Montag, 20. April 2009

Held

Es machte Olaf verrückt, wenn Christian sein Haar aus der Stirn warf. Diese eine, lässige Kopfbewegung wirkte auf ihn gleichzeitig lächerlich und auf diese verbotene Art anziehend, die er selbst nicht wagte, vor sich zuzugeben.
Manchmal fragte Olaf sich, was seinen Bruder dazu trieb, eine Frisur zu behalten, die derart unpraktisch war. Davon abgesehen, dass er sich nicht vorstellen konnte, warum Christian es ertrug, sein Gesichtsfeld permanent mit diesen dicken, schwarzen Strähnen einzuschränken.
Der Verdacht, er wollte sich hinter einem Vorhang verstecken, den er jederzeit nach Belieben zuziehen konnte, wollte er sich von der Welt abgrenzen, in seiner eigenen, verschrobenen Vorstellung des Lebens verbleiben, holte Olaf regelmäßig wieder ein.
Und doch musste er zugeben, dass Christians Haar zu ihm passte, weitaus besser passte, als die anderen Haarschnitte, die er während seiner rebellischen Jugendphasen ausprobiert hatte.
Anders als Olaf, der sein Haar stets kurz und praktisch geschnitten trug, funktionell, wie er es ausdrückte.
Andererseits waren sie beide nicht nur in dieser Hinsicht vollkommen verschieden und der Grund dafür lag nicht nur in ihrem Altersunterschied, sondern vor allem in ihrem Wesen begründet.
Christian war ein Träumer, ein Weltverbesserer, wohingegen Olaf sich für einen Macher hielt, angezogen und geleitet von dem Wunsch nach Macht, nach Einfluss, getrieben von dem Drang, etwas zu verändern.
Olaf seufzte und stellte das Glas zurück, ohne davon getrunken zu haben. Manchmal fragte er sich, ob es seine Schuld war, seine Eigenheit, die Unruhe in ihm, die ihn stets wach hielt, in Alarmbereitschaft, die ihn zum handeln zwang. Oder ob es nicht doch an ihren Eltern lag, die ihm von Anfang an eine andere Behandlung hatten zukommen lassen, als seinem kleinen Bruder.
Als Erstgeborener lagen von Anfang an die Erwartungen auf ihm, und damit ein gewisser Druck, den Olaf von Jahr zu Jahr zunehmend als Last empfand. Nicht, dass er sich je dagegen gewehrt hatte. Nein, keine Sekunde hatte er jemals gezögert, keinen einzigen Zweifel sich selbst erlaubt. Es wäre ihm unfair vorgekommen, nach allem, was seine Eltern für ihn getan hatten, nach der teuren Ausbildung, den Elite-Internaten und den Chancen, die ihm auf dem Silbertablett dargeboten worden waren.
Selbstverständlich waren sie auch immer deutlich gewesen, worin im Gegenzug seine Pflichten lagen, wie er zu Handeln habe und inwiefern er seine Dankbarkeit immer und immer wieder von Neuem zu Beweis stellen musste.
Und manchmal, wenn auch nur selten, beneidete Olaf Christian um seine Freiheit, um die Möglichkeit, zu tun, was immer ihm in den Sinn kam, ohne den festgefahrenen Mustern folgen zu müssen, in die er selbst von Kindheit an, gepresst worden war.
Und doch wusste Olaf sehr gut zu welch hohem Preis Christian sich diese Freiheit erkauft hatte, ob es denn in seiner Absicht gelegen hatte, oder auch nicht.
Seit seiner Geburt hatte Christian sich nie mit den Erwartungen auseinandersetzen müssen, die auf Olaf lasteten. Seine Freiheit bestand bis zu einem gewissen Grade in einer Gleichgültigkeit, die Olaf nur deshalb nicht spürte, weil seine Leere mit den Aufgaben und Pflichten erfüllt wurde, die ihm auferlegt wurden.
Nur in den seltensten Momenten bemerkte Olaf die wohl verborgene Missachtung seiner Eltern. Es waren dies die Momente, in denen er selbst nicht ganz in der Spur lief, die wenigen Augenblicke, in denen er versuchte, eine eigene Meinung zu entwickeln, einen Gedankengang zu verfolgen, der nicht mit dem seiner Familie konform lief.
Dann fühlte er einen Hauch der Kälte, der Christian ständig ausgesetzt war und der sein Bruder nur entkam, indem er sich in Phantasien verstrickte, die ihn aus der Welt, wie sie sich ihm bot, entführten. Indem er Ziele entwickelte, die so entfernt von denen ihrer Eltern waren, dass sie zumindest die Geringste aller Reaktionen hervorrief.
Standhaft hatte er sich geweigert, die Militärschule zu besuchen oder eines der anderen Internate, die ihm vorgeschlagen wurden.
Und Olaf war ihm in dieser Beziehung spontan und für ihn selbst überraschend zur Hilfe gekommen. Sah er doch einfach nicht, dass ein sensibles Kind wie Christian in einer Hierarchie, in der es hauptsächlich um Konkurrenzdenken und Ellbogen ging, bestehen konnte.
Nein, hatte er damals zu seinen Eltern gesagt, in einem der Augenblicke, die ihn neben die Spur brachten. Nein, das ist nichts für Christian. Und sie mussten ihm glauben, wusste er doch besser als jeder Andere, wovon er sprach.
Und als Christian dann Krankenpfleger werden wollte, anstatt in die Anwaltskanzlei einzusteigen, hatte er ihm wieder den Rücken gestärkt. Es war das Mindeste gewesen, was er für ihn tun konnte, ein winziges Zeichen von Solidarität, die jedoch niemals die langen Phasen seiner Abwesenheit von zu Hause gut machen konnten, die Zeiten, in denen er Christian allein ließ. Allein mit der Kälte und Lieblosigkeit eines großen und dunklen Hauses, allein in einer Hoffnungslosigkeit, die jeden Menschen früher oder später erdrückte.
Aber sie erdrückte Christian nicht. Irgendwie schaffte er es, diese Jahre zu überstehen, ohne den leeren und düsteren Blick ihrer Eltern anzunehmen, ohne die stumme Gefühllosigkeit zu übernehmen, welche diese atmeten.
Olaf gelang es immer seine Schuldgefühle beiseite zu drängen. Immerhin war es nicht seine Aufgabe, sich um den kleinen Bruder zu kümmern. Er hatte Besseres zu tun, Wichtigeres. Er musste sein Leben führen, das Beste leisten, zu dem er imstande war, bis an die Grenzen gehen. Und er war bereit und willens, diese Aufgabe auf sich zu nehmen, es immer gewesen.
Lediglich während der pflichtgemäßen Familientreffen, der wenigen Ferien, die er zu Hause verbrachte, bäumte sich das Gespenst auf, wollte ihn nicht los lassen für eine lange Zeit. Bis er wieder fort war, eine Weile fort und eingebunden in sein eigenes Leben, das ihm alles abverlangte.
Mehr als auf alles Andere, freute er sich jedesmal darauf, Christian wiederzusehen. Mehr als auf seine Eltern, mehr als auf das Zimmer, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, und das immer noch die Comics und Spielsachen enthielt, für die er damals bereits zu wenig Zeit gehabt hatte.
Und jedesmal wieder war er überrascht, vielleicht sogar ein wenig erschrocken, sobald er der Veränderungen gewahr wurde, die in dem Jungen vorgegangen waren, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Christian wuchs für ihn in Schüben, verwandelte sich in Sekundenschnelle vom Kleinkind zum Sechsjährigen, vom Schulkind in einen Teenager.
Und immer sah er ihn an mit diesem Ausdruck, den Olaf nur als stumme Frage deuten konnte. Als die Frage, die er sich selbst auch immer stellte: Wie nur brachte er es fertig, ihn so lange alleine zu lassen.
Als Christian größer wurde, sich der Schwelle zum Erwachsenwerden näherte, begann sich zu Olafs Schuldgefühlen etwas Anderes zu addieren, etwas, das er lange nicht erkannte, dann verleugnete und das er sich immer weigern würde, zuzugeben. So dachte Olaf.
