Samstag, 13. Juni 2009

Gedanke

Die Wellen plätscherten gegen den Bootsrumpf, und doch schlingerte das Schiff nicht mehr so stark, wie es Aaron bislang vorgekommen war.

Vielleicht beruhigte die See sich gegen Abend.
Vielleicht gewöhnte er sich auch nur so langsam an das ständige Auf- und Ab, die permanenten Bewegungen, die dem Mensch, der sich entschieden hatte, längere Zeit auf dem Meer zu verbringen, zwangsläufig vertraut werden mussten, wollte er nicht in ihrem Verlaufe dem Wahnsinn verfallen.

Der Sonnenuntergang war traumhaft schön, auch wenn es sich lächerlich oder gar kitschig anhörte, dies zuzugeben.
Kein Geräusch, außer den beruhigenden Tönen, die das Wasser verursachte, und dem gelegentliche Knarzen des Bootes störte die Stille, einen Frieden, an dessen Existenz Aaron sich kaum noch erinnern konnte.

Seit Jahren hatte er nicht mehr diese Ruhe gespürt. Und seit Jahren nicht mehr diese Einsamkeit.
War das nicht der Grund für ihn gewesen, hinaus zu segeln? Einmal fortzukommen von all dem Trubel, dem Chaos in seinem Leben, der Verwirrung, die seine Tage bestimmten.

Einmal nachzudenken, über sein Leben, über die Zukunft, über die Situation, in die er sich katapultiert hatte, Hals über Kopf und ohne Nachzudenken, so wie er Zeit seines Lebens gewohnt war zu handeln.

Aber er war nicht mehr dieser junge Mann, der sich nach einem Stolpern wieder fangen konnte, der einen Schlag wegsteckte, und sich vom Boden wieder aufrappelte, sollte es nötig sein.

Er war erwachsen geworden, Himmel – er war vierzig Jahre alt.
Ein Alter, in dem man eigentlich wissen sollte, was man wollte, was man erwartete.
Ein Alter, in dem die Weichen gestellt waren, in dem nicht mehr viel existierte, das überraschte, in dem die wichtigen Entscheidungen längst getroffen worden waren.

Und er hatte diese Entscheidungen getroffen, schon vor Jahren. Als es richtig war, als es an der Zeit war, als er sie treffen musste, um weiter zu kommen im Leben.
Er hatte geheiratet, und es niemals bereut.
Fast nie bereut.

Nathalie war die perfekte Partnerin. Sie stand an seiner Seite, unterstützte ihn, wann immer es notwendig war, und ließ ihm doch seinen Freiraum, erlaubte ihm die Momente des Rückzuges, die er brauchte. Momente wie diesen hier auf See.
Und Momente, die er mit jemand anderem teilte, mit einem anderen Menschen.

Nathalie hatte von Anfang an gewusst, dass sie ihn nicht würde halten können. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass er nicht monogam war, dass er anders war, dass er Abwechslung brauchte.
Und er hatte ihr im Gegenzug versprochen, die Dinge, die er brauchte, von ihr fernzuhalten. Von der Öffentlichkeit fern zu halten.

Nicht nötig, sie bloßzustellen. Nicht nötig, sich selbst ins Gerede zu bringen. Nicht mehr als unbedingt notwendig. Nicht in seinem Beruf. Und nicht in ihrem Beruf. Und schon gar nicht in Hinblick auf ihre gemeinsamen Kinder.

Er war ein guter Vater. Er versuchte es zumindest. Soweit man ein guter Vater sein konnte, wenn man 360 Tage im Jahr unterwegs sein musste, und Freizeit ein Fremdwort blieb.
Auf jeden Fall bot er seinen Söhnen Halt. Er kümmerte sich um sie, wurde nicht müde, ihnen zu versichern, dass er für sie da wäre, wann immer und aus welchem Grunde auch immer sie ihn benötigten.

Sie sollten das Wichtigste in seinem Leben sein. Nathalie sollte das Wichtigste in seinem Leben sein.
Doch sie waren es nicht, und sie – Nathalie – war es auch nicht. Nicht mehr.

