Donnerstag, 11. Februar 2010

Stigma

Titel: Christas Liebe
Autor: callisto24

* * *

Christas Liebe
Vor langen, langen Jahren, als Vorurteile existierten.


„Mann, ist der Unterricht heute wieder öde“, stöhnte Alex. Genervt drehte sie sich zu ihrer zweitbesten Freundin um, die praktischerweise in einem von Seiten des Lehrers gesehenen toten Winkel saß. „Christa ist schon wieder nicht da“, begann sie zu tuscheln.
„Seit dem ganzen Ärger mit Pascal und ihrem Vater nimmt sie sich ständig Freistunden. Wenn sie so weitermacht, wird es bald Verweise hageln. Sie glaubt doch wohl nicht, dass den Lehrern das entgeht?“
„Was treibt sie eigentlich immer?“, fragte Steffi neugierig. „Heute früh habe ich sie nämlich noch im Physikraum gesehen. Du musst es doch eigentlich wissen. Ihr habt immer zusammengesteckt.“
Alex schüttelte den Kopf. „Ich habe versucht, mit ihr über Pascal zu reden, aber sie lässt keinen an sich ran. Manchmal sitzt sie unten am Fluss und starrt ins Wasser. Ich glaube, das ist der Ort, den sie auch während der Schulzeit aufsucht. Wenn Chris über ihren Liebeskummer erst einmal hinweg ist, wird sie sich über den Punkteverlust ärgern. Ein sensationelles Abi kann sie dann nicht mehr vorlegen.“
„Was ist eigentlich genau passiert?“ Ich habe sie ja nur ein paar Mal mit ihrem Will Smith-Verschnitt in der Eisdiele gesehen.“
„Viel kann ich dir auch nicht erzählen, aber auf jeden Fall fing es an mit ihrem Ferienjob bei McDonalds. Da hat sie ihn kennengelernt. Du weißt ja, dass sie schon immer auf Schwarze stand, nur Poster von Denzel Washington, Wesley Snipes und veralteten Soulbands gibt es in ihrem Zimmer. Aber dass sie dann wirklich einmal mit einem ausgehen würde, das hätte ich nun auch nicht gedacht.“
„Naja, wo die Liebe halt hinfällt, da kann man gar nichts machen“, warf Steffi ein.
„Wenn es aber wenigstens so etwas wie ein amerikanischer GI oder meinetwegen ein Austauschstudent gewesen wäre. Aber ein Franzose, der in Wirklichkeit sogar ursprünglich aus dem finstersten Afrika kommt, keine Ahnung woher genau, also ich wundere mich nicht allzu sehr, dass ihr Alter da ausgeflippt ist“, überlegte Alex weiter.
„Dann ist er wohl auch Moslem oder so etwas.“
„Schon möglich. Und außerdem Asylbewerber mit einer krisensicheren Dauerstellung an der Fritteuse. Da sehe ich einfach keine Zukunft für Chris, und ihr selbst ist das mittlerweile sicher auch klar geworden.“
„Niedlich sah er ja doch aus, aber man kann ja nie wissen, was in so jemandem vorgeht.“
„Andere Kultur, andere Sitten, das ist vielleicht zur Abwechslung mal ganz interessant, aber Chris ist dafür viel zu ernsthaft. Bei ihr muss es ja immer gleich die ganz große Liebe sein. Weißt du noch, wie sie sich in den Musiklehrer verknallt hatte? In jeder Musikstunde ging für sie von neuem die Welt unter.“
„Dabei hatte der Parekh noch nicht einmal eine Ahnung, dass sie existierte. Gott sei dank ist er dann zurück nach Indien. Das war wirklich nicht mehr zum Ansehen.“
„Und weißt du auch, warum sie ihn mochte? Sein exotisches Aussehen und nichts anderes war es. Erinnerst du dich noch an das dritte Auge, das sie sich immer auf die Stirn gemalt hat? Idiotisch, sich so zu verhalten. Wo es doch hier von süßen Jungs nur so wimmelt.“
„Als ob die keine Probleme machen könnten“, gab Steffi zu bedenken.
„Wo du Recht hast, hast du Recht“, stimmte ihr Alex zu und warf einen kurzen Blick aus dem schmalen Fenster links vor ihrem Platz.
„Ich fasse es nicht, da vorne läuft Chris. Gleich ist sie ab durch die Mitte. Na, die traut sich was!“
„Wo denn?“, flüsterte Steffi neugierig und verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, die Sünderin zu entdecken.
„So geht es einfach nicht weiter“, machte Alex ihrem Herzen Luft. Wahrscheinlich eine Idee zu energisch, denn sie erntete einen strafenden Blick des Lehrers und ein ermahnendes: „Alexandra Klatschek. Auch Sie sind in der Kollegstufe aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten.“
Alex rutschte etwas tiefer in ihren Stuhl und senkte demütig den Blick, eine Technik, die ihren Zweck noch nie verfehlt hatte. Auch diesmal wandte sich Herr Claasen ohne weiteren Aufenthalt wieder dem Thema zu, wobei er ein belustigtes Zucken der Mundwinkel kaum verbergen konnte.
In diesem Augenblick ertönte der Gong zum Ende der Stunde. Alex sprang auf und warf Blätter und Stifte in Windeseile in ihren Rucksack.
„Tu mir einen Gefallen, Steffi! Wenn ich nach der Freistunde nicht rechtzeitig wieder hier bin, sag doch der alten Duse bitte, dass mir schlecht geworden ist, Kopfschmerzen oder was dir so einfällt, völlig egal.“
„Klar, kein Problem, die ist sozial und versteht sowas. Sag bitte Chris, dass sie auf mich zählen kann. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten, vor allem, wenn es ums starke Geschlecht geht.“
Alex winkte noch einmal kurz und stürmte aus dem Raum. Sie war sich sicher, dass sie Christa noch erwischen würde.
Und richtig, auf dem Weg, der hinunter zum steinigen Flussbett führte, sah sie ihre Freundin wie in Trance entlang laufen. Sie schien um sich nichts zu hören und zu sehen. Durch die Pfützen, die vom nächtlichen Regen noch überall zu finden waren, spazierte Chris, offenbar ohne sich Gedanken um ihre neuen Sandalen zu machen, die sie beide zusammen vor gerade erst drei Wochen ausgesucht hatten.
„Damals sah alles noch ganz anders aus“, dachte Alex bei sich und begann zu rennen, während der Rucksack gegen ihren Rücken schlug.
„Chris!“, rief sie atemlos. „Chris, so warte doch!“
Endlich hatte sie die andere eingeholt und ergriff ihren Arm. Christa drehte sich zu ihr um.
„Was willst du?“, fragte sie müde.
„Nur reden mit dir, du musst mir endlich sagen, was los ist.“ Alex schluckte und versuchte mühsam, das Erschrecken zu verbergen, das sie beim Anblick Christas überkommen hatte. So totenbleich hatte sie ihre Freundin noch nicht einmal gesehen, als sie gemeinsam die letzte Grippewelle durch litten hatten. Das Haar hing strähnig und ungekämmt herab, und die rotgeränderten Augen zeugten von durchgeweinten Nächten.
„Komm, wir setzen uns in die Sonne“, versuchte sie ihrer Stimme einen aufmunternden Unterton zu verleihen.
„So, und jetzt erzähl mir genau, was passiert ist! Aus diesem Sumpf musst du dich unbedingt heraus schaufeln. Das kann doch nicht alles nur wegen Pascal sein! So viel Ärger ist kein Mann wert.“
Christa schüttelte den Kopf. „Es ist nicht seine Schuld. Ich weiß nur einfach nicht, was ich machen soll.“
Alex überlegte einen Augenblick.
„Also, ich weiß, dass dein Vater einen Riesenstunk gemacht hat. Der Krach war ja im ganzen Viertel zu hören.“ Sie machte eine kleine Pause. „Der ist wohl so richtig durchgedreht?“
Christa starrte stumm vor sich hin, während ihre Augen bereits wieder verräterisch zu glänzen begannen.
„Ich habe immer gedacht, es wäre ihm egal, mit wem ich zusammen bin. Ständig diese Witze über den erfolgreichen Geschäftsmann, den ich mir einmal angeln würde. Das war doch nie ernst gemeint.“
„Und als er Pascal gesehen hat, ist er dann ausgeflippt?“
„Es war nicht nur die Hautfarbe. Zuerst hat er sich noch ganz normal mit ihm unterhalten.“
Sie schluckte schwer. „Aber als er dann gemerkt hat, wie schwer sich Pascal manchmal im Deutschen tut und dass er in der Küche arbeitet und auch nach Asylbewerber ist …“
„Da war es dann wohl mit der Freundlichkeit zu Ende.“ Alex nickte verstehend.
„Andauernd hat er gesagt: ‚Ich bin doch wohl ein toleranter Mensch, ich habe keine Vorurteile, aber ich kann doch nicht zulassen, dass du mit deiner Spinnerei dein Leben ruinierst. Eines Tages sitzt du dann da mit einem Mischlingskind, ohne Job, ohne Zukunft, ohne Aussicht auf einen Mann, und er macht sich inzwischen in Afrika ein schönes Leben mit seinen vier oder mehr Frauen, die alle für ihn arbeiten. Oder noch schlimmer, er nistet sich bei dir ein, und wir dürfen ihn durchfüttern. Nein danke!‘ Und dann hat er ihm verboten, mich wiederzusehen.“
Christa kramte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Jeans und tupfte sich die Tränen ab.
Alex schwieg nachdenklich, bis Christa schließlich zu ihr aufsah. „Nein, das ist ein Riesenquatsch. Pascal hat mir immer gesagt, dass ich die einzige Frau für ihn bin und dass er nie von hier fortgehen möchte. Er hat so lange in Frankreich gelebt, bevor er hierher kam, dass er schon fast europäischer ist als ich.“
