Samstag, 17. Oktober 2009

Blut

Titel: Blut
Autor: callisto24
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Beinahe zu perfekt, so kam er ihr vom ersten Moment an vor. Anna hatte ihren Teil an kaputten Beziehungen ebenso hinter sich, wie die Qualen der sogenannten großen Liebe, die doch Stück für Stück und unvermeidlich in die Brüche ging. Nicht dass es mit Matthias einfach gewesen war. Von Anfang an existierten Probleme und Missverständnisse zwischen ihnen und es kostete sie beide große Kraft, diese zu überwinden, ein normales Verhältnis zu erreichen.
Und doch bestand diese Anziehung zwischen ihnen sofort, unmittelbar nach dem ersten Blick, den sie miteinander gewechselt hatten. Auf eine unterbewusste, ungenaue Art hatte sie es schon damals gewusst. Vielleicht lag es allein an der optischen Übereinstimmung. Sie passten einfach zu gut zueinander. Niemand bezweifelte das.
Anna achtete immer auf ihr Aussehen. Sie sorgte stets dafür, dass ihr Haar in weichen Wellen ihr gepflegtes Gesicht umrahmte. Tönung und gelegentliche Haarspangen ergänzten sich und ihr dezentes Make-up betonte die Vorteile ihrer Züge. Niemals wäre es ihr eingefallen, ohne Lipgloss aus dem Haus zu gehen. Ihre Lippen schimmerten stets verlockend.
Und so ließ sich wohl kaum leugnen, dass auch Matthias‘ äußere Erscheinung ihre Wirkung auf sie nicht verfehlte. Er war genau dieses Stück größer als sie, dass es sich gut anfühlte, sich anzulehnen, zu spüren, wie seine Arme sie umfingen, festhielten und beschützten.
Obwohl sie immer Wert darauf legte als starke und selbstständige Frau behandelt zu werden, so nagte doch tief in ihr manches Mal der Wunsch danach, sich einfach fallen zu lassen, die Verantwortung abzugeben an jemanden, der sie tragen konnte. Der vielleicht von Natur aus dazu geschaffen war, der die Kraft besaß, auch ihre Last auf seine Schultern zu nehmen, ihr eine Zuflucht zu bieten, einen Ort der Sicherheit, die Geborgenheit, die sie nie zugäbe, sich zu ersehnen. Nicht vor anderen und nicht einmal vor ihm.
Nicht zuletzt sah er gut aus, und das nicht nur ihrer Meinung nach. Sich mit ihm zu schmücken konnte ihr nur zum Vorteil gereichen. Einen attraktiveren Begleiter im klassischen Sinne hatte sie nie zuvor gehabt. Dunkles Haar, dunkle Augen und ein griechisches Profil ließen jedes Frauenherz höherschlagen und gewiss auch das Herz des einen oder anderen Mannes. Beinahe war er zu schön, um wahr zu sein. Seine Wimpern ein wenig zu lang, seine Augen einen Deut zu groß, um männlich zu wirken. Doch das kantige Kinn und die ausgeprägten Wangenknochen erlaubten nie einen Zweifel an seinem Geschlecht. Und er wusste, sich gut anzuziehen. Ein Talent, das Anna ebenfalls schätzte. Zu den gut geschnittenen Kostümen, die sie vorzog zu tragen, passten seine schlichten und doch eleganten Anzüge. Es war kein Geheimnis, das er auf sein Äußeres achtete. Und es lohnte sich. Es lohnte sich sehr. Und sie beide zusammen zogen wohl mehr Aufmerksamkeit auf sich, als es jedem von ihnen alleine gelänge.
Alles passte. Der Weg zeichnete sich von selbst. Mit jedem weiteren Tag breitete sich die Zukunft deutlicher vor Anna aus. Er war ein Mann, wie ihn sich jede Frau erträumte. In seinem Beruf glänzte er, die Entschlossenheit trieb ihn vorwärts. Seine Aussichten schienen ebenso makellos wie seine Gestalt oder sein Lebenslauf.
Matthias passte zu ihr, so wie sein Leben, seine Geschichte zu ihrer passten. Sie beide hatten Kinder, die sich verstanden. Sie beide Erfahrungen hinter sich gelassen, die sie nicht zerstörten, aber Spuren hinterließen, sie geformt und geprägt hatten. Eine Geschichte, die es nur noch einfacher für sie beide machte, sich über die Klippen und Abgründe, die sich unerwartet auftaten, hinweg zu angeln.
Es war einfach zu schön, eine wundervolle Illusion.
Bis sie an diesem einen Tag zu ihm ging. Unvorbereitet, unerwartet, ohne dass sie zuvor ein Treffen vereinbarten. Doch das war in Ordnung, sie waren ein Paar, gehörten zusammen und vertrauten sich. Sie wollten heiraten, die Pläne standen. Und natürlich wusste sie von den Problemen, die er mit sich herumtrug. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Medikamente benötigte. Dass die gelegentlichen Schübe es erforderten, der Chemie, die er seinen Körper zufügte, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Und doch hatte sie nicht erwartet, ihn so zu sehen. Er wirkte krank, er wirkte fern. Fern von ihr. Seine Haare hielten nicht die Form, die er ihnen sonst verlieh. Sein Hemd stand offen, die Ärmel waren falsch und ungehörig, nur durch das Fehlen der Manschettenknöpfe, durch die nachlässige Art, in der sie aufgekrempelt waren.
