dass sie weiter war, als all diese Menschen, mit denen sie einst ein Klassenzimmer geteilt hatte, die Angst vor den Prüfungen, die Unsicherheit im Hinblick auf das was geschehen würde.
Kinder einer Zeit, die noch die unmittelbaren Folgen des Atomkrieges gefürchtet, die noch geglaubt hatten, dass sich die Ungerechtigkeit und der Hunger in der Weld bekämpfen ließ. Kinder für die Aids ein unbekannte Größe und der Klimawandel noch kein Begriff war.
Alice schüttelte den Kopf. Es war nicht leichter gewesen, aber vielleicht auch nicht schwerer.
Sie fand sich wieder mit den Fotos in der Hand, die sie bei sich trug. Zur Vorsicht, falls ihr die Gesprächsthemen ausgingen, falls sie selbst eine Erinnerung daran benötigte, dass es noch eine Welt außerhalb eines Klassentreffens gab, außerhalb von Erinnerung und Selbstdarstellung.
Und sie sah, dass er sie bemerkte, dass Helmuts Blicke wie von ungefähr über die Fotos wanderten, über die Savannen Afrikas, über das Elend in den Dörfern und über ihren Sohn, dessen dunkles Gesicht leuchtete in der strahlenden Sonne des Nachmittags. So viele Gesichter, so wenig zu sehen. So viel zu erklären, so wenig Gelegenheit. So wenig Interesse. Interesse ihrerseits.
Alice schüttelte den Kopf, suchte ihre Bilder zusammen. Und in diesem Moment zog Helmut sie hoch, beiläufig, und im Bestreben die Plätze zu wechseln, dem Wink der Clique nachzukommen, die sich in der gegenüberliegenden Ecke verschanzt hatte.
Und Alice hielt sich fest, hielt mit einer Hand Helmuts, mit der anderen ihre Fotos. Vielleicht ein wenig zu fest. Vielleicht ein wenig zu bestrebt, dem Mann zu folgen. Beinahe fühlte sie, wie sich Helmuts Muskeln anspannten. Glaubte zu spüren, wie dieser mit dem Gedanken rang, die unliebsame Gesellschaft, die ihm bereitwillig zu folgen schien, abzuschütteln.
Und wieder lächelte sie, folgte ihm, schmiegte sie an ihn, ein wenig zu nahe, ein wenig zu aufdringlich, bevor sie sich an ihm vorbeidrängte.
Alice nickte Birgit ein letztes Mal zu, die irritiert zu ihr aufsah, und lief beinahe leichtfüßig in Richtung Ausgang. Das hier brauchte sie nicht. Es war vorbei und vergessen. Und so war es gut. Richtig gut.

Montag, 24. August 2009

Seele

Titel: Seele
Autor: callisto24
* * *
Seele


Die Frau zweifelte nicht zum ersten Mal an sich selbst. Der Zweifel war seit jeher ihr ständiger Begleiter. Sie erkannte ihn, sobald auch nur sein Schatten an ihr vorbeihuschte, entfernt und verstohlen, als sollte sie ihn nicht wahrnehmen, als wolle er sich vor ihr verbergen.
Die Frau begrüßte den Zweifel wie einen Freund. Er half ihr, regte sie an, entlockte ihr Geheimnisse, von denen sie nicht wusste, dass sie diese in sich trug. Denn hinter allem, was sie tat, was sie empfand, was sie dachte, standen Geheimnisse, und es blieb ihre Aufgabe diese aufzudecken und zu enthüllen, was in den finsteren Abgründen ihrer Seele schlummerte.
Wer war sie, und wichtiger noch: wollte sie dies auch wirklich wissen? Die Antwort blieb nicht selten aus, wurde fortgeschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Der Mensch war nicht gezwungen alles zu erkennen, konnte nicht in jeden Abgrund steigen, der sich vor ihm auftat.
Nichts und niemand in ihrem Leben hatte ihr je die Frage beantworten können, die eine Frage. Die Frage, auf die es ankam. Und die Chancen standen gut, dass die Antwort nicht existierte, für keinen Menschen auf dieser Welt. Sie war gezwungen, wie jeder andere zu stückeln, kleine Offenbarungen zu sammeln und zusammen zu puzzeln in der Hoffnung, dass sich der Hauch einer Erkenntnis eines Tages vor ihren Augen entfaltete. Denn winzige Erleuchtungen blitzten von Zeit zu Zeit wie Leuchtfeuer vor ihr auf, und wenn sie nach ihnen greifen konnte, bevor sie wieder verschwanden, so blieben diese wie Lichter, die in ihrem Herzen brannten.
Lichter, die sie selbst zeigten, so wie sie wirklich war. Die das Verborgene in ihr an den Tag brachten, so seltsam und so unglaublich ihr dieses im ersten Moment auch erscheinen mochte.
Sie trug all diese Persönlichkeiten in sich, all die Charakterzüge, all die widerstreitenden, sich gar widersprechenden Wesen, die ihr manchmal nicht nur unangenehm, sondern direkt zuwider waren. Es hatte lange gedauert, bis ihr klar geworden war, dass jedes dieser Wesen einen Teil von ihr selbst darstellte, einen manchmal verschütteten, doch stets wahrhaftigen Teil dessen, was andere ihre Seele nannten. Und es gab derer mehr. Unentdeckt schliefen sie ihn ihr. Aufgeweckt durch einen leisen Atemzug oder aufgeschreckt mit Hilfe einer gewaltigen Explosion zeigten sie ihr Gesicht. Manches Mal mit angeberischem Gehabe und manchmal verschämt. Manches Mal wich sie vor diesem Gesicht zurück, verleugnete seine Züge. Und manches Mal dauerte es nur, bis sie seine wahren Inhalte erkannte. Dann brauchte sie Zeit, um darüber nachzudenken, um sich dieselben Fragen wieder und wieder zu stellen, bis sie zu einem Ergebnis gelangte, mit dem es sich anzufreunden lohnte.
So war es damals gewesen, als ihr zum ersten Mal die Augen geöffnet wurden. Damals, als sie feststellte, dass die Bilder, die ihr Herz höher schlagen ließen, nur ein Spiegelbild ihrer Seele waren. Eines der unzähligen Spiegelbilder, die facettengleich eine Unbekannte formten, die sie jeden Tag von Neuem kennenlernte.
Natürlich gab es auch zuvor Gestalten und Formen in ihrem Leben, die ihr halfen, die Schmetterlinge in ihrem Bauch loszulassen, bis sie mit sanftem Kribbeln das Glück hervor kitzelten, das vielleicht nur Bruchteile von Sekunden dauerte. Doch dessen Nachwirkungen im Besten aller Fälle Jahre anhalten konnten, ihr über diese langen Jahre halfen, und ihrem Leben den Hauch an fehlender Würze verliehen, ohne den es nicht lebenswert war.
Sie hatte sie kennengelernt, die nostalgischen Spiegel, die einen Verlust ausglichen, an den sie sich niemals gewöhnen konnte. Die zukunftsweisenden Blitze, die von dem sprachen, was sie sich erhoffte, oder nicht bewusst wagte zu erhoffen.
Und die vagen Bilder einer schwebenden Vorstellung, die weder zu greifen, noch zu deuten war. Damals noch nicht.
Es hatte lange gedauert, doch nun wusste sie es, kannte den Auslöser, der ihre Wahl bestimmte. Oder die Auslöser, die sich abwechselten, die manchmal rasch auf rasch folgten, unbeständig und wenig dauerhaft wie die Schmetterlinge, die sie anzurühren vermochten.
Ein hübsch geschnittenes Gesicht reichte aus, eine glänzende Haarsträhne, die keck in die Stirn fiel. Eine Träne im Augenwinkel oder ein dunkles Geheimnis, das zu ertragen, die Figur, um die es ging, nicht mehr in der Lage war.
Die Frau liebte das Leid. Das Leid, das ihr Schönheit bescherte, das ihre Gedanken in Gang setzte, ihre Phantasie entzündete, bis sie sich von den Zwängen und Bändern der irdischen Existenz lösten, Neues erschufen. Mit viel Glück Neues, das für die kurzen, kribbelnden Momente sorgte, um die es ging.
Doch als sie sich veränderte, wuchs die Irritation. Irritation aufgrund der zufälligen, wenngleich nicht völlig zufälligen Auswahl des Gegenstandes ihrer Konzentration.
Zum ersten Mal sah sie nicht mehr sich im Spiegel. Sie sah nichts, das sie an ihr eigenes Wesen, so wie sie es einschätzte erinnerte. Und nichts, das sie bereit war zu sehen. Keine Erinnerungen, keine Hoffnungen. Weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern grobe, schlichte Wahrheit. Unfreundliche Wahrheit. Nichts, das sie sehen wollte. Denn ihre Gedanken wurden gefesselt von den Äußerlichkeiten, die sie stets verabscheut hatte. Von Gewalt, Wahnsinn und Brutalität. Von Rücksichtslosigkeit und fragwürdiger Moral. Überaus fragwürdiger Moral.
Dieser ins Auge zu sehen, gelang ihr nicht, wollte nicht gelingen, so sehr sie es auch versuchte. Bis sie erkannte und akzeptierte, dass auch was sie ablehnte, zu ihr gehörte, ein Teil ihres Inneren war, ein Teil des Wesens, das sie ausmachte. Und dass es ein Zeichen war, ein Hinweis auf lange Begrabenes, das sie unbewusst verfolgte, beeinflusste, in falsche Richtungen trieb. Bis sie es an der Zeit fand auch diesen Teil ihrer Selbst zu umarmen. Bis sie erkannte, was tief in ihr steckte, und was danach schrie ins Freie zu gelangen.
Es gelangte ins Freie, er gelangte ins Freie, der Teil von ihr, der seine Ungeduld nicht zügeln konnte, der in der Wut die Lösung erkannte, in der Aggressivität eine Tugend, einen Auslöser, Dinge zu bewegen. Ein Leben lang ausgebremste Energie brannte darauf ans Licht zu gelangen. Falsche Ziele, erzwungene Geduld, quälendes Büßertum gehörten der Vergangenheit an. Der Vulkan war entfesselt, zumindest in der Theorie. Vielleicht befand er sich auch nur im Prozess des Ausbruchs, aber es half, befreite, wies einen Weg.
Bis es zu Ende war. Bis die Flatterhaftigkeit ihrer Vorlieben die Konzentration schrumpfen ließ, und weiter schrumpfte, bis sie verschwand. Und sie glaubte ernsthaft, dass sie ihn nicht mehr brauchte, diesen Spiegel, sobald sein Bild freigesetzt war, seine Bedeutung erkannt, nicht mehr vonnöten war.
Und so wanderte sie zum nächsten Spiegel. Und zum nächsten. Kurze Flammen, die rasch wieder erloschen, und die sie verwirrter zurückließen, als sie je zuvor gewesen war.
Da flackerte der Gedanke des Fliegens in ihr auf, der Wunsch nach Befreiung oder nach einer starken Hand, der es gelang, sie von Zwängen zu erlösen, in die Lüfte zu erheben.
Oder der Charakter des Zwielichts, der Unsicherheit, die darauf hoffen ließ, dass die richtige Seite gewählt, den Gefühlen nachgegeben, Emotionen ausreichend Bedeutung eingeräumt wurden. Eine Gradwanderung, die doch trotz des unsicheren Balanceaktes auf der Kante der moralischen Integrität, hin und her gerissen wurde zwischen schmeichlerischer Versuchung, attraktiver Schale, verlockender Süßigkeiten und der Liebe, die zur Integrität wies oder zur bedingungslosen Hingabe an das Gute.
