Donnerstag, 4. Februar 2010

Aberglaube

Titel: Aberglaube
Autor: callisto24

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Aberglaube
Der Blick in die Kristallkugel


Unter normalen Umständen wäre ich, ein vernünftiger Mann in den besten Jahren, niemals in dieses zwielichtige Zelt eingetreten. Doch deprimiert und betrunken sah ich nur die Leuchtschrift: „Erfahren Sie Ihre Zukunft, noch heute!“
Wie aus weiter Ferne hörte ich die gelangweilte Stimme der verschleierten Empfangsdame: „Handlesen kostet fünfzig Euro, Kristallkugel hundert.“
Bereits ein wenig ernüchtert durch die Höhe der Preise, kramte ich meinen letzten, zerknitterten Hunderter hervor und trat hinter den schweren Vorhang. Eine einzelne Glühbirne erleuchtete den Raum und zeigte mir ein ebenfalls bis auf die Augen verschleiertes Mädchen, das hinter einem kleinen Tisch mit einer Glaskugel darauf saß.
„Bitte zeigen Sie mir Ihre Hände“, sagte sie leise, ohne aufzusehen. Die andere Frau war bereits verschwunden und auch mich reute bereits meine unüberlegte Unternehmung. Aber das Mädchen hielt meine Hände wie in einem Schraubstock, sobald ich sie ihr gereicht hatte. „Ich sehe Sie durch einen trüben Nebel“, begann sie tonlos. „In Ihrer Zukunft werden Sie diesen Schleier durchbrechen.
„Hören Sie“, wand ich ein. „Ich glaube eigentlich nicht an Wahrsagerei und diesen ganzen Hokuspokus. Besser ich gehe jetzt. Das war eine dumme Idee von mir.“
Zum ersten Mal sah mich das Mädchen an und ich bemerkte ihre klaren Augen, die beinahe in Widerspruch zu dem undurchsichtigen Geschäft standen. Nervös fuhr ich fort, mich immer weiter zu verhaspeln. „Wissen Sie, ich bin heute entlassen worden und habe wohl etwas Angst vor der Zukunft. Und deshalb einen zu viel über den Durst getrunken.“
Unbeholfen machte ich Anstalten aufzustehen.
„Warten Sie“, sagte das Mädchen und schlug ihren Schleier zurück. „Geben Sie mir eine Chance.“
Überrascht erblickte ich die zuvor verdeckten, hellroten Haare und das sommersprossige Gesicht, das wirklich nicht in diese Umgebung zu passen schien. Konzentriert beugte sie sich über meine Handflächen und folgte mit ihren Fingern den feinen Linien. „Ich habe es doch gewusst“, entfuhr es ihr, während sie meine Hände drehte und wendete und von allen Seiten betrachtete. „Ich hab es geahnt, dass sich das Blatt heute wendet.“
„Welches, das Meinige oder das Ihrige?“, versuchte ich krampfhaft einen Scherz zu machen. Aber sie sah mich nur ernsthaft an.
„Das Unsrige.“ Vorsichtig nahm sie einen seidenen Schal und legte ihn über die Glaskugel. Ein gedämpftes Licht schien langsam unter dem Tuch aufzuglühen. „Unsere Schicksale werden von heute an untrennbar sein.“
„Also, das ist aber dann doch ein bisschen viel“, sagte ich, wie ich meinte sehr entschieden, und versuchte wieder aufzustehen.
„Bleib hier, Martin. Die Zukunft wartet auf dich.“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte ich und fühlte wie ich blass wurde. „Ich bin völlig abgebrannt, bei mir gibt es nichts zu holen, falls Ihr darauf aus seid.“
„Dein Name steht in deinen Händen, wie alles andere auch. Und nun nimm den Schleier von der Kristallkugel und du wirst sehen, was ich sehe.“
Ich weiß nicht, warum ich es tat, aber ich nahm das Tuch. Es fühlte sich warm und glatt an. Die Kugel leuchtete silbern wie der Mond, als das Mädchen mir das Tuch aus den Händen nahm. Kurz berührten sich unsere Hände und in diesem Augenblick wusste ich auch ihren Namen: „Felicitas.“
„Siehst du das hier?“, fragte sie mich und zeigte mir einen winzigen weißen Stern, direkt unter ihrem kleinen Finger. Nun legte sie ihre Hand neben meine und ich erkannte dasselbe Merkmal auch an meiner Hand.
„Als Kind bin ich in einen Dornenstrauch gefallen, die Narbe ist nie ganz verschwunden.“
„Es ist ein Zeichen“, sagte Felicitas. „Menschen mit diesem Zeichen können sich nie wieder trennen.“
Sie nahm meine Hand und legte sie zusammen mit ihrer auf die immer noch leuchtende Kristallkugel. Eine Flut von Bildern drang auf mich ein. Ich sah Sonnenlicht, grüne Wiesen und Gärten, helle Räume und dazwischen immer wieder eine lachende, rothaarige Frau, die mit Kindern fröhliche Spiele spielte.
„Das ist doch verrückt“, schoss es mir durch den Kopf. „Ich bin betrunken und meine Phantasie spielt mir einen Streich.“
„Glaube es ruhig“, sagte Felicitas. „Alles wird so geschehen, wie du es siehst.“
Ich schüttelte heftig den Kopf. „So etwas kann ich nicht glauben. Es gibt keine Vorsehung, das kann es nicht geben. Das Leben besteht aus einer Folge von Zufällen. Eine Sekunde kann alles ändern.“
„Dann versuche dein Schicksal zu ändern. Gehe fort und tue alles, um mir nicht wieder zu begegnen. Es wird dir nicht gelingen.“ Sie lächelte geduldig. „Siehst du diese Linien in deiner Hand? Diese und meine Kristallkugel haben mir alles offenbart.“
„Was denn jetzt noch?“, fragte ich mit einem Seufzer.
Sie sah mich strahlend an. „Für dich wird das Leben ein Kinderspiel. Habe ich dich erst eingefangen, dann kennen wir keine Sorgen mehr.“
Ihre Frechheit nahm mir den Atem. „Du bist ja völlig verrückt. Wenn ich erst einmal meinen Rausch ausgeschlafen habe, dann werde ich merken, dass alles ein Traum war.“
Mit unsicheren Schritten versuchte ich den Ausgang zu erreichen.
„Du kommst wieder“, rief Felicitas mir hinterher. „Sicher!“
Und was soll ich noch sagen? Mit dem Lottogewinn des darauffolgenden Samstags in der Tasche holte ich Felicitas aus ihrem Zelt und wir führen seitdem das sorgenfreie Leben, das die Kristallkugel uns gezeigt hat.“

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