Nicht mehr seit er ihm begegnet war.

Aaron sah auf das Meer hinaus. Auf die Dunkelheit, die sich über das Wasser senkte, die Farben des Sonnenunterganges verschluckte.

Vielleicht – wenn er ihn früher getroffen hätte. Vielleicht – wenn er ihm begegnet wäre, bevor er Nathalie begegnete. Bevor er die Verantwortung für Kinder, für eine Familie auf seinen Schultern trug.
Vielleicht sähe es dann anders aus.
Vielleicht wäre alles einfacher.

Und doch wusste Aaron, besser als er sich zugestehen wollte, dass dem nicht so war. Es wäre nicht einfacher.
Er hätte sich verhalten, wie er sich bei jedem Mann zuvor verhalten hatte, sich in ein Verhältnis gestürzt, von dem sie beide wussten, dass es sein unvermeidliches Ende nach sich zog. Dass die Zeit begrenzt blieb, die Leichtfertigkeit erhalten, und jede Art von Ernst oder Bindung außer Frage stand.

Doch nun wusste er, was es bedeutete, eine Beziehung einzugehen. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, und was er erwartete.

Er liebte Nathalie, und doch bekam er den Gedanken an Nico nicht aus seinem Kopf, konnte ihn nicht vergessen.

Jede wache Minute, jede Bewegung, die andeutete, dass er nicht alleine wäre, ließ ihn aufschrecken, hoffnungsvoll aufsehen.
Hoffnungsvoll, weil er sich wünschte, dass Nico bei ihm war.
Hoffnungsvoll, weil er nur für den Bruchteil einer Sekunde glaubte, dass Nico die Grenzen der Physik und der Vernunft außer Kraft gesetzt hatte, um zu ihm zu kommen. Dass er alles über Bord geworfen hatte, nur um bei ihm zu sein.

Dass er seine Entscheidung getroffen hatte.
Und Nico hatte diese Entscheidung getroffen. Das wusste Aaron. Er hatte sich entschieden, hatte sich für ihn entschieden.

Nico hatte es ihm gesagt, hatte ihn beschworen, dasselbe für ihn zu tun, hatte ihn gebeten, mit ihm zu kommen.
Doch Aaron konnte nicht. Er konnte nicht, konnte es Nathalie nicht antun, konnte es Nico nicht antun.

Nico war jünger als er, zehn Jahre jünger. Zehn Jahre konnten eine Ewigkeit bedeuten.
Nico würde es bereuen, wenn er sich für Aaron entschied. Und noch viel schlimmer… er würde ihn verlassen. Ebenso wie Aaron selbst früher die Männer verlassen hatte, die sich an ihn banden.

Er war gegangen, bevor sie alt werden konnten, alt und hässlich. Noch bevor sie ihn fortstoßen konnten. Bevor er sich auf etwas einließ, dass nicht wieder rückgängig zu machen war.
Und er hatte nie verstanden, was er ihnen damit antat, nie erkannt, dass sie vielleicht mehr in ihm sehen konnten, als ein flüchtiges Abenteuer, eine momentane Erleichterung, eine Möglichkeit des zwanglosen Stressabbaus.

Nichts sprach dagegen, sich einer Leidenschaft hinzugeben, zu fühlen, zu leben, zu spüren, dass man, und warum man lebte.
Nichts – sofern man sich dessen bewusst war, was diese Leidenschaft bedeutete, oder vielmehr, was sie nicht bedeutete.

Warum verstand Nico das nicht?
Und warum verstand er selbst es nicht – verstand es nicht mehr?

Warum sehnte er sich auf einmal nach mehr? Warum war es ihm nicht genug, sich hin und wieder zu treffen, sich zu holen, was Nathalie ihm nicht geben konnte, und Nico zurückzugeben, was dieser bei der Freundin, die er der Welt zum Schein vorführte, nicht finden konnte?

Ein stummes Einverständnis – eine lediglich mit Blicken und Gesten getroffene Abmachung, die so einfach sein sollte, so unkompliziert, eine Abwechslung von dem Druck, den Zwängen, den notwendig gewordenen Lügen des Alltags.
Mehr war es nicht, mehr hatte es nie sein sollen.

Doch nun konnte Aaron nicht aufhören, an Nico zu denken. Er konnte nicht damit aufhören, ihn vor sich zu sehen. Schloss er die Augen, so sah er Nicos Gesicht, die großen, dunklen Augen, das wirre Haar, das ihm ungebändigt in die Stirn fiel, das schiefe Lächeln, den suchenden Blick.
Nico schien stets etwas zu suchen. Sein Blick enthielt ein Verlangen, einen unausgesprochenen Wunsch, eine Sehnsucht, die zu erfüllen eine zu große Aufgabe darstellte. Zu groß für ihn, zu groß für Aaron.

Was Nico brauchte, konnte er ihm nicht geben. Selbst wenn er alles aufgäbe – und Aaron hatte darüber nachgedacht. Während der dunklen Stunden, die er alleine in einem Hotelzimmer verbrachte, angetrunken in der Hoffnung doch noch ein wenig Schlaf zu finden, nachdem er den obligatorischen Anruf bei Nathalie getätigt hatte.
Eine Hoffnung, die von Stunde zu Stunde schwand, je länger er sich in den verschwitzten Laken wälzte, je öfter er seinen Arm ausstreckte, und nach der Gestalt griff, die er neben sich wähnte, die er neben sich wünschte, doch die sich in Nichts auflöste, sobald der Schleier des Halbschlafes, in den er verfallen war, sich senkte.

Er roch ihn, roch Nico immer.
Der Duft nach Rasierwasser, nach Schweiß, nach ihm verging nicht mehr. Er klebte an Aaron, war um ihn, egal was er unternahm, egal wie lange er sich wusch, duschte, mit intensiven Düften umgab.
Nicos Geruch existierte, wie sein Wesen, wie die Sehnsucht nach seinem Körper, nach harten Küssen, nach Händen, die wussten, was sie taten, die wussten, was Aaron brauchte.

Nicos Geruch verließ ihn nicht, auch wenn sie sich für Wochen nicht sahen. Ebenso wenig, wie der Gedanke an ihn verfliegen konnte.

Wenn alles um ihn zusammenbrach, wenn er unglücklich war, ohne Hoffnung in die Zukunft sah, wenn die Wellen über ihm zusammenschlugen, dann war der Gedanke an Nico noch bei ihm. Fest, stark, wie der Felsen, nach dem er sein Leben lang gesucht hatte. Ein Felsen, der in sich ruhte, der Halt bot in den Stürmen, die weder vorauszusehen, noch zu vermeiden war.
Ein Gedanke nur – doch dieser durchdrang jeden von Aarons Atemzügen, durchdrang seinen Körper gewaltsam, und ohne, dass er eine Chance besaß, sich gegen ihn wehren zu können.
Und Aaron wollte sich nicht wehren.

Er öffnete die Augen, und die Dunkelheit um ihn war vollkommen. Das Wasser trug ihn mit beruhigenden Bewegungen, hielt ihn, so wie ihn die Nacht sanft umgab.
Weit über ihm blinkte ein einzelner Stern, einer allein, dessen Licht die Wolken durchdrang, die Aaron mehr fühlte, als dass er sie sah.
Ein einzelner Stern – mehr war nicht nötig. Mehr brauchte er nicht.
Ein einzelner Stern, der sich weder durch Gischt, noch durch Nebel oder Dunkelheit davon abhalten ließ zu strahlen.
Ein einzelner Stern, eine einzelne Liebe – eine Lösung, eine einzige Lösung für alle Probleme, eine Antwort auf alle Fragen, auf seine Suche, auf Nicos Suche.
Vielleicht würden sie diese zusammen finden.

Und das Wasser plätscherte gegen den Bootsrand, während das Schiff scheinbar ziellos auf den Wellen schaukelte. Ziellos, und doch fest verankert.
Das Schiff wusste, was es brauchte, kannte seinen Weg.
Es konnte so einfach sein.

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