Montag, 20. April 2009

Held

Es machte Olaf verrückt, wenn Christian sein Haar aus der Stirn warf. Diese eine, lässige Kopfbewegung wirkte auf ihn gleichzeitig lächerlich und auf diese verbotene Art anziehend, die er selbst nicht wagte, vor sich zuzugeben.
Manchmal fragte Olaf sich, was seinen Bruder dazu trieb, eine Frisur zu behalten, die derart unpraktisch war. Davon abgesehen, dass er sich nicht vorstellen konnte, warum Christian es ertrug, sein Gesichtsfeld permanent mit diesen dicken, schwarzen Strähnen einzuschränken.
Der Verdacht, er wollte sich hinter einem Vorhang verstecken, den er jederzeit nach Belieben zuziehen konnte, wollte er sich von der Welt abgrenzen, in seiner eigenen, verschrobenen Vorstellung des Lebens verbleiben, holte Olaf regelmäßig wieder ein.
Und doch musste er zugeben, dass Christians Haar zu ihm passte, weitaus besser passte, als die anderen Haarschnitte, die er während seiner rebellischen Jugendphasen ausprobiert hatte.
Anders als Olaf, der sein Haar stets kurz und praktisch geschnitten trug, funktionell, wie er es ausdrückte.
Andererseits waren sie beide nicht nur in dieser Hinsicht vollkommen verschieden und der Grund dafür lag nicht nur in ihrem Altersunterschied, sondern vor allem in ihrem Wesen begründet.
Christian war ein Träumer, ein Weltverbesserer, wohingegen Olaf sich für einen Macher hielt, angezogen und geleitet von dem Wunsch nach Macht, nach Einfluss, getrieben von dem Drang, etwas zu verändern.
Olaf seufzte und stellte das Glas zurück, ohne davon getrunken zu haben. Manchmal fragte er sich, ob es seine Schuld war, seine Eigenheit, die Unruhe in ihm, die ihn stets wach hielt, in Alarmbereitschaft, die ihn zum handeln zwang. Oder ob es nicht doch an ihren Eltern lag, die ihm von Anfang an eine andere Behandlung hatten zukommen lassen, als seinem kleinen Bruder.
Als Erstgeborener lagen von Anfang an die Erwartungen auf ihm, und damit ein gewisser Druck, den Olaf von Jahr zu Jahr zunehmend als Last empfand. Nicht, dass er sich je dagegen gewehrt hatte. Nein, keine Sekunde hatte er jemals gezögert, keinen einzigen Zweifel sich selbst erlaubt. Es wäre ihm unfair vorgekommen, nach allem, was seine Eltern für ihn getan hatten, nach der teuren Ausbildung, den Elite-Internaten und den Chancen, die ihm auf dem Silbertablett dargeboten worden waren.
Selbstverständlich waren sie auch immer deutlich gewesen, worin im Gegenzug seine Pflichten lagen, wie er zu Handeln habe und inwiefern er seine Dankbarkeit immer und immer wieder von Neuem zu Beweis stellen musste.
Und manchmal, wenn auch nur selten, beneidete Olaf Christian um seine Freiheit, um die Möglichkeit, zu tun, was immer ihm in den Sinn kam, ohne den festgefahrenen Mustern folgen zu müssen, in die er selbst von Kindheit an, gepresst worden war.
Und doch wusste Olaf sehr gut zu welch hohem Preis Christian sich diese Freiheit erkauft hatte, ob es denn in seiner Absicht gelegen hatte, oder auch nicht.
Seit seiner Geburt hatte Christian sich nie mit den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die auf Olaf lasteten. Seine Freiheit bestand bis zu einem gewissen Grade in einer Gleichgültigkeit, die Olaf nur deshalb nicht spürte, weil seine Leere mit den Aufgaben und Pflichten erfüllt wurde, die ihm auferlegt wurden.
Nur in den seltensten Momenten bemerkte Olaf die wohl verborgene Missachtung seiner Eltern. Es waren dies die Momente, in denen er selbst nicht ganz in der Spur lief, die wenigen Augenblicke, in denen er versuchte, eine eigene Meinung zu entwickeln, einen Gedankengang zu verfolgen, der nicht mit dem seiner Familie konform lief.
Dann fühlte er einen Hauch der Kälte, der Christian ständig ausgesetzt war und der sein Bruder nur entkam, indem er sich in Phantasien verstrickte, die ihn aus der Welt, wie sie sich ihm bot, entführten. Indem er Ziele entwickelte, die so entfernt von denen ihrer Eltern waren, dass sie zumindest die Geringste aller Reaktionen hervorrief.
Standhaft hatte er sich geweigert, die Militärschule zu besuchen oder eines der anderen Internate, die ihm vorgeschlagen wurden.
Und Olaf war ihm in dieser Beziehung spontan und für ihn selbst überraschend zur Hilfe gekommen. Sah er doch einfach nicht, dass ein sensibles Kind wie Christian in einer Hierarchie, in der es hauptsächlich um Konkurrenzdenken und Ellbogen ging, bestehen konnte.