Alex überlegte. „Also schwierig ist das sicher. Hast du ihn denn seitdem wiedergesehen?“
„Dad hat gesagt, er schmeißt mich raus, wenn ich’s tue.“
„Das darf er gar nicht so ohne weiteres, zumindest soviel ich weiß. Wir könnten uns da informieren.“
„Wo denn?“ Christa steckte ihr Taschentuch wieder ein und sah ihre Freundin erwartungsvoll an.“
„Also im Zweifelsfall beim Vertrauenslehrer oder irgendwelchen Jugendberatungsstätten. Da gibt es Leute, die Bescheid wissen, auch was die Probleme mit der Religion und der unterschiedlichen Lebensweise angeht.“
In Christas Gesicht stieg langsam eine leichte Röte auf, während sie Alex zuhörte.
„Das hat mich alles so verunsichert. Bisher habe ich Pascal immer völlig vertraut. Es ist mir auch egal, wo er arbeitet oder wie unsere Zukunft aussieht. Es weiß doch ohnehin niemand, was passieren wird. Aber soll ich ihn aufgeben, nur wegen Problemen, die von anderen gemacht werden, von meinem Vater, von irgendwelchen grauen Gestalten, die Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, oder von einer Religion, die hierzulande sowieso nur mäßige Bedeutung genießt?“
Sie sah Alex offen an, in ihren Augen leuchtete wieder der alte energische Glanz, wie ihre Freundin erleichtert feststellte, und mit einem Lächeln antwortete sie: „Auf die Gefahr hin, von nun an in Klischees auszubrechen, fällt mir dazu nur das altbewährte ‚Hör auf dein Herz, mein Kind‘ ein. Horch ganz tief in dein Inneres, und wenn du nur einen kleinen Zweifel daran hast, dass Pascal dich glücklich machen kann, dann ist es vielleicht wirklich besser, du verzichtest auf den ganzen Ärger. Aber so wie du seit Wochen herumläufst, scheint das keine Lösung zu sein. Denk mal, in zwei Jahren spätestens bist du sowieso weit weg von zuhause, vermutlich mit Steffi und mir in einer WG. Dann kann dir keiner mehr erzählen, mit wem du dich treffen sollst. Nur noch unsere dummen Kommentare musst du dann noch über dich ergehen lassen.“
Sie nahm Christas Hand und drückte sie. „Nur eines noch. Handle dir um Himmels willen keinen weiteren Ärger mit der Schule ein. Du willst doch nicht noch ein Jahr hier die Bank drücken.“
Christa nickte seufzend. „Ist schon gut. Ich habe verstanden. Lass uns gehen und brave Schüler sein!“
Alex stand schmunzelnd auf. „Und noch eins: wo kannst du eigentlich besser ungestört über den Sinn des Lebens und der Liebe nachdenken als in Geschichte bei Frau Duse.“
Christa sog tief die Luft ein. ‚Danke Alex‘, dachte sie still. ‚Ich hatte wirklich vergessen, wie gut es tut, sich von einem Freund helfen zu lassen.‘
Vor dem Schulhof wartete bereits Steffi aufgeregt auf die Beiden. „Gut, dass ihr kommt“, rief sie, während sie ihnen entgegen lief. „Die Stunde fängt gleich an und …“, sie sah Christa prüfend an, „da wartet jemand auf dich. Er hat schon vor einer halben Stunde nach dir gefragt. Jetzt steht er am Tor und sieht recht einsam aus.“ Sie zwinkerte den Freundinnen zu. „Ich würde mich ja beeilen, bevor der Direx kommt und ihn verschreckt.“
„Na, lauf schon“, schob Alex sie vorwärts. „Den Kopf zerbrechen kannst du dir auch später.“
Zögernd ging Christa auf das Tor der Schule zu, von dem sich nun langsam eine dunkle Gestalt abhob und in das grelle Sonnenlicht trat.
„Pascal!“, jauchzte sie und flog in seine Arme. Seine dunklen Augen strahlten, als er sie festhielt. „Ich habe dir vermisst“, flüsterte er. „Kann sein, dass es schwierig werden, aber ich kann nicht ohne dir sein. Ich werde auf dir warten, immer.“
„Auf dich“, verbesserte Christa schluchzend. Aber diesmal waren es keine verzweifelten Tränen mehr, die sich von ihren Wimpern lösten, sondern Tränen der Erleichterung.
„Wir werden einen Weg finden. Die Zukunft gehört uns, und wir werden sie mit unseren Träumen und Vorstellungen leben. Und außerdem …“, sie blickte zu Alex und Steffi, die gerade dabei waren, sich diskret zu verziehen, „… sind wir nicht allein.“

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