Sie mochte es nicht. So wollte sie nicht sein. Sie suchte den Abgrund, das moralisch Verwerfliche, den Zweifel, der sie über Jahre umgetrieben hatte. Doch die Verlockung, die ihr Spiegelbild in seinen Bann riss, zog auch sie an. Gefangen von Äußerlichkeiten, von Schönheit und offen gezeigter Zuneigung, verlor sie sich in der Vorstellung einer Perfektion, die keine war. Denn trotz aller Illusionen erkannte sie das Dilemma, auf das sie zusteuerte. Es war die zweite Hälfte des Bildes, das noch kein Ganzes ergab, und sich doch von Sekunde zu Sekunde emanzipierte. Und sie verstand nicht warum. Sie verstand nicht, was es war.
Die Optik half, die kleinen Schwächen halfen. Die Freundschaft half. Doch im Weg standen Jugend, standen Scham und eine Einschätzung, die kindliches Verhalten und Naivität als Entschuldigung für vage Sorgen wertete. Womit sie einst gekämpft hatte, mit dem moralischen Dilemma, kämpfte sie nun wieder. Doch diesmal hatte es seinen Weg aus der fiktiven in die reale Welt gefunden, wodurch es schwerer wog, schwerer als sie mit ihren neu erworbenen Erkenntnissen für möglich gehalten hatte. Denn immer noch hing sie, klammerte sie sich an die Ideale, die ihr in die Wege gelegt, die ihr vorgebetet worden waren, und die sie verinnerlicht hatte bis zur Grenze der Selbstzerstörung.
Was hatte es zu bedeuten, wenn sie jetzt an diesen Idealen rüttelte, die sie niemals ins Schwanken bringen wollte? Was hatte es zu bedeuten, dass sie unbewusst nach Akzeptanz in sich selbst suchte. Nach Akzeptanz einer nicht zu akzeptierenden Facette der ohnehin bereits auf schwachen Füßen stehenden Leidenschaft. Jedesmal, wenn sie mit der Nase darauf stieß, erzitterte die Frau innerlich. Übelkeit stieg in ihr auf, tötete die Schmetterlinge, die kaum noch wagten, an die Oberfläche zu gelangen.
Doch es steckte noch mehr dahinter. Was sie zuvor verstanden und für bare Münze gewähnt hatte, entzog sich ihrem Griff in mehr als einer Hinsicht. Die Anziehungskraft erreichte eine neue Ebene, eine andere, eine, die sie nicht verstand und sich nicht erklären konnte.
Und diese wurde genau in dem Moment erreicht, in dem sich zu dem Bild noch eine weitere Facette gesellte, eine sündhafte, geheime Komponente, die sie zwang, Stillschweigen über diese zu bewahren.
Obwohl die Sünde, die sie selbst fürchtete, nicht existierte. Sie war nicht notwendig, und sie fehlte nicht. Alles war anders in dieser Welt des Fiktiven, alles leichter und liebevoller. Keine Gewalt, keine Brutalität, keine Zwänge denen es zu entfliehen galt. Stattdessen nur die frei tänzelnden Phantasien, die sich miteinander verwoben, in zarte Gebilde verwandelten, deren Helligkeit über allem anderen schwebte.
Kleine, schwache und doch so raffinierte Anstöße hielten das Gebilde in Bewegung, hielten sie in Schwung und die Schmetterlinge am Tanzen. Ein vollkommen unerwarteter Effekt, flatterten die unzähligen Flügel in ihrem Inneren doch über ungewohnte Ländereien. Ländereien, die nicht Spielball des animalischen Urtriebes waren, den sie bislang verantwortlich gezeichnet hatte. Eine Spielwiese, die sich loslöste und neue Pfade ging. Auf der sie sich rollte und Purzelbäume schlug, in vager, ungewisser Unschuld. Denn dass dort etwas lauerte, bezweifelte sie nie.
