Sonntag, 31. Januar 2010

Herbst

Titel: Berge
Autor: callisto24
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Herbst
Jeder Augenblick zählt


Herr Friedhelm Feddersen war genau die Sorte Arbeitskollege, die jeder Büroangestellte gerne zu seinen Mitarbeitern zählt. Er war freundlich, ausgeglichen und verlässlich, aber gleichzeitig auf eine angenehme Art und Weise zurückhaltend, so dass niemand in seiner Umgebung sich von seiner Anwesenheit gestört oder auch nur beeinflusst fühlen konnte.
Aber besonders auffallend war seine außerordentliche Pünktlichkeit. Er pflegte gerne zu erwähnen, dass Pünktlichkeit die Tugend der Könige sei und daher auch heutzutage nicht zu vernachlässigen.
Sein Leben verlief gleichmäßig und ereignislos wie ein perfekt funktionierendes Uhrwerk. Und bis zu diesem milden Herbstabend, Anfang November, war ihm noch niemals wirklich aufgefallen, dass darin etwas fehlte.

Vielleicht lag es an den letzten Sonnenstrahlen, die herabfallende, rote und gelbe Blätter leuchten ließen, vielleicht auch nur an dem finalen Aufblitzen des späten Herbstes, der zum letzten Mal gegen die drohende Kälte des Winters antrat. Vielleicht waren es auch nur die feierabendlich gestimmten Menschen, die ihm auf dem Weg aus dem grauen Bürogebäude zu seiner Bushaltestelle begegneten, die ihm die Einsamkeit in seinem Leben bewusst machten und ihn, ganz gegen seine Natur, dazu brachten, von seiner täglichen Routine abzuweichen. Nur hätte er es sich niemals träumen lassen, dass dieser eine Abend, an dem er seinen gewohnten Tagesablauf verließ, Kreise ziehen sollte, die sein geordnetes Leben in den Grundfesten erschütterten.

Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere, ein Donnerstag. Das Wochenende rückte näher; für Friedhelm Feddersen bedeutete dies lediglich Zeit zum gründlich Staubwischen und Anzüge bügeln.
Bei diesem Gedanken klopfte er sorgfältig ein Staubkörnchen von seinem Jackenaufschlag. Ein korrektes Erscheinungsbild hielt er nach dem Verlassen des Arbeitsplatzes für ebenso wichtig wie bei der Ankunft. Doch an diesem Abend war Alles ein wenig anders. Sicher, er hatte die üblichen belanglosen Worte mit Kollegen, Pförtner und Busfahrer gewechselt, aber zum ersten Mal machte er sich Gedanken darüber, was für ein Leben all diese Menschen führten, die er zwar jeden Tag sah, aber im Grunde niemals richtig wahrnahm. Sie alle kehrten nach getaner Arbeit heim zu den Menschen, die sie liebten und von denen sie geliebt wurden.
Nicht, dass er es jemals bereute, allein zu sein. Es war ihm nur niemals so richtig bewusst geworden, dass im Grunde fast jeder wenigstens einen Menschen besaß, mit dem er etwas teilen konnte, und wenn es nur ein wenig Zeit war.
Gedankenverloren schüttelte Feddersen den Kopf. Einfach lächerlich, sich jetzt, mit beinahe 50 Jahren, solch absurde Gedanken zu machen. Sein Leben war perfekt eingerichtet, und jede Veränderung verursachte doch nur Probleme.
Aber nichtsdestotrotz konnte Feddersen nicht anders, er musste sich dieses Gefühl eingestehen, ein Gefühl, dass sich unweigerlich etwas Entscheidendes ändern werde. Nur ob sich daraus etwas Gutes entwickelte, das wusste er nicht.
Und so stieg er zum ersten Mal nicht in den Bus, Abfahrt 17 Uhr 33, um seinen gewohnten Platz einzunehmen, sondern er lief zu Fuß neben der Straße einher, auf dem Weg, den er sonst täglich aus den Augenwinkeln beobachtete, während sein Gesicht sorgsam hinter der Tageszeitung verborgen blieb. Er lief ruhig und gleichmäßig. Dabei formulierte er im Kopf bereits die Worte, die er sagen wollte. Der Herbstwind brachte seine Frisur durcheinander, aber zum ersten Mal versuchte er nicht, die grauen Strähnen wieder zu bändigen, sondern er fühlte, wie die Kraft der Windstöße eine längst verschüttet geglaubte Wildheit wieder aufleben ließ. Ein Tatendrang, der ihn das letzte Mal in seiner Kindheit erfasst haben musste, lange bevor Schule und Beruf sein Leben in eine Form gepresst hatten, die ihm bisher als die einzig akzeptable erschienen war.
Kurz vor seinem Ziel hielt er inne. Einen Moment zweifelte er noch an seinem Vorhaben, aber da erblickte er sie bereits.
Von seinem Platz im Bus aus sah er sie jeden Tag, am Morgen, beim Öffnen des Kiosks, und am Abend, wenn sie begann, die ausgelegten Zeitungen zu sortieren und wieder einzuordnen. Und er konnte schwören, dass sie ihn auch jeden Tag anblickte, manchmal mit einem kleinen Kopfnicken, manchmal sogar mit dem Anflug eines Lächelns, bevor sie wieder verschämt zur Seite blickte. Aber diesmal spräche er mit ihr, sogar wenn es nur war, um ein Magazin zu kaufen.
Ihre Haare, in denen wie in seinen die grauen Strähnen dominierten, flatterten lose um ihr helles Gesicht. Die große Brille drohte ständig ihr von der Nase zu rutschen, wurde aber zum Glück von seitlichen Bändern festgehalten, die das Schlimmste verhinderten. Als sie ihn sah, leuchteten ihre Augen wiedererkennend auf, und sie öffnete die Lippen zu einem Begrüßungswort.

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