Leseprobe aus 'Spuren'
Sigrid Lenz
AAVAA Verlag 2010
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Leseprobe
Spuren
Leon wurde langsamer. Sein Atem ging pfeifend. Er hatte den ersten Weg genommen, der ihn von dem merkwürdigen Gebäude in den Wald führte. Überhaupt bestand, bis auf die Lichtung, in die sich das Haus wohl absichtlich idyllisch schmiegte, die gesamte Umgebung praktisch nur aus Wald. Er drehte sich um und fühlte Erleichterung, dass er das Dach nicht mehr sehen konnte. Nur noch dunkle Wipfel, die breite Schatten über den Weg warfen. Das Licht kam ihm fast rötlich vor, wie Blut, das an den Stellen, die es trotz der alles überschattenden Hindernisse erreichte, leuchtete und er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, auf die Uhr zu sehen. Nicht einmal, wie lange er geschlafen hatte, konnte er sagen. Ob er ein oder zwei oder sogar mehr Tage weggewesen war, blieb ein ebensolches Rätsel wie alles andere. Und er hatte weder Lust noch die Kraft, um ernsthaft nach einer Antwort zu suchen.
Eigentlich reagierte er nur auf Instinkt. Wollte einfach weg, von Ismael, von den Fragen, die unvermeidlich kamen, von dem, was ihm bevorstand und dem, was hinter ihm lag.
Er holte tief Luft und klopfte seine Taschen ab, bemerkte erst jetzt die seltsame Kleidung, die er trug. „Na super“, stieß er hervor, als ihm mitsamt des ungewohnt harten und grellen Stoffes das Krankenhaus wieder einfiel. „Na super“, wiederholte er etwas leiser, als die Gesichter von Schwestern, des Arztes und von zwei Polizisten an ihm vorbeizogen. Alle hatten sie ihn angesehen, als käme er von einem anderen Stern. Nicht nur das, sie hatten ihn betrachtet, als raubte er ihnen absichtlich ihre Lebenszeit.
Durchbohrten ihn mit ihren Blicken, wollten Antworten um jeden Preis und konnten sich nicht mit dem zufrieden geben, was er hervorbrachte. Und keiner von ihnen wusste, wie sehr er sich quälte, um überhaupt etwas hervorzubringen.
Eine Zigarette wäre jetzt wirklich fabelhaft. Aber andererseits war ihm auch immer noch ein wenig übel. Sein Magen verkrampfte sich in regelmäßigen Abständen und er hegte ernsthafte Zweifel, ob ihm das Rauchen wirklich gut täte. Andererseits, was sollte auch passieren? Bestenfalls fiele er um und verendete kläglich. Damit wären sowohl ihm, als auch allen anderen geholfen. Vor allem Angela. Besser und gründlicher konnte sie ihn nicht loswerden. Und dann war da noch Ismael, der sich offenkundig die allergrößte Mühe gab. Leon konnte nicht verstehen warum. Und warum diese merkwürdige Flucht? Warum waren sie nicht schon längst wieder in Ismaels Wohnung, gingen zum Alltag über? Es war einfach absurd. Vielleicht aber auch so eine Kleinstadtgeschichte. Manche Dinge passierten dort eben nicht. Man musste alle Rückstände beseitigen, bevor man in sein Leben zurückkehren konnte. Um nur keinen zu stören.
Leons Knie fühlten sich an wie Pudding. Er ging zwei vorsichtige Schritte zum nächsten Baum und rutschte dann an ihm herunter auf den Boden. Die Erde war steinig und unangenehm hart, aber wenigstens trocken.
Sein Kopf schmerzte, aber wenigstens blendete der Kopfschmerz die anderen Beschwerden aus, an die er noch weniger denken wollte. Im Denken lag überhaupt das größte Problem. Wenn er es abstellen könnte, wenn er einfach nur dasitzen und in das Geäst oder in den Himmel starren könnte, dann wäre es sicher einfacher.
Leon blickte nach oben. Ein dunstiger Schleier zog sich bereits über die Baumwipfel, kündigte den bald hereinbrechenden Abend an.
Vielleicht konnte er hier sitzenbleiben. Vielleicht einfach abwarten, bis die Nacht in verschlang. Mit etwas Glück erfror er oder wilde Tiere zerrissen ihn.
Leon schloss die Augen. Aber soviel Glück hatte er nicht, nie gehabt. Er war wohl insgesamt ziemlich frei von Glück. Oder wie sonst ließe es sich erklären, dass Emil so mir nichts dir nichts auftauchen konnte, dass er ihn überhaupt gefunden hatte.
Was hatte er gesagt: Wir gehören zusammen?
Bittere Galle kroch Leons Speiseröhre hoch. Natürlich, wenn er sich an etwas erinnerte, dann an die verwirrten Äußerungen eines kranken Geistes. Denn krank war Emil mit Sicherheit. Soviel war Leon inzwischen durchaus klar. Ob Emil wirklich das geäußert hatte, woran er sich zu erinnern glaubte, das konnte Leon nicht beschwören. Und er wusste sehr gut, dass er dazu in der Lage sein müsste. Zu irgendeinem überzeugenden Gedanken in der Lage sein müsste.
Aber das war er nicht. Nur diese blitzartig auftauchenden Bilder, die ebenso gut aus seinen Albträumen oder aus einer abartigen Fantasie stammen konnten. Einen Sinn ergab das Ganze auch nicht. Warum sollte Emil so einen Quatsch von sich geben? Und warum sollte er überhaupt hier auftauchen?