Und er gab Christian die Schuld. Christian, der sich so anhänglich zeigte, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, sobald er eingetroffen war. Christian, der seine Hände nicht von ihm lassen konnte, der ihn umarmte, sich an ihn hängte, ihm durch das kurze Haar strich, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt. Nichts Faszinierenderes, als die Widerspenstigkeit von Olafs meist streng zurückgekämmten Haar, das er so sorgfältig in Schach hielt, und dem doch nicht viel fehlte, um ihm ein wildes, wirres Aussehen zu verleihen, kamen die Strähnen durcheinander, entwickelten ein Eigenleben und standen plötzlich in alle Himmelsrichtungen ab.
Zu dieser Zeit fiel Olaf auch Christians abstrakte Frisur auf, die Art, wie er die dunklen Strähnen während des Dinners über die Stirn fallen ließ, um mit seinen dunklen Augen darunter hervor zu linsen. Olaf wusste, dass Christian ihn beobachtete und er wusste ebenso gut, dass Christian glaubte, er würde es nicht merken, dass sein Haar ihn vor der Entdeckung schützte.
Christian war sein kleiner Bruder und er würde es auch immer sein. Und auch, wenn es Olaf bislang nicht gelungen war, seiner Rolle auch nur annähernd gerecht zu werden, so vergaß er doch nun nicht, worauf es dabei ankam.
Es war seine Pflicht, Christian zu beschützen. Und wenn es sein musste, dann auch, ihn vor ihm selbst zu schützen.
So dachte Olaf und hob sein Glas an die Lippen, um endlich zu trinken.
Daran änderte sich auch nichts, nachdem Christian erwachsen geworden war, ihr Elternhaus verlassen und sich in einem kleinen, in Olafs Augen schäbigen Apartment eingemietet hatte.
Christian war nun ein Mann, er übte einen Beruf aus, so verächtlich ihre Eltern auch über diesen sprechen mochten, und er führte sein eigenes, selbstständiges Leben, unabhängig von all dem, womit die Familie Olaf für immer an sich gebunden hatte und immer an sich binden würde.
Und Olaf fühlte wieder den leisen Stachel der Eifersucht, der ihn doch hin und wieder quälte, erlaubte er sich vorzustellen, wie sein Leben aussähe, hätte er sich von Anfang an gegen die Bevormundung, gegen die Fremdbestimmung von außen gewehrt.
Olaf trank. Die Flüssigkeit rann scharf seine Kehle hinunter. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken, und Olaf war zu pragmatisch, um weiterhin seine Zeit mit nutzlosen Betrachtungen zu verschwenden.
Selbst wenn es für ihn eine Wahl gegeben hätte, so stände er nun nirgendwo anders. Er gehörte an diesen Ort, sein Leben gehörte zu ihm. Es war richtig und sofern etwas wie eine Bestimmung existierte, so war dieses die Seine.
Olaf sah auf, als sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Rasch trank er einen weiteren Schluck und füllte dann sein Glas wieder, ohne dabei zuzusehen, wie die Tür sich öffnete. Er wusste auch so, wer es war.
Diese Stadtwohnung war Olafs heimliche Zuflucht. Den wenigsten Menschen gab er die Adresse und der Einzige, der einen Schlüssel besaß, war sein Bruder.
„Chris“, sagte Olaf ohne aufzusehen, lauschte nur dem vertrauten Schritt, dem Plumpsen des Rucksackes, den Christian sofort neben der Tür fallen ließ, ebenso wie dem Geräusch der Jacke, aus der der Jüngere schlüpfte, nur um sie ebenso achtlos auf den Boden fallen zu lassen.
Olaf unterdrückte ein Lächeln. Der Einzige, dem er dies durchgehen ließ, war sein kleiner Bruder. Bei jedem Anderen hätte er längst verlangt, dass dieser seine Sachen ordentlich aufräumte, doch bei Christian war er in der Lage, die Unordnung zu übersehen.
„Was tust du hier?“, fragte er immer noch ohne aufzusehen.
Schnelle Schritte näherten sich ihm und Christian ließ sich mit einem Seufzer neben ihm auf das Sofa sinken.
