Sonntag, 27. Juni 2010

Schuld

Titel: Schuld
Autor: callisto24

* * *
Er war einfach so verdammt hübsch. Sie konnte nicht anders, als ununterbrochen an ihn zu denken. Nicht weil sie ihn besonders mochte. Himmel, sie kannte ihn ja kaum. Aber seine Augen übten eine derart magnetische Wirkung auf sie aus, dass sie sich immer wieder dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte. Es war fatal und ärgerlich.
Sie hatte schließlich einen Freund. Einen guten Freund, einen netten Freund. Auch wenn er manchmal ein wenig unbeherrscht schien. Aber er behielt ja auch jedes Mal Recht, wenn er aus der Haut fuhr. Immerhin war es ihre Schuld. Ihre Schuld, dass sie sich nicht beherrschen konnte und immer wieder zu dem anderen sah. Im Klassenzimmer, wo er in einem solch ungünstigen Winkel schräg vor ihr seinen Platz hatte, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu betrachten. Oder in der Pause, wenn sie mit ihren Freundinnen an der Seite tuschelte und er sich so unglaublich lässig in eine Ecke drapierte, dass sie überhaupt nicht verstand, wie wenig Aufmerksamkeit die anderen ihm schenkten.
Seine Jeans hingen immer zu tief um die schmalen Hüften. Jedoch nie tief genug, als dass es ordinär wirkte. Sie konnten noch so ausgebeult, noch so alt, ausgewaschen und zerlöchert wirken, an ihm sahen sie besser aus, als jeder maßgeschneiderte Anzug an einem hochbezahlten Supermodel es je könnte.
Er war fast ein wenig zu schlank, ein wenig zu klein, ein bisschen zu blass. Wenigstens wenn sie ihn mit ihrem Freund verglich.
Auch ihre Freundinnen waren sich allesamt einig, dass sie ein Riesenglück mit Simon hatte. Er war groß, breitschultrig und besaß genau die richtige Menge an Muskeln, dass man sich als Frau sicher bei ihm fühlen konnte. Wenn er sich aufrichtete, wirkte er geradezu einschüchternd. Wenigstens auf die meisten, zumindest auf die Gleichaltrigen.
Allerdings nicht auf ihn. Und wenn, dann gelang es Michael, die Einschüchterung durch gewohnte Großspurigkeit zu überspielen.
Überhaupt war es diese Großspurigkeit, die sie ganz besonders an ihm störte. Alina hatte nichts übrig für Angeberei, für Jungen, die sich überall hervortaten und gleichzeitig vorgaben, es sei ihnen alles und jeder egal.
Sie war ziemlich sicher, einen Blick hinter die Fassade zu erhaschen, wenn sie ihn ansah. Vielleicht nur für eine Sekunde, denn sie gestand ihm zu, dass er seine Schutzwälle stets sorgsam errichtet hielt. Nur wer ihn besonders lange und gründlich beobachtete, erhielt eine Chance, die Maske fallen zu sehen.
Wenn dem so war, denn so ganz sicher war Alina sich eigentlich nie. Es mochte durchaus sein, dass sie sich nur einbildete, hinter der ganzen Großspurigkeit etwas anderes wahrzunehmen. Vielleicht war ein Wunsch der Vater des Gedankens, die naive Überzeugung, dass hinter einem derart hübschen Gesicht auch ein sensibler Geist stecken musste.
Und damit war sie bereits wieder bei ihrem Wunschtraum, der Vorstellung von ihm, die jeder Grundlage entbehrte. Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum sie überhaupt ihre Zeit und Energie damit verschwendete, über ihn nachzudenken. Zumal sie den besten aller möglichen Freunde doch treu und fürsorglich an ihrer Seite wusste.
Simon tat alles für sie. Er trug sie auf Händen. Und wenn nicht seine gelegentlichen Ausraster wären, an denen tatsächlich sie allein die Schuld trug, dann wäre ihr Leben mit Sicherheit zu perfekt um wahr zu sein.
Es gab Momente und diese häuften sich in der letzten Zeit, während derer sie sich ernsthaft fragte, ob sie noch all ihre Sinne beisammen hatte. Wieso tat sie Simon das an? Er merkte sehr wohl, wohin ihre Augen wanderten. Sie konnte es nicht vermeiden, nicht einmal in seiner Gegenwart. Nicht einmal, wenn sie an seinem Arm durch die Aula schlenderte.
Kaum geriet Michael in ihr Blickfeld, so vernebelten sich alle zuvor noch so klaren Gedanken. Sie lösten sich in Nichts auf und viel zu spät bemerkte sie, wie peinlich offensichtlich ihr Blick an Michaels Gestalt hing. Wie sie sein Haar beobachtete, das sich in die Stirn ringelte. Das im elektrischen Licht des Schulgebäudes dunkel glänzte oder in der Sonne bläulich schimmerte.
Wie sie seinen Gang verfolgte, die leichten O-Beine bemerkte, die in ihrer Unvollkommenheit einfach vollkommen wirkten.