Vielleicht war er es auch gar nicht gewesen? Vielleicht hatte Leon sich auch das nur eingebildet. Seine Finger rieben nervöse Kreise gegen die Schläfen und Leon merkte es nicht. Vielleicht hatte ihn irgendein beliebiger, zufällig vorbeikommende Einbrecher niedergeschlagen und Ismael hatte einen mordsmäßigen Schreck bekommen und war deshalb verschwunden? Der Mutigste war er sicher nicht. Eher der Typ, der sich unterbuttern ließ und dem Ärger aus dem Weg ging. So wie er selbst.
Leon atmete langsam aus.
Er wünschte, dass der Druck in seinem Kopf nachließe, aber wusste zugleich, dass dies nicht geschähe. Sein Schädel fühlte sich an, als könne er jeden Augenblick auseinanderplatzen, eine blutige Masse Gehirn auf dem Waldweg verteilen. Leon lächelte fast bei der Vorstellung. Was wohl die braven Leute hier dazu sagten? Was Ismael wohl zu einem solchen Anblick sagte?
Er rieb sich die Stirn. Lauter feine Messerklingen malträtierten ihn, stachen wieder und wieder in sein Gehirn. Fast als bezweckten sie damit, etwas herauszuholen. Als wollten sie ihn aufschneiden und seine Geheimnisse ans Licht befördern. Geheimnisse, die er selbst nicht mehr kannte.
Sein Magen drehte sich um und jetzt war Leon froh, dass dieser leer war. Er würgte ein paar Mal erfolglos und sank dann erschöpft gegen den Stamm zurück. Es wurde immer dunkler. Wenn er ein netter, pflichtbewusster Junge wäre, dann würde er jetzt aufstehen. Vielleicht sich bei Ismael bedanken. Wofür auch immer. In das Bett kriechen und schlafen, bis die ganze leidige Geschichte vergessen war.
Nur, dass er nicht aufstehen konnte. Noch nicht.
Die spitzen Messer stachen tiefer. Sie kratzten an nicht verheilten Narben, bohrten sich in den verschlossenen Klumpen, der in seinem Kopf tanzte, trieben ihn dazu, sich heftiger, wilder zu bewegen, von innen gegen seinen Schädel zu pochen, bis er glaubte, die Knochen knacken zu hören.
Er umfasste seinen Kopf mit beiden Händen und stöhnte. Obwohl der Klumpen sich fest verpackt in einer unzerstörbaren Hülle befand, pulsierte er, vermittelte gelegentliche, überraschende Anzeichen der Kräfte, die in ihm tobten. Einer Bombe gleich lauerte er auf eine Explosion, die niemals kommen dürfte.
Leon wusste nicht, was schlimmer war, die Übelkeit oder der Kopfschmerz. Aber er wusste, dass er beides nicht mehr lange aushielt. Er brauchte einen Ausweg, einen Gedanken, an den er sich halten konnte.
Wie hatte er es damals geschafft? Jeder Nerv in ihm warnte ihn davor, sich in der Zeit zurückzubegeben. Die Zeiten waren vorüber, vorbei, vergessen und unbedeutend. Und doch war es ihm gelungen, seine Kindheit zu überstehen, dieses Jahr zu überstehen. Denn ein Jahr war es doch nur gewesen, ein halbes eigentlich, wenn überhaupt, das er seither erfolgreich aus seinem Gedächtnis verbannte.
Ein lächerliches Jahr, das vielleicht ein wenig schwierig gewesen war. Wenn auch nur geringfügig schwieriger als die anderen. Kein Grund, sich über alle Maßen aufzuregen, kein Grund für Übertreibungen oder dafür zurückzuschrecken, wenn nur eine Windhauch aus jenen vergangenen Zeiten zu ihm unter die Nase wehte.
Davon abgesehen, dass es ohnehin bereits zu spät war. Der Windhauch zog doch längst über ihn hinweg. Besser gesagt, der Sturm hatte ihn erneut umgeworfen.
Leon verschlang seine Arme vor der Brust. Auf einmal war ihm kalt. Zugleich schwitzte er, fühlte die Schweißtropfen von seiner Stirn perlen.
So schwer war es nicht gewesen, konnte es nicht gewesen sein. Umstellungen gehörten immer zu seinem Leben, ebenso wie der Wohnungswechsel. Und auch wenn es sich noch so erbärmlich angefühlt hatte, wie ein fünftes Rad am Wagen in der ohnehin bereits überfüllten Bruchbude einer von Angelas wenigen, weiblichen Bekannten Unterschlupf zu finden, so hatte er zumindest seine Ruhe. Oder konnte sie finden, wenn er sich in den übelriechenden Keller des Hauses zurückzog, dorthin wo er nicht hören musste, wie Angela sich bei irgendjemandem der zufällig Anwesenden ausheulte. Wo er den Blicken der anderen Bewohner entging, die ihm vorwarfen, dass er an dem Scheitern der letzten Chance seiner Mutter auf ein glückliches Leben die Schuld trug.
Dort konnte er sich verstecken und die Übelkeit bekämpfen, das schwelende Feuer in seinem Kopf und seinem Herzen in Schach halten.
Leon presste beide Hände gegen seinen Unterleib. Ein dunkles Feuer, eingeschlossen in heißes Metall, wanderte durch seinen Körper, unantastbar und gefährlich. Der einzige Weg damit umzugehen, bestand darin, es tief genug in sich selbst zu verbannen, so tief, dass er es vergessen konnte. Und früher oder später auch vergaß.
Nur dass es nicht das Einzige blieb, das er vergaß.
Leon atmete zitternd ein und blinzelte. Es war noch dunkler geworden und richtig kalt. Die Jacke war zu dünn, Hose und Hemd erst recht. Und seine Füße fühlten sich bereits an wie Eisklumpen. Und er wusste nicht, ob er nicht aufstehen konnte oder es einfach nicht wollte.
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