Etwas Drohendes, Dunkles, das in sich zu akzeptieren sie nicht bereit war. Nicht mit dem Bild, das sie von sich selbst malte, nicht nach allem, was sie vor sich selbst zugegeben und gestanden hatte.
Es konnte nicht der Wunsch nach Kindheit sein, oder die Sehnsucht nach einer Jugend, die über der glatten Oberfläche des tiefschwarzen Sees glitzerte. Sie wusste, was sie nicht wollte. Und sie war sich sicher, dass sie dies nicht wollte, nicht wollen durfte.
Denn vielleicht war es zu schmerzhaft die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht wünschte sie sich zurück in eine Zeit, in die eine Geschichte wie diese gepasst hatte. Vielleicht spielte die unbewusst und doch unabänderlich ablaufende Parallele ihres Lebens eine Rolle, die sich nicht mehr leugnen ließ. Vielleicht sah sie diesmal nicht sich, sondern jemand anderen. Vielleicht verlief die Identifikation mit einem gänzlichen unerwarteten Charakter. Vielleicht wünschte sie sich bedingungslose Liebe, die zurückzuweisen ihr offen stand.
Vielleicht brach auch nur ihr Herz im Angesicht der dunklen Stunden, die sie vor ihrem inneren Auge sah, die sie nicht wagte zu erforschen, und die doch ständig präsent waren.
Sie wusste, was sie nicht wollte. Doch was sie wollte, wusste sie nicht.
Wollte sie ihn? Dass er sie umarmte, an sich zog und liebkoste? Wollte sie Seelenverwandtschaft, Unfertiges und die Rückkehr in eine Welt, die sie nie gekannt hatte?
Oder wollte sie nur ihn, nur den Körper, nur das Haar, nur die Augen. Wollte sie getragen und gehoben werden, von ihm? Von einem Jungen, der so gar nicht zu ihr passte, der so anders, so vollkommen anders, so unmöglich zu erreichen war?
Wollte sie ihn, gerade wegen der Frage der Moral. Gerade weil sie an ihm zweifelte und an seinen Motiven? Wollte sie ihn, weil er den Gegenpol darstellte, eine vollkommen andere Auffassung, eine Kindlichkeit, der sie entwachsen war und die sie ablehnte, wenngleich Kindlichkeit doch zu ihrem Wesen gehörte?
Wollte sie ihn, obwohl sie ihm widersprach? Obwohl dieser Streitpunkt existierte, diese naive Aggressivität, die ihr widersprach. Diese Dummheit. Vielleicht wünschte sie von dieser Dummheit zu kosten, von diesem puren, gedankenlosen Idealismus. Sich diesem hinzugeben, die Zweifel beiseite zu werfen, und frei von Schuld ihm die Liebe zu geben, die sie niemandem gab. Nicht wirklich. Die sie aufsparte, die sie nie erwartete, weiterzugeben. Die sie nie erwartet hatte, in die Realität umzusetzen.
So unvorstellbar, so unverständlich es sein mochte, vielleicht lag dort der Haken. Sie fürchtete ihn nicht. Er war zu jung, um ihn zu fürchten. Zu bedürftig, als dass sie ihm anderes bieten konnte als Schutz und Trost. So klein, und doch so dunkel, so schwermütig und traurig. Sich selbst sehnend nach der Liebe. Doch nicht nach ihrer, das wusste sie.
Verboten – und doch existent. Vielleicht erkannte sie es, wenn die Schmetterlinge sie verließen, den Käfig verließen, in dem sie ihre flatterhaften Gefühle bewahrte.
Und es funktionierte wirklich. Sie wollte ihn, mit all seinen Unzulänglichkeiten, Fehlern. Trotz und entgegen aller Widerstände, die sich vor ihr auftürmten, wollte sie ihn. Wollte ihn für sich. Seine Arme, seine Lippen, seine Haut auf ihrer. Wollte ihn ganz und gar. Und indem sie es zugab, flog ihre Seele in den Himmel.