Aber all das bedeutete nichts im Vergleich zu der Wirkung, die seine Augen auf sie ausübten. Groß waren sie, größer als ihre. Größer als eigentlich zu einem Jungen passte. Oder vielleicht wirkten sie auch nur so groß, weil sie dunkelbraun in die Welt sahen. Mit gerade dem Anteil an Hochmut, der durch ein Blinzeln im Schatten der langen, geschwungenen Wimpern verschwand.
Oh ja, sie erkannte den Schutzwall, den er um sich aufbaute, als das, was er war. Reine Selbstverteidigung.
Und hin und wieder schwor sie jeden Eid, dass sich unter der ganzen rauen, ungehobelten Schale ein unendlich kostbarer Kern befand. Anders war es kaum zu erklären, dass er ihn derart sorgsam beschützte.
Manches Mal spitzte dieser zarte Kern, ein zerbrechlicher Anflug von Liebenswürdigkeit, hervor und sie wusste nicht, ob Michael darin versagte, ihn rechtzeitig zurückzustoßen oder ob er sich mit seiner Duldung vor den Augen der Welt zeigte.
So war es vor nicht allzu vielen Tagen geschehen. Als es so plötzlich und unerwartet zu regnen begonnen hatte. Wobei Regen noch viel zu milde ausgedrückt schien für den Wolkenbruch, der sich aus eben noch strahlend blauem Himmel ergoss.
Er musste sie von seinem Fenster aus gesehen haben. Wie sie die plötzlich leer gefegte Straße entlang trabte. Auf dem Rücken ihre mal wieder viel zu schwere Schultasche und dafür ohne die Regenjacke, die sie natürlich just an diesem Tag zuhause gelassen hatte. Das kam von den Zusatzkursen, die sie sich selbstverständlich jedes Jahr wieder verpflichtet fühlte zu belegen. Jeder vernünftige Mensch war bereits seit Stunden zufrieden in sein Wochenende gegangen. Ebenso wie Michael, dem es selbstverständlich nicht einfiele, sich auch nur eine Sekunde länger als unbedingt vorgeschrieben im Schulgebäude herumzudrücken.
Umso erschrockener war Alina, als sie sich blind durch den Vorhang aus Wasser kämpfte, der kein Anfang und kein Ende zu finden schien, und plötzlich auf einen warmen Körper prallte, der wie aus dem Erdboden vor ihr in die Höhe schoss. Zu gleicher Zeit wölbte sich ein dunkles Dach über ihren Kopf und hielt den steten Wasserstrahl, der sie wie einen begossenen Pudel durch die Gassen laufen ließ, überraschend zurück.
Stattdessen vernahm sie nur das dumpfe Prasseln, das sich allzu schnell in einen regelmäßigen Rhythmus verwandelte. Und als sie das Haar, das ihr in der Stirn klebte zurückstrich und die nassen Wimpern endlich ihre Sicht freigaben, da blickte sie ein breites, geradezu selbstzufriedenes Lächeln.
Und konnte nicht anders, als zurückzulächeln. So hochtrabend und amüsiert Michael sich auch gab, Alina bemerkte doch durchaus, dass sein Haar beinahe wie ihres tropfend ins Gesicht hing, dass sein Pullover durchweicht war. Offenkundig hatte er es nicht für notwendig gehalten, nachzudenken, bevor er aus der Tür gestürmt und erst dann darum gekämpft hatte, den Schirm zu öffnen.
Doch Michael wäre nicht Michael, wenn ihn der Regen davon abhielte, sich unendlich dreist und überlegen aufzuspielen.
Alina hatte versucht, sich über ihn zu ärgern, seine Hilfe als unnötig und aufgesetzt herunterzuspielen, aber Tatsache blieb, dass sie ungeheuer froh darüber war, wenigstens dem schlimmsten Ansturm der Wassermassen entronnen zu sein. Wenn auch nicht vollkommen entronnen. Der feine Nebel, der von dem wilden Regen aufstieg, sie trotz des Schirmes an der feuchten Haut und der wie Pech klebenden Kleidung traf, sie im Zusammenspiel mit den unregelmäßigen Windstößen erschauern ließ, drang unvermindert auf sie ein. Und der nasse Stoff, der an ihr haftete, der Rucksack, der sich inzwischen anfühlte, als sammelte sich in ihm ein halber Ozean, trug nicht zu ihrem Wohlbefinden bei.
So fühlte Alina nichts anderes als ein gehöriges Maß an Erleichterung, als Michael ihren Arm nahm, den Schirm schräg genug hielt, dass der sie weitaus besser schützte als ihn selbst und mit raschen, wenn auch nicht zu hastigen Schritten den restlichen Weg nach Hause begleitete. Dass er wie selbstverständlich nach ihrer Schultasche gegriffen und diese geschultert hatte, bemerkte sie erst, als sie die Last wieder spürte. Und auch die Wucht des Regens kam Alina nur zu Bewusstsein, als er sie losließ, so dass sie die letzten Schritte alleine lief. Erst als sich ihre Tür öffnete und nicht ihre Mutter sondern auch Simon ihr erleichtert entgegen kamen, bemerkte sie auch das Auto ihres Freundes in der Einfahrt und fühlte, wie sie eine erneute Woge Dankbarkeit überrollte. Denn ganz sicher hätte sie in diesem Augenblick keinen Vorwürfen oder auch nur Fragen, nicht einmal einem strengen Blick mehr standgehalten.