Erst jetzt wand Olaf sich zu ihm um und erschrak leicht über die Blässe in Christians Gesicht.
„Was ist los?“, fragte er unwillkürlich und es gelang ihm gerade noch seine Hand zu stoppen, die sich wie von selbst auf die Christians legen wollte.
„Was ist geschehen?“ Doch Christian schüttelte nur den Kopf, erlaubte es seinen Strähnen das bleiche Gesicht zu verdecken.
Und noch ehe Olaf wusste wie ihm geschah, hatte der Jüngere seine Arme um ihn geschlungen und sich gegen ihn gelehnt. So wie er es Jahre zuvor, noch ehe er zum Mann geworden war, noch ehe er zumindest ein Mindestmaß an Zurückhaltung gelernt hatte, tat.
Olaf erschauerte und er verwünschte den letzten Drink, den er genommen hatte, wusste er doch nur zu gut, wie es um seine Zurückhaltung unter Alkoholeinfluss bestellt war. Auch ohne benötigte er wenig Überredungskunst, gab er seinem Verlangen zu oft und zu rasch nach, als gut für ihn war.
Doch wenn er getrunken hatte, fand er sich gelegentlich in Situationen wieder, die ihm noch im Nachhinein die Schamesröte in die Wangen trieb.
Am schlimmsten war es, wenn er sich am Morgen den großen Augen eines jungen Mannes gegenübersah, eines Mannes, der verdächtige Ähnlichkeit mit Christian aufwies, der lange, dunkle Haare trug, hinter denen er sein jugendliches Gesicht versteckte. Eines Mannes, der für sein Alter fast zu schmächtig wirkte und der dennoch, wenn es um das Eine ging, eine Direktheit an den Tag legte, die Olaf erröten ließ.
Jedesmal wieder verabscheute er sich selbst im Nachhinein, verabscheute sich für diese kranke Begierde, für dieses Verlangen, von dem er genau wusste, dass er es niemals zulassen durfte, wenn nicht alles noch viel schlimmer, noch viel schwieriger werden sollte, als es ohnehin schon war.
Deshalb bemühte Olaf sich, seinen Alkoholkonsum in Grenzen zu halten. Deshalb trank er meist nur hinter verschlossenen Türen, wenn er sicher war, und wenn er sich in ausreichender Entfernung zu Christian aufhielt.
Doch jetzt war Christian bei ihm und Olaf spürte die Wärme seines Körpers, fühlte das seidig weiche Haar, das seinen Hals kitzelte. Und er stöhnte leise.
„Was ist?“, war es diesmal an Christian zu fragen. „Was hast du?“
Doch Olaf schüttelte nur seinen Kopf, unfähig zu antworten. Er presste seine Zähne zusammen, spürte seinen Körper erzittern, als Christians Hand seinen Arm hinauf wanderte.
„Es ist in Ordnung“, flüsterte Christian. „Ich fühle es auch.“

Sonntag, 5. April 2009

Wasser

Wasser

Schon immer hatte er sich auf eine geradezu abartige Weise vor dem Wasser gefürchtet. Seine Mutter war nicht müde geworden, immer wieder davon zu erzählen, wie er sich mit Händen und Füßen und lautstarkem Gebrüll bereits als Baby vor dem Waschen gefürchtet, beim Anblick der Badewanne in regelrechte Panikattacken ausgebrochen war.
Man hatte dieser Eigenart schließlich Rechnung getragen und sich damit begnügt, ihn lediglich mit einem feuchten Waschlappen zu säubern. Ebenso gewöhnten seine Eltern sich an, ihm die Haare stets bis an die Grenze zur Nichtexistenz abzuschneiden, einzig zu dem Zwecke, damit auch hier die soeben erwähnte Reinigungsmethode ausreichte.
Auf Vergnügungen, denen sich andere Kinder hingaben, wie das Plantschen in offenen Gewässern, oder auf das lediglich barfüßige Waten durch sanft dahinplätschernde Wellen, verzichteten sie sehr bald. Gedanken an Schwimmen lernen, Urlaub am Meer oder in Badeparadiesen kamen erst gar nicht zur Sprache.
Felix vermisste Vergnüglichkeiten dieser Art nicht im Geringsten. Im Gegenteil, für die begeisterten Berichte seiner Klassenkameraden, oder deren sommerliche Verabredungen in Freibädern oder am Badesee, zeigte er nur ein verächtliches Lächeln.
Nach seiner Ansicht war der Mensch nicht dafür geboren, sein Leben im oder auch nur am Wasser zu verbringen. Die Sehnsucht der meisten seiner Mitbürger nach dem Anblick der unendlich blauen Fläche, dem unverkennbaren Geruch nach Algen und Seetang, verstand Felix nicht einmal ansatzweise.
Wuchsen ihm etwa Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen, oder war es ihm gegeben, mit Kiemen ausgestattet unter Wasser zu überleben?
Mit Sicherheit nicht, und Felix war davon überzeugt, dass in diesen Vorgaben der Natur ein Sinn lag und eine Anweisung, der er nicht plante, sich zu widersetzen.
Nein, er hielt es mit den weisen Naturvölkern, die sich von ihren Gewässern fernhielten, bedachte dabei allerdings nicht, dass diese aus guten Gründen, wie dem Wunsch zu Überleben handelten.
Beinhalteten die mit dem Wasser verbundenen Gefahren doch ekelhaftes und unberechenbares Getier, wie nur als Beispiel erwähnt Krokodile oder Schlangen. Viel schlimmer und furchteinflößender stellten sich ihm die Möglichkeiten dar, die sich jedem Parasiten bot, der sich auf einen nichtsahnend in die verseuchte Flüssigkeit steigenden und nur allzu verwundbaren Körper stürzen konnte. Angefangen mit Blutegeln, machten die Horrorgeschichten auch nicht vor dem widerlichsten Gewürm Halt, das sich durch jede Körperöffnung Einlass verschaffen und sein zerstörerisches Werk beginnen konnte.
Es blieb dabei, Wasser war ein zu unabwägbares Risiko, als dass man allzu leichtfertig damit umgehen sollte.
Als Felix älter wurde, gewöhnte er sich an, auch bei dem, was er aufnahm und nicht nur bei der Umgebung, der er seinen Körper aussetzte, genauestens auf seine Sicherheit zu achten.
Wasser, das er zu trinken beabsichtigte, musste gründlich abgekocht werden, mindestens zehn Minuten, bestenfalls über einen Zeitraum von zwanzig Minuten.
Da Felix zu dieser Zeit gerade mitten in wichtigen Prüfungen steckte, nahm seine Mutter die Mühe gerne in Kauf und sorgte dafür, dass jede Flüssigkeit, die ihr Sohn aufzunehmen beabsichtigte, auch die gewünschte Zeit sterilisiert wurde.
Immerhin – sicher war sicher – und im Grunde konnte es auch kein Fehler sein, auf seine Gesundheit zu achten.
Und gesund blieb Felix, das musste jeder in seiner Umgebung zugeben. Als würden die Keime einen Bogen um ihn machen, so erkältete er sich so gut wie nie, blieb von geradezu nervtötender Gesundheit.
Ein wenig anstrengender, aber immer noch akzeptabel wurde es in ihren Augen, als Felix beschloss, dass auch zum täglichen Putzen der Zähne und dem ohnehin schon sparsam ausgeführten Ritual der Körperpflege nichts anderes, als bereits abgekochtes Wasser akzeptiert werden konnte.
Die Prüfungen gingen vorbei, und Felix begann sein Studium. Er entschied sich in der nahegelegenen Großstadt zu studieren, um das Geld für die Unterkunft zu sparen. Nicht nötig war es dabei zu erwähnen, dass es ihm in jeder anderen Umgebung, außerhalb der seiner Eltern, kaum möglich gewesen wäre, sein Tagespensum zu erfüllen.
Dieses beinhaltete neuerdings zu dem Abkochen jeder Flüssigkeit, auch noch die dreifache Wiederholung des Vaterunsers, begleitet von einer genauestens ausgeklügelten Abfolge gymnastischer Übungen, die er sich bereits vor Jahren zusammengestellt hatte.
Diese bezweckte eine ausgewogene und wiederholte Anspannung und darauffolgende Entspannung sämtlicher Muskelpartien, eine Möglichkeit, wie er sie sah, um den Körper zu reinigen von den schädlichen Einflüssen, denen er während der Fahrt zur Uni ausgesetzt war.
Sein Pech wollte es nämlich, dass diese Fahrt direkt an einem Gewässer vorbeiführte.
Zugegeben, er sah dieses nur durch die trüben Scheiben eines Zugfensters, doch allein das Wissen um die Existenz, um die unmittelbare Nähe mit der Gefahr, erweckte in Felix unangenehmste Gefühle. Diese schienen ihm am ehesten noch mit denen vergleichbar, die ihn bereits während Kindheit in ein nervliches Wrack verwandelt hatten.
Er sprach nicht über sein Leiden. Wenn ihm doch eine Bemerkung herausrutschte im Beisein eines Menschen, dem er genug Vertrauen schenkte, als dass er sich soweit öffnen konnte, so führte sie zumeist zu ähnlichen gutgemeinten, wenngleich unnötigen Ratschlägen.
Da war zum Beispiel der Vorschlag, doch den Führerschein zu machen und mit Hilfe eines Autos der so verhassten Zugfahrt aus dem Weg zu gehen.
Felix nickte nur höflich zu Ratschlägen wie diesem und bedankte sich nach allen Regeln des Anstands.
Tief in sich konnte er jedoch nicht anders, als heftig den Kopf zu schütteln über die Naivität einer solchen Denkungsart.
Bedachten all die wohlmeinenden Personen doch weder, dass der Besitz eines Autos die zwangsläufige Reinigung desselben zur Folge hatte. Und weder hatte Felix vor, sich mit eimerweise abgekochten Wasser an das Polieren eines Haufen Blechs zu begeben, noch zog er auch nur den Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit der Waschanlage in Erwägung. Allein ein Anblick eines solchen Gebildes ließ Felix bereits erschauern.
Doch der Schwerwiegendste aller Gründe lag in dem Rinnsal von Bach, das sich direkt um die einzige Fahrschule des kleinen Vorortes schlängelte.
Ein Bach, der immer noch groß genug war, als dass Felix, sobald er in dessen Nähe kam, gezwungen war, sein Ritual der Vaterunser und der rhythmischen Übungen auszuführen.
Nicht selten erntete er dabei schräge Blicke von zufällig Vorbeigehenden, doch im Laufe der Zeit gewöhnte er sich an diese Unannehmlichkeit und bemühte sich, darüber hinweg zu sehen.
Andere Menschen verstanden nicht, was er verstand. Sie sahen die Gefahren nicht, denen er täglich ausgesetzt war. Und manchmal beneidete Felix sie, beneidete sie um ihre Leichtfertigkeit, ihre Gedankenlosigkeit, ihr oberflächliches Treiben über die klaffenden Abgründe der Welt hinweg, vorbei an hungrigen Monstern und unsichtbaren Gefahren.
Nur er sah sie, sah jedes Monster in jeder erschreckenden Einzelheit, erkannte jede Gefahr in ihrer ganzen Ausprägung, ihrem fürchterlichen Grauen.
Und so blieb es seine Aufgabe, die Drohungen des Unvorhersehbaren in Schach zu halten, seine Aufgabe, mit all seinen Möglichkeiten dagegen anzukämpfen, dass das Böse die Überhand gewann, dass der Schrecken die Kontrolle übernahm.
Er hatte keine andere Wahl, als seine Übungen auszudehnen, als seine Einschränkungen genauer zu definieren.
Bald sah man ihn fast ausschließlich mit unermüdlich sich bewegenden Lippen. Ständige Vaterunser entströmten seinem Mund, verstummten nur, wenn die Anstrengung des Trainings ihm die Puste nahmen.
Denn seinen Körper zu stählen, abzuhärten, sah Felix als einzigen Ausweg aus dem Dilemma der immer größer werden Risiken, die ihn umgaben.
Er musste Umwege nehmen, joggte durch mehrere Querstraßen, vor und zurück, um von dem Brunnen auf dem Marktplatz den größtmöglichen Abstand zu halten.
