Samstag, 30. Januar 2010

Band

Titel: Band
Autor: callisto24
* * *

Ich sah Rudolf Nordheim zum ersten Mal an einem trüben Novembernachmittag in der Hamburger Altstadt. Als ich wie an jedem Tag mein kleines Geschäft seltener und antiker Bücher aufschloss, bemerkte ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war offensichtlich, dass er auf etwas wartete, eine Tatsache, die mich etwas beunruhigte, da es in letzter Zeit zu einigen Einbrüchen und schlimmeren Vorfällen in dieser Gegend gekommen war. Ich betrat schnell den Laden und begann ihn unauffällig zu beobachten, während er nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Sein Mantel schien viel zu dünn zu sein für dieses Wetter, und wenn mich nicht alles täuschte, trug er zwei verschiedene Socken an den Füßen.
Mit sachkundigem Blick identifizierte ich ihn sofort als Junggesellen der unauffälligen Art:
Normal groß, um die fünfzig, ein wenig untersetzt, dunkle bis dunkelgraue Haare.
Die Zeiten, in denen ich bei einem unverheirateten Mann in meinem Laden noch einmal schnell die Lippen nachgezogen hatte, waren lange vorbei. Die meisten, noch ledigen Exemplare meines Alters schleppten irgendein ungelöstes Problem oder noch schlimmer: ein extravagantes Hobby mit sich herum. Wie konnte ich ahnen, dass bei Rudolf beides der Fall war?
Endlich entsann ich mich des Schildes mit der Aufschrift „Geschlossen“, das noch in der Tür hing, und da der Fremde auf der Straße nun doch eher ungefährlich schien, entfernte ich es rasch. Und tatsächlich, er setzte sich sofort in Bewegung und stand einen Augenblick später bereits vor mir. „Ich suche etwas“, sagte er knapp.
Natürlich konnte es sich bei diesem Befehlston nur um einen Lehrer handeln. Wahrscheinlich sogar um einen richtig altmodischen Pauker mit Titel, mindestens Oberstudienrat.
„Oberstudienrat Nordheim ist mein Name“, stellte er sich auch tatsächlich vor, besann sich nun doch auf ein Mindestmaß an Höflichkeit.
„Ich habe gehört, Sie hätten einige Lehrbücher der Physik aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg auf einer Auktion erstanden.“
„Das ist richtig“, antwortete ich, wobei ich mich im Stillen wunderte. Eigentlich dienten mir derartige Bücher in erster Linie zum Auffüllen der Regale an Stellen, die schwer zugänglich waren. „Sie sind ja sehr gut informiert.“
„Ich bin Sammler“, sagte er und strich sich unruhig ein paar längere Strähnen, die ihm in die hohe Stirn gefallen waren, aus dem Gesicht. Seine Finger waren lang und schmal, die Hände eines Gelehrten.
Ich hatte im Laufe meines Lebens gelernt, viel aus den Händen eines Menschen zu lesen. Seine waren wie dafür geschaffen mit unendlicher Vorsicht alte, brüchige Buchseiten zu restaurieren. Ich sah ihn direkt vor mir, wie er über einem Buch gebeugt dasaß, weit weg in seinen Gedanken von allem, das um ihn herum existierte. Meine Menschenkenntnis täuschte mich selten, und als er wieder aufblickte und ich einen kurzen Blick in seine grauen Augen erhaschte, bevor er wieder fort sah, da wusste ich, dass er allein war. Und nicht nur vorübergehend allein, sondern allein seit seiner Kindheit. Ich kenne den Blick der Menschen, die niemanden zum Reden haben, die sich ihre kleine Welt einrichten und es im Laufe der Zeit verlernen, jemanden dort hinein zu lassen.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte ich, während ich mühsam eine unhandliche Leiter herbeischaffte, die es mir ermöglichen sollte, in die Regale unter der Decke zu gelangen.
„Ich habe auch Fische“, sagte er geistesabwesend und ging durch den Raum zu meinem kleinen Goldfisch ‚Sally‘, den ich von meiner Freundin Natalie zur Geschäftseröffnung vor drei Monaten erhalten hatte. „Damit sich wenigstens ein lebendiges Wesen zwischen deinen verstaubten Papierschinken finden lässt“, hatte sie lauthals verkündet. Leider stand sie mit ihrer Meinung, dass an Menschen, die sich hinter Büchern vergraben, das Leben vorbei zieht, beileibe nicht alleine im Kreise meiner Bekannten da. Kein Wunder also, dass ich es schon beinahe aufgegeben hatte, jemanden zu finden, der dieselben Vorlieben teilte.
Aber auch nur beinahe. Denn in diesem Augenblick sah ich, wie sich mein Leben durch nur eine einzige Person ändern würde. Einen Menschen, der wie ich in einer kleinen Wohnung festsaß, als Gesellschaft nur ein paar Fische und ein Regal voller alter Bücher, aber für den mit dem Öffnen jedes Buches ein Abenteuer begann, eine Reise in eine andere Zeit und eine andere Welt, wie sie die meisten von uns nie kennenlernen werden.

Keine Kommentare: