Sonntag, 27. Juni 2010

Bann

Titel: Bann
Autor: callisto24
* * *

Niemand sagte jemals, dass es einfach sei. Niemand käme jemals auf die Idee, eine derart absurde Behauptung aufzustellen.
Manchmal fragte sich Flora, wer daran die Schuld trug, dass Behauptungen wie diese überhaupt im allgemeinen Bewusstsein vorhanden waren.
Das Leben war nie einfach. Es lang nicht in der Natur der Sache. Aber dass es für sie so besonders schwierig sein musste, beinhaltete doch ein Höchstmaß an Ungerechtigkeit. Niemand bestritt das, niemand sollte es jemals wagen, das zu bestreiten.
Sicher, es gab Schlimmeres. Flora war die Letzte, die bestritt, wie viel Elend auf der Welt existierte und in welch einer glücklichen Lage sie selbst sich befand.
Nichtsdestotrotz wagte sie es manchmal auch, an eine ausgleichende Gerechtigkeit zu glauben. So schräg und seltsam die Möglichkeit im Angesicht der unterschiedlichen Gesichter, die der Schrecken trug, erscheinen mochte.
Flora dachte sich dann insgeheim, dass die Auswüchse, mit der die Gesellschaft zu kämpfen hatte, nur ein Gegengewicht boten zu dem überdimensionalen Glück, das eigentlich jeder zu empfinden, die Pflicht hätte. In einem Leben, das keinen Hunger kannte, in dem ärztliche Versorgung dafür sorgte, dass Schmerzen erträglich, Krankheiten behandelbar bleiben sollten, bestand kein Recht zur Klage. Natürlich beklagten sich die Menschen trotzdem, es lag in ihrem Wesen. Und vielleicht, wenn man Gerüchten Glauben schenken wollte, beklagten sie sich sogar mehr als Menschen, die eigentlich jeden Grund zur Beschwerde hätten.
Denn in anderen Teilen der Welt stellte sich das Leben nicht so leicht dar, glich eher einem harten Kampf, körperlicher Arbeit und der täglichen Konfrontation mit Katastrophen. In jedem Fall erheblich miserabler als ihre eigenen Aussichten. Bedachte sie zudem noch die Gefahren, die Krankheiten mit sich zogen, Kriege oder Gewalt durch Waffen und Hass verstärkt.
Was sollte sie demnach anderes denken, als dass die unerträglichen Qualen, die sie selbst gelegentlich heimsuchten nur Konsequenz und ein geringer Preis für den Luxus war, in dem sie schwelgen durfte.
Qualen, von denen sie zudem den Verdacht hegte, dass sie sich ihnen mehr oder weniger freiwillig aussetzte. Es musste doch möglich sein, den Ärger in den Griff zu bekommen. Jeder sagte das, immer wieder.
Nun, jeder hatte das gesagt, bevor einer nach dem anderen die Hoffnung aufgegeben hatte, sich von ihr abwandte und sie letztlich alleine in ihrem Elend weiterschwelgen ließ.
Zugegeben, mit Neurosen zu leben, war schwer genug. Mit jemandem zu leben, der unter Neurosen litt oder sich spaßeshalber damit herum schlug, dürfte noch erheblich schwerer sein.
Das hatte sich Flora mehr als einmal sagen lassen. Nicht unbedingt freiwillig, und nicht, dass es etwas geholfen hatte. Aber die Meinungen darüber, was ihr helfen konnte, gingen doch weit auseinander.
Da gab es die Hilfsangebote. Hilfsangebote halfen natürlich nicht, weil sie die Neurosen zu leicht unterstützten, wenn nicht gar verstärkten. Andererseits halfen sie in dem Moment der Qual außerordentlich. Nichts half mehr, als die Möglichkeit, der Furcht fliehen zu können. Und so nahm Flora auch jedes Angebot und jede Möglichkeit wahr. Selbst in dem Wissen, dadurch noch tiefer in den Abgrund zu rutschen, der sich so düster und neblig vor ihr auftat.
Aussprachen waren unmöglich. Zu unangenehm, zu peinlich, zu persönlich kamen ihr ihre Schwierigkeiten vor, als dass sie in der Lage wäre, darüber sprechen zu können.
Sich den eigenen Weg zu bahnen, auf eingefahrenen Pfaden die Routinen anzugewöhnen und in ihnen die Sicherheit zu gewinnen, die für ihr Überleben notwendig zeigten, stellte sich nicht nur als notwendig sondern auch als alternativlos dar.
Natürlich wusste sie sehr gut, dass die Routine keine war. Dass sich die Situation verschlimmerte, je weiter sie ging, dass sie wie ein Drogensüchtiger tiefer und tiefer rutschte, mehr Stoff brauchte, mehr Wahnsinn, mehr verrückte Angewohnheiten. Verrückt, das sah sie selbst deutlich. Und doch, oder gerade aus diesem Grund konnte sie die Angewohnheiten nicht stoppen, keiner von ihnen Einhalt gebieten. Im Gegenteil, je mehr sie es sich wünschte, desto schwieriger wurde es. Desto unmöglicher dem Drill zu entkommen.
Fing der Zwang als eine leichte, neckische Geste an, so bestand jederzeit die Möglichkeit, dass sie sich in absoluten Wahnsinn umkehrte, in vollkommen verrückte Rituale, Bewegungen oder gar Äußerungen, über die ihr jede Kontrolle abgingen.
Irgendwann entbehrte das Ganze jeden Sinns und sie wusste sehr gut, dass sie selbst sich in das Dilemma hineinmanövriert hatte, dass ihre Schwäche den Weg geebnet hatte für den Kontrollverlust.
Und egal wie sehr sie sich auch vornahm, dieser Schwäche Herr zu werden, das Ziel war von Anfang an unerreichbar.
Es war ihr Wahnsinn und sie musste damit zurechtkommen. Und der Wahnsinn in sich besaß Methode. Eine ganz eigene, die niemand außer ihr verstehen konnte. Und manchmal verstand sie selbst dieselbe auch nicht.
Beinahe komisch, wenn jemand sie darauf ansprach, wenn ihre Mutter, in dem Bestreben, ihr behilflich zu sein, den einen oder anderen Vorschlag unterbreitete, der soweit von allem abwich, was sie sich ausmalte, dass sie eigentlich lachen müsste, wäre alles nicht gar so traurig gewesen.
Oder ein Vorschlag traf so nahe an die Problematik, dass sie fast in Versuchung kam, das Angebot zu akzeptieren. Doch auch, wenn sie es nicht schaffte, wenn sie stark genug war, abzulehnen, der zwanghaften Handlung, die ihr auf dem Silbertablett präsentiert wurde, nach der sie nur die Hand auszustrecken bräuchte, das Nein entgegen zu schleudern, blieb der Gedanke in ihrem Kopf bestehen. Und der Gedanke war es, der zählte. Er war das Übel, um ihn ging es und letztendlich darum, ihn aus dem Kopf zu verbannen.
Oder den Verstand einzusetzen, der versuchte, sie davon zu überzeugen, wie wichtig, geradezu lebenswichtig es sei, ausgerechnet diese Handlung, diese absurde Tat auszuführen.
Der Verstand half nicht, er war die Ursache. Die Gedanken, die im Kopf kreisten und wirbelten, spielten verrückt. Und mit jedem Tag wuchs der Irrsinn an. Mit jedem Mal, an dem sie sich den Gedanken unterwarf, sank sie tiefer in Richtung der Hölle.
Auch wenn der Verstand ihr einzutrichtern versuchte, dass die Hölle sie ereile, sobald sie ihren Gedanken, ihren inneren, absurden Kommandos nicht mehr gehorchte. Die Angst wuchs mit dem Irrsinn. Und die Hölle näherte sich. Längst schwamm sie im Abgrund, näherte sich dem Boden, zappelte wild, während Schlingpflanzen sie umfingen und tiefer zogen. Immer tiefer hinab in das grausige, trübe Wasser.
Flora versuchte zu atmen, doch sie konnte es nicht. Ihre Lungen füllten sich mit Wasser, ihre Glieder wurden schwer mit der Anstrengung, dem nicht enden wollenden, vergeblichen Versuch, sich zu befreien.
Und doch spürte sie selbst, dass der Versuch sich als halbherzig entpuppte. Sie zappelte, aber es lag nicht die Kraft darin, die nötig war, um auch nur dem schwachen Versuch zu entsprechen, der sie tatsächlich befreien könnte.
Vielleicht wollte sie tiefer sinken, sehnte sich danach aufzugeben, Ruhe zu finden, ihren Kopf auf den kühlen Grund des Sees zu betten und einfach abzuwarten, bis alles zu Ende war.
Und doch spürte sie den Funken in sich, der ihr verbot loszulassen, der ihr verbot, die Anstrengung schleifen zu lassen. Es war noch nicht an der Zeit, dem endlosen Schlaf zu begegnen, nicht an der Zeit, das Ruder herumzureißen oder den Fall zu beenden.
Sie sank tiefer und konnte es nicht aufhalten. Ihre Versuche erstarben im schwachen Zucken der Füße und Hände. Doch auch dafür fehlten ihr Kraft und Energie. Oder auch nur der Antrieb. Der letzte Schub, den sie lange genug nicht mehr gefühlt hatte, um zu glauben, dass er längst in ihr zerbröckelt war.
Die Erschöpfung war stärker, stärker als jeder Wunsch, jede Sehnsucht, jedes andere ihrer verkümmerten Gefühle. Der schwache Funke kämpfte dagegen an. Das instinktive Bedürfnis zu überleben, den Schrecken zu überwinden, dem Horror die Stirn zu bieten und die Hoffnung zu nähren mit dem vagen Glauben, als könne die Zukunft eines Tages anders aussehen, erlaubte Flora nicht aufzugeben.
Er blitzte und blinkte gegen die Dunkelheit an, stach sie von innen, stachelte sie an, dem Verlangen nach Luft Nahrung zu geben.
Und nicht zuletzt scheute sie das ungeklärte Rätsel, das mit der letzten Aufgabe verbunden war. Sie fürchtete die unvermeidlichen Folgen, den Schritt in das Nichts. Aber noch viel mehr widerstrebte ihr der Akt an sich, die letzte Mühe, die sie schlichtweg als Zumutung empfand. Warum musste alles so schwer für sie sein? Sie war der Anstrengungen so furchtbar müde. Jede Bewegung schmerzte, vollkommen egal in welche Richtung sie ging.
Sogar das Aufgeben war ihr versagt. Und die Energie, mit ihrem Schicksal zu hadern, fehlte ihr ebenso.
Flora sank tiefer, wurde gezogen und glitt aus freiem Willen. Die Unterschiede verschwammen, so wie ihr Leben vor ihren Augen verschwamm. Sie sah nur noch Grün vor sich, Blätter und Halme, die in der kühlen Flüssigkeit schwebten. Vor ihren Augen verschlangen sie ineinander, bildeten Formen, die ihr bislang unbekannt waren. Farben flossen ineinander. Neuartige Geschöpfe schufen sich selbst aus dem Grün, aus dem Wasser und den schillernden Strömen, die es verfärbten, wie Regenbögen durchfuhren und eine Spur des Lebens zurückließen. Es bewegte sich, strebte nach oben, suchte einen Ausweg. Und Britta konnte nicht anders, als es zu betrachten, mit offenem Mund den Weg zu verfolgen, den es zurücklegte.
Wasser füllte ihre Mundhöhle, ihre Lungen und das Zappeln, die vergeblichen Versuche, sich zu befreien, waren wie ohne ihr Zutun zum Stillstand gekommen. Ruhig trieb sie dahin, ihre Zehen berührten den schlammigen Grund, während ihre Augen den Gestalten folgten, die sich entfalteten, aufleuchteten, bevor sie in die Höhe entschwebten. Perfektion und Fragilität in einem. Filigran genug, dass sie sich sorgte, ob sie den Übertritt in eine andere Welt, in die außerhalb der flüssigen Existenz überstünden. Und doch wunderschön und fesselnd. Flora konnte ihre Augen nicht schließen. Der Schlamm floss um ihre Füße, griff nach ihren Knien und sie spürte den Sog in die Tiefe. Fast dankbar senkte sie den Kopf. Dankbar, dass sie noch einen Blick auf ein Wunder zu werfen vermocht hatte, bevor ihr die Entscheidung abgenommen wurde. Dankbar, dass sie fühlte wie der letzte Tropfen eines einst vorhandenen Selbsterhaltungstriebs im dunklen Grund versickerte. Dankbar für die Kraftlosigkeit, die es ihr erlaubte, die Wellen über sich zusammenschlagen zu sehen, ohne dass sich ein anderes Gefühl in ihr aufbäumte, als das endloser Erleichterung. Kein Zweifel mehr, keine Reue, kein Leid. Flora schloss die Augen und versank. Weicher Schlamm streichelte ihre Haut, drang in ihre Nase, in ihre Ohren, bedeckte ihren Kopf und ihr Haar. Sie streckte ihre Arme aus und begann damit, sich aufzulösen, sich in der Substanz zu verlieren.
Doch in diesem Augenblick berührten warme Fingerspitzen ihre eigenen erkalteten, sandten Schockwellen durch den Körper, der sich lose zusammenzuhalten suchte.
Flora riss ihre Augen auf. Olivfarbener Samt streifte ihre Augäpfel, verbot ihr die Sicht und kitzelte sachte ihre Wimpern. Und dann wurden die Fingerspitzen zu Händen, die ihre Gelenke packten, die sie hochzogen, höher als sie erwartet oder gewünscht hätte. Ihre Haut streifte den Schlamm ab, als sei er nur eine Illusion gewesen, als ihr Körper höher stieg, das Wasser zerteilte, der Luft und dem Licht entgegen strebte.
Und noch während Flora sich sträubte, wuchs in ihr ein zarter Keim heran, der von den Möglichkeiten sprach, die immer noch für sie existierten. Die nie aufgehört hatten zu existieren, die sie lediglich nicht sehen konnte oder wollte. Nicht bis zu diesem Moment, in dem sie jemand ergriff und aus der Dunkelheit hob. Hoch genug erhob, dass die Flüssigkeiten zusammen mit dem mörderischen Gewicht ihren Körper verließen, dass sie die Wirklichkeit sehen konnte, als erblicke sie zum ersten Mal eine Wahrheit, die sie sich bislang geweigert hatte zu erkennen.
Und die Schwere wich von ihr.
Niemand hatte gesagt, dass es einfach sei. Niemand ihr gesagt, in welche Tiefen sie hinabsteigen müsse, um sich selbst in den Abgründen ihrer Seele wiederzufinden. Niemand hatte ihr gesagt, dass sie es lernen würde, damit zu leben, das Gewicht zu tragen und weiter zu tragen, bis zu ihrem Tod und darüber hinaus.

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