Dennoch war der Vorfall schneller vergessen als er sich zugetragen hatte und als sie sich am Tag darauf begegneten, reagierten weder Alina noch Michael als könnten sie sich erinnern.
Was sicher auch besser war, da Simon darauf bestand mit ihr händchenhaltend das Sommerfest zu besuchen, während Michael das Mädchen, mit dem er zur Zeit herumhing, im Schlepptau hatte.
Ein weiterer Grund, weshalb Alina heilfroh sein konnte, dass sie in Simon einen guten und aufrichtigen Freund gefunden hatte. Jemanden, dem sie unter allen Umständen vertrauen konnte, der sie niemals hinterginge. Und der sie vor allem auch nie so behandelte, wie Michael mit seinen Freundinnen umsprang. Wenn man sie denn so nennen wollte, denn meistens folgten sie ihm lediglich in einigen Schritten Entfernung, starrten gelangweilt in die Gegend, wenn sie ihn nicht mit einer abfälligen Bemerkung herunterputzen, ihm ein Kommando entgegen schleuderten, auf das er nach Belieben mal mehr und mal weniger reagierte, oder ihn schlichtweg kommentarlos stehen ließen. Selbst das schien ihm jedoch nichts auszumachen und wenn Alina sich nicht ständig dafür genierte, dass sie zumindest in ihrem Kopf beständig Buch über Michaels Vorgehen und seine Reaktionen führte, dann gäbe sie wohl zu, dass Michael seine Freundinnen offensichtlich nicht schlechter behandelte als sie ihn.
Doch natürlich ließen ihr Gerechtigkeitssinn und ihre natürliche Solidarität dem weiblichen Geschlecht gegenüber keinerlei Gedanken in einer entsprechenden Richtung zu.
Nein, es blieb offensichtlich, dass sie mit Simon das große Los gezogen hatte. Dass nur ein Mädchen ohne jedes Selbstbewusstsein, ohne Stolz und Achtung vor sich selbst, mit einem Typ wie Michael herumhängen könnte.
Manchmal äußerte sie ihre Meinung Simon gegenüber, wenn sie ihr gerade zu unangenehm aufstieß. Nicht zuletzt, weil ihr eine kleine Stimme immer wieder einredete, dass Simon froh über jede Art ablehnender Haltung gegenüber Michael sei. Hatte er das nicht oft genug bestätigt. Und doch schien er selbst dann nicht glücklich über ihre Ausführungen, begann sogar unausweichlich wieder mit den haltlosen Vorwürfen, in die er sich so problemlos herein steigerte. Vorwürfe, die immer wieder nur ein Thema enthielten. Oder auch die eine Frage, welche Alina sich doch immer wieder selbst stellte. Warum nur sie ihre Gedanken nicht von Michael losreißen konnte. So weit sie ihn auch umkreisten, letztendlich blieben sie durch einen oder mehrere Drähte mit ihm verbunden.
Klara hieß Michaels derzeitige Bekanntschaft. Alina brache es nicht über sich, das Mädchen als mehr als das zu betrachten. Und als sie aneinander vorbeigingen ohne sich anzusehen, Michael und sie, Alina an der Hand Simons, Michael dicht gefolgt von Klara, da wünschte sie, dass Simon ihren stummen Wunsch verstand und ihre Hand fester drückte. Dass er sie an sich zog und in den Arm nahm. Dass er ihr demonstrierte und auch Michael, dass es keinen Grund dafür gab, unnötige Spekulationen anzustellen.
Und irgendwo wurmte es sie, dass Michael so gar nicht zu reagieren schien, dass er nicht das geringste Interesse an ihr aufwies, dass er so kühl, distanziert und neutral ihr gegenüber blieb, als hätte er ihr nie mit diesem Blick in die Augen gesehen. Mit diesem großen, verwundbaren Blick, der alles beinhaltete. Der von seinem Leid sprach, von seinem Leben, von seiner Vergangenheit. Von all den Gründen, aus denen er der geworden war, als der er nun auftrat. Warum er sich diese harte Schale zugelegt, den forschen Blick aufgesetzt und strikt das misstrauische und vorerst ablehnende Wesen beibehielt, von dem sie doch so gut wusste, dass es nur eine Täuschung war.
Alina schluckte trocken. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Es war lächerlich, sich diesen Ideen hinzugeben. Ebenso lächerlich wie zu glauben, dass sie jemals auf Simon verzichten wollte. Er war der Mann ihres Lebens, sie liebte ihn über alles und hatte nicht vor, daran jemals etwas zu ändern. Schon gar nicht, weil ihr ein dummer, unreifer und durch und durch verdorbener Charakter einfach nicht aus dem Sinn gehen wollte. Es war einfach eine Frage der Konzentration und der Selbstbeherrschung.
Hübsche Augen waren nicht alles. Nicht für sie. Auf keinen Fall.

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