Titel: Stein
Autor: callisto24
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Konstanze und ihr Traum
Die Landschaft wirkte schön. Obwohl man sie eigentlich kaum eine Landschaft nennen konnte. Zu künstlich, zu verbaut war die Gegend, eine gigantische Fläche voller Gebäude, gestutzter Bäume, Hecken und Zierpflanzen. Gerade Straßen wechselten mit gepflegten Gehwegen. Breite Pfade, perfekt gemähte Wiesen, Mauern, Häuser, die einen Begriff schrien: Universitätsgelände. Und zwar eines der Gelände, die sich in den besseren Teilen der Stadt befanden, vielleicht des gesamten Landes. Kein Wunder also, fühlte sie sich ein wenig fehl am Platze. Doch so war es nicht. Ob es daran lag, dass sich bei genauerer Betrachtung insbesondere des Inneren der Gebäude, zunehmend Fehler im Gesamteindruck einschlichen? Vielleicht wirkten die Häuserfronten von außen teuer und elegant, doch im Inneren der Mauern erkannte man nur allzu schnell das historische Erbe, das seinen Tribut forderte. Übertünchte Risse in den Wänden blieben die deutlichsten Anzeichen. Die unmodern hohen Decken, die altmodisch ausgetretenen Steintreppen mit ihren kunstvoll verzierten, wenn auch deutlich abgenutzten Geländern, erzählten von vergangenen Jahrzehnten, von der Geschichte, die in dem altehrwürdigen Fundament mitschwang.
Beim Eintritt atmeten wir weniger Komfort denn Wissen. Das Wissen, das in diesen Mauern wohnte, was gelehrt wurde, und um welches aufzunehmen, wir uns hier befanden. Welches aufzunehmen wir unsere Quartiere bezogen. Wie in der guten, alten Zeit, wie es sein sollte, wenn die Notwendigkeit bestand, das Elternhaus, das alte, vergangene Leben hinter sich zu lassen, um Neues zu suchen und zu finden. Und so lebten wir in den Räumen des einen Gebäudes, während wir täglich aufbrachen, um die weiten Wege zu beschreiten, die zwischen hohen Mauern hindurch zu stets unterschiedlichen Zielen führten.
Eigentlich wusste Konstanze nicht, warum sie sich hier befand. Sie konnte sich nicht erinnern, eine Entscheidung getroffen haben, schon gar keine, die sie zu diesen Konsequenzen führte. Obwohl sie nicht unbedingt unzufrieden war, und dies zu ihrem eigenen Erstaunen. Denn war ihr doch lange Zeit zumindest klar gewesen, dass sie mit dem Prinzip der Weiterbildung, ja des Lernens als solches, nichts mehr anzufangen wusste. Doch offenbar hatte sich dieser Zustand buchstäblich über Nacht geändert und sie stand der Bildung und insbesondere ihrer persönlichen Weiterbildung nicht mehr so negativ gegenüber, wie sie es gewohnt gewesen war.
Die Regeln lagen klar auf der Hand. Das gesamte Szenario wirkte nicht viel anders als Schule, als der trockene Ablauf schematischer und längst in Stein geschlagener Stunden- und Tagespläne. Und doch fühlte sie sich nicht vollkommen unwohl. Das zunehmende Alter schenkt den Umständen eine gewisse Lässigkeit, der man sich nicht entziehen, die zur Freude gereichen, oder wenigstens das Leben erleichtern kann, räumt man ihr nicht zu viel Macht ein. Was sie nicht tat, niemals getan hatte. Sie war immer äußerst pflichtbewusst zu Werke gegangen, hatte sich nicht irritieren lassen von Kleinigkeiten oder Ablenkungen. Ihrer Wirkung auf andere war sie sich immerzu gerade schmerzhaft bewusst gewesen. Dies folgt automatisch der Gewohnheit, sich permanent in fremde Köpfe hineinzudenken, so unangenehm, schmerzhaft und erniedrigend eine Erfahrung wie diese auch sein mochte.
Und so wunderte es Konstanze auch nicht, in dieser speziellen Situation dem Gefühl nicht entgehen zu können, als eine Musterschülerin und ein braves Mädchen in die Annalen der Ausbildungsstätte einzugehen.
Bis zu diesem besonderen Vorfall. Und dieser stellt sich in mehr als einer Hinsicht als merkwürdig heraus. Hatte Konstanze doch, nach bestem Wissen und Gewissen, in ihrem ganzen Leben noch niemals einen dieser Träume durchlebt. Nie zuvor träumte sie eine derart bekannte, klischeebeladene Situation, die vermutlich Therapeuten und Analytiker über die Welt verteilt, erfreut.