Nein, hatte er damals zu seinen Eltern gesagt, in einem der Augenblicke, die ihn neben die Spur brachten. Nein, das ist nichts für Christian. Und sie mussten ihm glauben, wusste er doch besser als jeder Andere, wovon er sprach.
Und als Christian dann Krankenpfleger werden wollte, anstatt in die Anwaltskanzlei einzusteigen, hatte er ihm wieder den Rücken gestärkt. Es war das Mindeste gewesen, was er für ihn tun konnte, ein winziges Zeichen von Solidarität, die jedoch niemals die langen Phasen seiner Abwesenheit von zu Hause gut machen konnten, die Zeiten, in denen er Christian allein ließ. Allein mit der Kälte und Lieblosigkeit eines großen und dunklen Hauses, allein in einer Hoffnungslosigkeit, die jeden Menschen früher oder später erdrückte.
Aber sie erdrückte Christian nicht. Irgendwie schaffte er es, diese Jahre zu überstehen, ohne den leeren und düsteren Blick ihrer Eltern anzunehmen, ohne die stumme Gefühllosigkeit zu übernehmen, welche diese atmeten.
Olaf gelang es immer seine Schuldgefühle beiseite zu drängen. Immerhin war es nicht seine Aufgabe, sich um den kleinen Bruder zu kümmern. Er hatte Besseres zu tun, Wichtigeres. Er musste sein Leben führen, das Beste leisten, zu dem er imstande war, bis an die Grenzen gehen. Und er war bereit und willens, diese Aufgabe auf sich zu nehmen, es immer gewesen.
Lediglich während der pflichtgemäßen Familientreffen, der wenigen Ferien, die er zu Hause verbrachte, bäumte sich das Gespenst auf, wollte ihn nicht los lassen für eine lange Zeit. Bis er wieder fort war, eine Weile fort und eingebunden in sein eigenes Leben, das ihm alles abverlangte.
Mehr als auf alles Andere, freute er sich jedesmal darauf, Christian wiederzusehen. Mehr als auf seine Eltern, mehr als auf das Zimmer, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, und das immer noch die Comics und Spielsachen enthielt, für die er damals bereits zu wenig Zeit gehabt hatte.
Und jedesmal wieder war er überrascht, vielleicht sogar ein wenig erschrocken, sobald er der Veränderungen gewahr wurde, die in dem Jungen vorgegangen waren, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Christian wuchs für ihn in Schüben, verwandelte sich in Sekundenschnelle vom Kleinkind zum Sechsjährigen, vom Schulkind in einen Teenager.
Und immer sah er ihn an mit diesem Ausdruck, den Olaf nur als stumme Frage deuten konnte. Als die Frage, die er sich selbst auch immer stellte: Wie nur brachte er es fertig, ihn so lange alleine zu lassen.
Als Christian größer wurde, sich der Schwelle zum Erwachsenwerden näherte, begann sich zu Olafs Schuldgefühlen etwas Anderes zu addieren, etwas, das er lange nicht erkannte, dann verleugnete und das er sich immer weigern würde, zuzugeben. So dachte Olaf.
Und er gab Christian die Schuld. Christian, der sich so anhänglich zeigte, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, sobald er eingetroffen war. Christian, der seine Hände nicht von ihm lassen konnte, der ihn umarmte, sich an ihn hängte, ihm durch das kurze Haar strich, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt. Nichts Faszinierenderes, als die Widerspenstigkeit von Olafs meist streng zurückgekämmten Haar, das er so sorgfältig in Schach hielt, und dem doch nicht viel fehlte, um ihm ein wildes, wirres Aussehen zu verleihen, kamen die Strähnen durcheinander, entwickelten ein Eigenleben und standen plötzlich in alle Himmelsrichtungen ab.
Zu dieser Zeit fiel Olaf auch Christians abstrakte Frisur auf, die Art, wie er die dunklen Strähnen während des Dinners über die Stirn fallen ließ, um mit seinen dunklen Augen darunter hervor zu linsen. Olaf wusste, dass Christian ihn beobachtete und er wusste ebenso gut, dass Christian glaubte, er würde es nicht merken, dass sein Haar ihn vor der Entdeckung schützte.
Christian war sein kleiner Bruder und er würde es auch immer sein. Und auch, wenn es Olaf bislang nicht gelungen war, seiner Rolle auch nur annähernd gerecht zu werden, so vergaß er doch nun nicht, worauf es dabei ankam.
Es war seine Pflicht, Christian zu beschützen. Und wenn es sein musste, dann auch, ihn vor ihm selbst zu schützen.
So dachte Olaf und hob sein Glas an die Lippen, um endlich zu trinken.
Daran änderte sich auch nichts, nachdem Christian erwachsen geworden war, ihr Elternhaus verlassen und sich in einem kleinen, in Olafs Augen schäbigen Apartment eingemietet hatte.
Christian war nun ein Mann, er übte einen Beruf aus, so verächtlich ihre Eltern auch über diesen sprechen mochten, und er führte sein eigenes, selbstständiges Leben, unabhängig von all dem, womit die Familie Olaf für immer an sich gebunden hatte und immer an sich binden würde.
Und Olaf fühlte wieder den leisen Stachel der Eifersucht, der ihn doch hin und wieder quälte, erlaubte er sich vorzustellen, wie sein Leben aussähe, hätte er sich von Anfang an gegen die Bevormundung, gegen die Fremdbestimmung von außen gewehrt.
Olaf trank. Die Flüssigkeit rann scharf seine Kehle hinunter. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, und Olaf war zu pragmatisch, um weiterhin seine Zeit mit nutzlosen Betrachtungen zu verschwenden.
Selbst wenn es für ihn eine Wahl gegeben hätte, so stände er nun nirgendwo anders. Er gehörte an diesen Ort, sein Leben gehörte zu ihm. Es war richtig und sofern etwas wie eine Bestimmung existierte, so war dieses die Seine.
Olaf sah auf, als sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Rasch trank er einen weiteren Schluck und füllte dann sein Glas wieder, ohne dabei zuzusehen, wie die Tür sich öffnete. Er wusste auch so, wer es war.
Diese Stadtwohnung war Olafs heimliche Zuflucht. Den wenigsten Menschen gab er die Adresse und der Einzige, der einen Schlüssel besaß, war sein Bruder.
„Chris“, sagte Olaf ohne aufzusehen, lauschte nur dem vertrauten Schritt, dem Plumpsen des Rucksackes, den Christian sofort neben der Tür fallen ließ, ebenso wie dem Geräusch der Jacke, aus der der Jüngere schlüpfte, nur um sie ebenso achtlos auf den Boden fallen zu lassen.
Olaf unterdrückte ein Lächeln. Der Einzige, dem er dies durchgehen ließ, war sein kleiner Bruder. Bei jedem Anderen hätte er längst verlangt, dass dieser seine Sachen ordentlich aufräumte, doch bei Christian war er in der Lage, die Unordnung zu übersehen.
„Was tust du hier?“, fragte er immer noch ohne aufzusehen.
Schnelle Schritte näherten sich ihm und Christian ließ sich mit einem Seufzer neben ihm auf das Sofa sinken.
Erst jetzt wand Olaf sich zu ihm um und erschrak leicht über die Blässe in Christians Gesicht.
„Was ist los?“, fragte er unwillkürlich und es gelang ihm gerade noch seine Hand zu stoppen, die sich wie von selbst auf die Christians legen wollte.
„Was ist geschehen?“ Doch Christian schüttelte nur den Kopf, erlaubte es seinen Strähnen das bleiche Gesicht zu verdecken.
Und noch ehe Olaf wusste wie ihm geschah, hatte der Jüngere seine Arme um ihn geschlungen und sich gegen ihn gelehnt. So wie er es Jahre zuvor, noch ehe er zum Mann geworden war, noch ehe er zumindest ein Mindestmaß an Zurückhaltung gelernt hatte, tat.
Olaf erschauerte und er verwünschte den letzten Drink, den er genommen hatte, wusste er doch nur zu gut, wie es um seine Zurückhaltung unter Alkoholeinfluss bestellt war. Auch ohne benötigte er wenig Überredungskunst, gab er seinem Verlangen zu oft und zu rasch nach, als gut für ihn war.
Doch wenn er getrunken hatte, fand er sich gelegentlich in Situationen wieder, die ihm noch im Nachhinein die Schamesröte in die Wangen trieb.
Am schlimmsten war es, wenn er sich am Morgen den großen Augen eines jungen Mannes gegenübersah, eines Mannes, der verdächtige Ähnlichkeit mit Christian aufwies, der lange, dunkle Haare trug, hinter denen er sein jugendliches Gesicht versteckte. Eines Mannes, der für sein Alter fast zu schmächtig wirkte und der dennoch, wenn es um das Eine ging, eine Direktheit an den Tag legte, die Olaf erröten ließ.
Jedesmal wieder verabscheute er sich selbst im Nachhinein, verabscheute sich für diese kranke Begierde, für dieses Verlangen, von dem er genau wusste, dass er es niemals zulassen durfte, wenn nicht alles noch viel schlimmer, noch viel schwieriger werden sollte, als es ohnehin schon war.
Deshalb bemühte Olaf sich, seinen Alkoholkonsum in Grenzen zu halten. Deshalb trank er meist nur hinter verschlossenen Türen, wenn er sicher war, und wenn er sich in ausreichender Entfernung zu Christian aufhielt.
Doch jetzt war Christian bei ihm und Olaf spürte die Wärme seines Körpers, fühlte das seidig weiche Haar, das seinen Hals kitzelte. Und er stöhnte leise.
„Was ist?“, war es diesmal an Christian zu fragen. „Was hast du?“
Doch Olaf schüttelte nur seinen Kopf, unfähig zu antworten. Er presste seine Zähne zusammen, spürte seinen Körper erzittern, als Christians Hand seinen Arm hinauf wanderte.
„Es ist in Ordnung“, flüsterte Christian. „Ich fühle es auch.“

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