Dazu kamen die unvorhergesehenen Notwendigkeiten, wie zum Beispiel gerade im Sommer die zunehmende Anzahl offen herumstehender Wasserflaschen, Gießkannen oder noch schlimmer: laufender Gartensprenganlagen.
Felix sprach bald nicht mehr, nichts Anderes als sein zum Mantra gewordenes Gebet. Zu sehr waren seine Lippen damit beschäftigt, die Worte des Vaterunsers zu formen.
Die Übungen, die er mittlerweile um einige Kniebeugen und Liegestützen erweitert hatte, nahmen ihn zu sehr in Anspruch, als dass er noch den Aufgaben des Studiums nachkommen konnte.
Unnötig zu erwähnen, dass seine Eltern sich hilflos fühlten. Schon seit langem war jede Ansprache an ihn ungehört verhallt. Zu lange hatten sie sein Verständnis vorgaukelndes Kopfnicken als positives Zeichen gewertet und nicht als das gesehen, was es war: Die Möglichkeit, sie für den Moment loszuwerden und sich ihrer unnötigen Mittäterschaft zu entledigen.
Der Priester, den sie aufgrund seiner unzerstörbaren Vorliebe für die Worte des Herrn holten, brachte sie nicht weiter, begnügte Felix sich doch damit, ihn mit Missachtung zu strafen, woraus jener unweigerlich schloss, dass es sich hierbei um kein kirchliches Problem handelte und sich umgehend empfahl.
Es überraschte also nicht wirklich festzustellen, dass den lieben Eltern von Felix die Belastung über kurz oder lang zu viel wurde. Nun – sie selbst überraschte es vielleicht und auch Felix. Obwohl Felix im Grunde zu abgelenkt war, um die Veränderungen um ihn wahrzunehmen.
Seine Eltern zogen sich auffallend zurück, nicht unbedingt absichtlich, sondern mehr aus Gründen der Notwendigkeit, besser gesagt aus Gründen der puren Selbsterhaltung.
Sie gingen Felix aus dem Weg, soweit ihnen dieses möglich war und sie ignorierten sein Verhalten mit all der verbleibenden Kraft, die ihnen zur Verfügung stand.
Unglücklicherweise handelte es sich bei dieser Kraft nur noch um einen spärlichen Rest dessen, was sie einst als junge Eltern ausgezeichnet hatte. Die jahrzehntelange Beobachtung, das Hegen und Pflegen einer Pflanze, die in keine Richtung wuchs, die sich im Kreis drehte und keine Anstalten unternahm, ihrem eigenen ewig verzweifelten Rundlauf ein Ende zu bereiten, hatten sie bis zu einem Punkt erschöpft, an dem kein Ausweg mehr zu existieren schien.
Sie liebten Felix, liebten ihn wirklich, und vielleicht war auch das der Grund, warum sie beschlossen, ihn und damit auch sich selbst von dem Elend, das sie eingeholt hatte, zu befreien.
Gerichtsverhandlungen, psychiatrische Sitzungen und Gefängnisstrafe ertrugen sie ohne zu klagen. Ruhig und stoisch saßen sie ihre Zeit ab, unterließen unnötige Verteidigungsmaßnahmen, leere Rechtfertigungen.
Denn sie waren sich einig, wie stets in den wichtigen Fragen ihrer Ehe, einig, dass es die Opfer wert war, endlich frei zu sein.
Und es war leichter gewesen, als erwartet. Kam ihnen der geschwächte Zustand ihres Sohnes doch zu Gute. Selbst wenn sie einen Moment befürchtet hätten, ihn mit ihren vereinten Kräften nicht unter dem Kissen festhalten zu können, so wussten sie doch, dass der tropfende Eimer Wassers neben seinem Bett, die erforderliche Lähmung zur Folge hatte, die eine Schrecksekunde, die sie brauchten.
Ihre Trauer hielt sich aus den erwähnten Gründen in Grenzen, und das erste, was sie unternahmen, nachdem ihre Freiheit ihnen wieder geschenkt worden war, bestand in einem Ausflug an die See. Wasser soweit das Auge reichte. Wasser und sonst nichts mehr.