Matthias‘ Blick war leer, und obwohl sie sehen konnte, dass er darum kämpfte wieder zu sich zu kommen, offenbarte sich, dass er dazu nicht in der Lage sei.
Anna begriff, dass sie ihm helfen sollte. Er sah hilflos aus, so hilflos wie sie sich fühlte. Und Anna fühlte sich gelähmt. Eine innere Schranke fiel zwischen ihr und ihm herab, hinderte sie daran sich zu bewegen, zu sprechen, ihm zur Seite zu stehen. Was es war, das ihn quälte, entzog sich ihrer Erkenntnis, wenngleich die Ahnung einer Tragödie, die sie längst abgeschlossen glaubte, sich in ihr Bewusstsein bohrte. Das Sterben seiner Frau, der blutige Mord, den er mit angesehen hatte, blieb die offene Wunde, die sie seit der schrecklichen Tat gewesen war.
Und Anna war nie in der Lage gewesen, ihm zu helfen, es war ihr nie gelungen der Balsam auf seinem Schmerz zu sein, den er brauchte. Schwer genug war es für sie gewesen zusammenzufinden, schwer genug, sich als die Menschen zu erkennen, die sie waren, die füreinander bestimmt waren. Dennoch hatte sie nie gefühlt, wie heftig die Fassade bebte, die er um sich errichtet hatte, wie dünn und zerbrechlich die Schutzhaut war, die er wachsen ließ.
Er hatte es ihr immer wieder gesagt, dass sie ihn veränderte, dass sie der Anker für ihn war, den er brauchte. Dass dieser Teil seines Lebens der Vergangenheit angehört. Und Anna glaubte ihm. Sie wusste von seinem Kampf und sie bewunderte seine Stärke. Doch was er sich von ihr ersehnte, diese Frage stellte sie sich nie.
Und in diesem Moment, mit dem Eintritt in sein Haus, erkannte sie, dass sie weit davon entfernt war, ihn zu verstehen, vielleicht weiter als je zuvor.
Starr verharrte sie, ihre Augen auf das Bild des Mannes gerichtet, dem sie sich versprochen hatte, und der ihr begegnet war, um ihr Fels zu sein. Ein brüchiger Fels, der die Arme ausstreckte, der sich von ihr erbat, was sie nicht verstand.
Ihre Lippen öffneten sich in einer stummen Frage, die trotz allem und überraschend Antwort erhielt mit dem Eintritt Kevins. Für einen Augenblick glaube Anna, dass es nun ihre Pflicht sei, sich aus ihrer Lethargie zu reißen, dem Jungen den Anblick seines Vaters zu ersparen, ihrer Pflicht als Erwachsene nachzukommen. Doch war sie nicht imstande auch nur einen Finger zu rühren, einen Schritt zu machen, nur einen Laut von sich zu geben.
Und Kevin stoppte nicht einmal in seiner Bewegung. Er huschte an ihr vorbei, ließ mit einer fließenden Bewegung seinen Rucksack gegen die Wand rutschen, und näherte sich seinem Vater. Doch gerade als Anna sich versucht fühlte, ihn aufzuhalten, dem Jungen wenigstens ihrer Anwesenheit zu versichern, da hatte dieser bereits seinen Vater hinter sich gelassen, ohne ihm mehr Beachtung zu schenken, als er ihr schenkte. Rasch und doch ruhig öffnete Kevin erst die obere und dann die untere Schublade des Schreibtisches. Mit geübten Bewegungen entnahm er der einen eine schmale Spritze und der anderen ein kleines Fläschchen. Und bevor Anna noch registrieren konnte, was er tat, hatte er bereits den Arm seines Vaters abgebunden und die Nadel in dessen Haut gesenkt.
Anna schnappte erschrocken nach Luft, doch Matthias zuckte nicht einmal, als Kevin seine Tätigkeit beendete, die Spritze entsorgte und einen kleinen Wattebausch auf die Stelle presste, auf der sich ein kleiner, roter Tropfen bildete.
Das Geräusch, das Matthias von sich gab, ähnelte am ehesten einem Seufzen, als er mit bebenden Händen den Bausch übernahm, während Kevin sich abwandte und die nun nutzlos gewordenen Utensilien zu der Spritze in den Abfallbehälter warf.
Erst dann drehte er sich nach Anna um, und bewies ihr, dass er durchaus von ihrer Anwesenheit Notiz genommen hatte.
„Geschieht das öfter?“, fragte Anna heiser, als sie ihre Stimme endlich wieder fand. Kevin sah zu seinem Vater, der mit geschlossenen Augen in seinem Sessel saß. „Nicht oft“, meinte er dann und zuckte mit den Schultern. „Dinge passieren.“
„Ja“, wisperte Anna, als traute sie sich nicht, es zuzugeben. „So ist es wohl.“

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