Donnerstag, 9. Dezember 2010

Gift

Titel: Gift
Autor: callisto24
* * *
Das Wasserglas
Es stand auf dem Tisch, das Wasserglas. Sauber und klar. Durchscheinendes Glas und darin verlockend das Wasser. Erfrischend lockte sein Anblick jeden, der es erblickte. Obwohl jeder doch wusste, wie fatal es sein konnte, der Verlockung nachzugeben, mit dem Inhalt die Zunge zu benetzen, das brennende Verlangen in der Kehle zu stillen. Sie alle schlichen um den Tisch, auf dem es wie eine Trophäe aufgebaut war, herum. Sie alle wussten, welch ein grausames Schicksal die Prüfung von ihnen forderte. Denn die augenscheinliche Reinheit trog. Was sich wirklich in dem Glas befand war zu fein, zu winzig, als dass ihre bloßen Augen es erkennen konnten. Neben den Mineralstoffen, die zu erwarten waren, den kleinen Partikeln von Schmutz oder Staub, die sich mit der Bewegung der Luft um den Standpunkt des Gefäßes auf die Oberfläche der Flüssigkeit senkten, befand sich noch so vieles mehr in dem durchsichtigen Behälter. Schwammen Teile, Hüllen, Formen und Farben darin, die niemand jemals zu Gesicht bekam, die nur erahnt werden konnten und auch das nur mit dem äußersten Maß an Vorstellungskraft.
Regenbogenfarbene Ovale, die sich mit Hilfe von Geißeln durch sanften Widerstand trieben, begegneten und begegneten nicht den kristallenen Gebilden, die nicht lebend und nicht tot ihre Existenz selbst bezweifelten. Und die dennoch eine fatalere Wirkung auf den Organismus ausübten, der sich ihnen näherte, als jener zu glauben wagte. Kleine Härchen schlugen, schwebten. Schnüre glitten, Perlen schwammen und seufzten, hingen nebeneinander wie Ketten. Das klare, reine Wasser füllte sich mit Wesen aus einer anderen Welt, mit Gestalten, die ohne den magischen Blick geschliffener Linsen, ohne die unglaubliche Bewegung noch winzigerer Elektronen niemals auch nur vermutet wurden. Nicht von ihnen, nicht von denen, die das Glas immer noch umrundeten. Denen ihr eigenes Wasser im Munde zusammenlief, deren Durst sich steigerte von Schritt zu Schritt.
Oh ja, sie wussten es, wussten von dem schleichenden Tod, der in dem Glas lauerte. Doch wer von ihnen besaß den Mut oder die Verzweiflung ihm zu trotzen? Wer von ihnen erwies sich als irrwitzig genug, um den Schluck zu nehmen, das letzte Wagnis einzugehen? Keiner von ihnen hatte etwas zu verlieren und doch verloren sie mit jedem Schritt mehr.
Der junge Mann blieb stehen. Ermunternde Blicke flogen ihm zu. Das Wasser lockte. Köstlich schwappte es von links nach rechts, floss gegen die Rundungen des kühlen Glases. Sie alle schmeckten es, fühlten seine Klarheit, das Stillen eines unstillbaren Durstes. Der Inhalt eines Glases reichte nicht, reichte nie, nicht für einen von ihnen. Und doch waren sie alle befreit, wenn der eine das Opfer brachte. Der junge Mann verneigte sich. Er berührte mit zitternden Fingern die glatte Oberfläche. Er versuchte, das Wasser, sein Wasser durch das Glas hindurch zu fühlen. Es prickelte auf der Zunge. Winzige Tropfen stiegen auf, gleich Wasserdampf drangen sie in seine Nase. Ein Zurück war unmöglich, ein Zögern keine Option. Er hob das Glas und trank. Der Jubel brandete hoch. Die Dankbarkeit umfloss ihn weich, so wie die Flüssigkeit seinen Hals benetzte. Es schmeckte bitter und mit dem ersten Schluck sah er die Seuche vor sich. Er sah sich auf dem armseligen Strohlager, das ihm blieb. Wie er dahinvegetierte, wie er sich um seinen letzten, röchelnden Atemzug quälte.
Doch nicht einmal dies Elend war ihm vergönnt. Denn nun war es zu spät, er konnte den Fluss nicht mehr aufhalten, sah das Leben an sich vorüberziehen, sah wie seine Welt endete.
Das Wasser rann, es gelangte in die falsche der Kehlen und er hustete, spuckte einen Teil wieder aus, schluckte wieder. Es gab kein Zurück. Bis auf den letzten Tropfen trank er, leerte den Becher, bis der aus seinen entkräfteten Fingern mit einem Klirren zu Boden stürzte. Und er neben ihm auf die Knie sank, den Kopf in die Hände stützte. Er wusste es, sie alle hatten es gewusst. Reinheit existierte nicht, sie war eine Lüge und er verdammt zu seinem letzten Gang.
Er krümmte sich. Der Schmerz verzerrte sein Gesicht. Seine Muskeln zuckten in Krämpfen. Keine Zeit abzuwarten, keine Zeit der Inkubation. Die Dichte unsichtbarer Erreger inmitten der lockenden Klarheit riss ihn hinab. Zeit schnellte zusammen, schrumpfte und dehnte sich gleichermaßen, als er den Horizont erblickte, als seine Gelenke anschwollen, seine Eingeweide rissen und bluteten, während das verseuchte Wasser in ihm tobte, seine Zellen durchdrang, vergiftete und eine nach der anderen tötete. Keine Zeit für Reue, keine Zeit, seine Entscheidung in Frage zu stellen. Letzte Gedanken wirbelten durch den verwüsteten Verstand, letzte Erkenntnis öffnete ihm die Augen.
Doch befreite sein Opfer die Gefangenen Die Wahl fiel auf ihn und als er starb, starb er als Held und in dem Wissen, dass sein Mut die Rettung für andere bedeutete, dass er allein die Lüge in der Reinheit offenbarte.

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