Nein, ihre Träume blieben immer hart am Rahmen der Realität. Meist verlor sie etwas, suchte, und fand es nicht. Niemals träumte sie sich in die klassische Situation des Fliegens oder vergleichbarer elementarer Freiheitserlebnisse. Und niemals träumte sie, dass sie gar nackt vor einer Klasse stünde. Wieso sollte sie auch? Eine Situation wie diese war nicht einmal denkbar, bei aller Fantasie, die sie sich zuschrieb, nicht vorstellbar. Nicht in diesem Leben. Konstanze verschwendete ihre Zeit nicht mit Gedanken über Nacktheit. Es läge ihr fern, ihren Körper auch nur annähernd unbekleidet zu präsentieren. Ganz im Gegenteil. Sogar beim Schwimmen, trug sie mehrere Schichten an schützenden Stoffen. Von Bademänteln über alles verhüllenden T-Shirts war ihr nichts zu unangenehm oder zu unbequem um eine vielleicht unangebrachte Blöße zu verdecken.
Umso erstaunlicher, dass sie sich mit einem Mal nackt unter Menschen befand. Wenngleich diese Nacktheit einen Sinn in sich trug. Denn alles in allem war sie ein rationaler Mensch. Sie tat nichts, ohne einen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund anführen zu können. Und schon gar nicht käme sie auf die Idee, etwas derart Verrücktes zu unternehmen.
Warum tat sie es also? Ganz einfach, weil es eben nicht verrückt war. Es war sogar ganz logisch. Und woran lag das wohl? Genau: am Stundenplan. Besser gesagt am Fach des Schwimmens, das eingeflochten und als sinnvoll bewertet wurde. Und es lag ja auch nahe. Auf einem riesigen Gelände, wie diesem, durfte es selbstverständlich weder an Schwimmlehrer noch an Schwimmbädern fehlen. Und obwohl Sport niemals zu Konstanzes Lieblingsfächern oder zu einer Betätigung gehörte, die sie freiwillig ausübte, so war sie doch bereit und willens, den ausgeschriebenen Pflichten Folge zu leisten.
Ebenso wie Konstanze den Plänen eifrig nachkam, die für uns notiert und vorgeschrieben wurden. Ebenso wie sie den anderen folgte, ihren Kolleginnen und Kollegen, die stets besser wussten als sie, wo die entfernt liegenden Vorlesungsräume und Säle zu finden waren. Die den Zahlen und Nummern Aufmerksamkeit schenkten, die verzwickten Wege durch Gänge, hinauf und hinab der breiten Treppen, entlang der Streifen frischen Grüns am Rande der Wege, bereits kannten und ihrem Verlauf auch Sinn und Unsinn abgewinnen konnten. Konstanze dagegen tat sich nie leicht damit, den Weg zu finden, die richtige Strecke einzuschlagen, auf dem Pfad zu wandeln, der sie dorthin führte, wo sie sich tatsächlich aufhalten sollte. Also folgte sie stets jenen, die es besser wussten. Dennoch behielt sie ihren Kopf bei sich. Sie zog Schlussfolgerungen und handelte selbstständig. Und ganz im Ernst: es entbehrte doch wohl nicht einer gewissen Logik, wenn man darauf Rücksicht nahm, die persönliche Garderobe den Gegebenheiten anzupassen. Und so passte sie an. Konstanze registrierte und analysierte Sachlage und Stundenplan, und empfand es als günstig, die Stunde des Schwimmens in die Planung des Tages einzubeziehen.
Warum also sich der Mühe unterziehen, unter phänomenaler Anstrengung und Aufbietung von Geschmack und Stilbewusstsein Kleidung auszuwählen, die doch nur allzu schnell den Weg des Vergänglichen beschritte, sprich in einem unangenehmen Spind eingeschlossen werde. Klang es da nicht mehr als logisch, sich sofort und von Anfang an unbekleidet zu geben?
Natürlich blieb ein Rest-Geheimnis, und zwar entbehrte dem Fehlen jeglicher Bekleidung doch die eine oder andere Grundlage, und damit spreche ich auch von der spärlichsten und geringsten aller Bekleidungsmöglichkeiten, die dem Zwecke der Verhüllung des Allerprivatesten dienen und daher ihre beinahe ausschließliche Verwendung im Sinne der Ausübung des Schwimmsports fanden.
Wie dem auch sei, erschloss sich Konstanze anscheinend nicht umgehend, warum vollkommene Nacktheit sich nicht als angemessene Form der Erscheinung anbot. Und offensichtlich ging es ihren Leidensgenossen und Genossinnen nicht anders. Musste sie doch beobachten, dass jene durchaus der Kunst des Bekleidens mächtig waren, und sich ebenso wie an jedem anderen Tag angezogen hatten, ohne ein auffälliges Gebaren zur Schau zu stellen. Zu deren Verteidigung musste Konstanze jedoch anführen, dass sie ihrer doch ein wenig auffallenden Nacktheit keinerlei Beachtung schenkten, sie sich also weder unangenehmen Bemerkungen noch peinlich berührten Blicken ausgesetzt sah.
Letztendlich erwies sich das Irren von Gebäude zu Gebäude, treppauf, treppab, und die Hetze aus der Not geboren mit anderen Schritt zu halten, die sich leichter darin taten, die vorgeschriebenen Orte zu entdecken, als weitaus unangenehmer, als die bloße Tatsache ihrer Nacktheit.
Und ebenfalls als unangenehm bezeichnen konnte man die Tatsache, dass weder von einem Schwimmbad, noch von einem Schwimmlehrer und schon gar nicht von dem in Aussicht gestellten Schwimmunterricht im eigentlichen Sinne die Rede war.
Was tat Konstanze also in diesem Kreise elitärer Wissbegieriger, und wollte sie überhaupt unter ihnen sein?
Eine Frage, die sich nicht ohne weiteres und sicherlich auch nicht auf die Schnelle beantworten ließ. Und immer noch steckte sie fest in dieser Situation. Konstanze erinnerte sich an die Auswahl von Unterwäsche und dann doch das letztendliche Ablehnen derselben aus vielerlei und vor allem praktischen Gründen.
Davon abgesehen, dass ihre Unterwäsche nicht gerade zu den elegantesten gehörte, so erschien es ihr doch erneut als erheblich unpraktisch, sich der Mühe des An- und Ausziehens schlichtweg für nichts und wieder nichts zu unterziehen. Zudem glaubte sie immer noch fest daran, sich kurz vor dem Abstiege ins Bade zu befinden, der die Nacktheit letztlich notwendig machte. Doch stattdessen irrte sie Gänge entlang, lief von Zimmer zu Zimmer, fühlte Blicke auf sich, die doch langsam aber sicher den Wunsch in ihr weckten, sie hätte sich doch für die eigentlich nicht vorzeigbare Wäsche als minimalem Schutz entschieden. Doch es sollte nicht sein, und so tappte Konstanze barfuß von Gebäude zu Gebäude. Sie erklomm Höhen, fand sich wieder auf Emporen, die mir Aussicht gewährten auf eine Vielzahl fleißiger Schüler und Studenten, die – und ihre Verwunderung darüber bestand eisern, es vorzogen, ihren Unterricht bekleidet aufzusuchen.
Was war zu tun? Selbst in ihrem verwirrten und vielleicht doch noch am ehesten als traumwandlerisch zu bezeichnenden Zustand, sprang ihr langsam aber sicher das Unangenehme ihrer Lage ins Auge. Nicht nur, dass es sich ausgesprochen unvorteilhaft anfühlt, den verschiedenen Sitzreihen sozusagen mit blanker Haut begegnen zu müssen, es ließ sich auch nicht mehr leugnen, dass ihr Gefühl für Scham, das, vermutlich begründet auf reinem Selbstschutz, bislang nicht vorhanden gewesen war, aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hervorkroch und schließlich Beachtung forderte. Wirkliche Beachtung. Ausreichende Beachtung, die Konstanze doch zwang, den Ernst der Lage zu erkennen. Und was ist zu tun, erkennt man erst den Ernst einer Lage? Man ist dazu verpflichtet, diese zu verändern, oder ihrer zu fliehen. Konstanze ihrerseits tat beides. Sie flüchtete. Und dies zu dem Zwecke ihre Blößen zu bedecken, zumal der Fall des Schwimmunterrichts sich nun doch ein für allemal erledigt hatte.
Selbstverständlich wollte sie nicht auffallen. Und so benahm sie sich nach besten Kräften so unauffällig wie nur möglich. Sie wanderte in einiger und im Laufe der Zeit zunehmender Entfernung hinter ihren Leidensgenossen her. Sie beobachtete diese, und die anderen beobachteten sie. Und sie erkannte ihre Chance.
Gut, der eine oder andere mochte sie entdeckt haben, als sie die breite Eingangstreppe in unüblicher Hast und so wie Gott sie schuf, hinab lief. Und doch war Konstanze längst darüber hinaus, sich Gedanken über einzelne Personen und deren Meinungen zu machen. Soweit hatte sie sich schon entwickelt. Und tatsächlich gelang es ihr, sicher wie im Schlaf, geleitet von unsichtbaren Engeln, ihren Weg wieder zu finden. Den Weg, der sie in ihren Schlafraum führte und zu der glücksverheißenden Möglichkeit, sich selbst mit Stoffen zu umhüllen. Niemand ahnt, wie angenehm dies sein kann, ging einem dieses Gefühl nicht irgendwann abhanden. So wie es Konstanze geschehen war. Und so wie ich sie von Ferne beobachten durfte.
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