Mittwoch, 30. Juni 2010

Hagel

Titel: Hagel
Autor: callisto24
* * *

Winzige, scharfe Eisstücke prasselten nieder. Sie hämmerten schonungslos gegen jede Oberfläche, die wagte, ihnen Widerstand zu bieten. So klein die Körner auch waren, ihre geballte Kraft entfaltete eine zerstörerische Wirkung, der sich die wenigsten Elemente entziehen konnten.
Der Junge saß in seinem Bett und lauschte auf die Geräusche. Sie überkamen ihn in Wellen, schwollen an bis zu einem ohrenbetäubenden Lärm, der ihm Bilder einstürzender Häuser und durchbrochener Dächer suggerierten. Sie dehnten sich so stark in seinem Kopf aus, dass er die Decke über den Kopf zog und die Augen fest zusammenpresste. Er schämte sich, wusste er doch im tiefsten Inneren, dass er für ein solches Verhalten bereits viel zu alt war. Wenn ihn jemand so sähe oder schlimmer noch, die Vorstellung von seiner Feigheit verbreitete, dann sänke er in Grund und Boden. Und das freiwillig und ohne zu zögern.
Doch in diesem Augenblick, in dieser dunklen Nacht zählte nichts anderes, als der Hagel, der das Zimmer, in dem er sich vergeblich versteckte, von allen Seiten angriff. Denn wie ein Angriff fühlte es sich für ihn an. Als kämen Millionen der unbarmherzigen Eisstücke aus dem Himmel herab, um sich gewaltsam ihren Weg zu ihm zu verschaffen. Unablässig trommelten sie gegen die Dächer und Wände, schwächten deren Widerstand und bohrten sich gnadenlos und vor allem unablässig den Zugang, den sie benötigten.
Der Junge lauschte und er glaubte nicht zum ersten Mal, dass das Geräusch schwächer werde. Er hoffte auf Erleichterung, hoffte, dass es sich nur um eines dieser Gewitter, einen durchschnittlichen Sturm handelte, der abklänge und bei Tageslicht vergessen sei.
Er horchte auf die Wellen und bebte, wenn die Wucht der Schläge zunahm, verschränkte seine Arme fester um den schmalen Körper.
Doch auch wenn die grimmige Kraft abnahm, fühlte er keine Erleichterung, verspannte sich nur noch mehr mit der unheilvollen Ahnung, dass es sich doch lediglich um eine Atempause handelte, um einen Moment der Stille, der umso furchterregender erschien mit dem sicheren Wissen, dass er wieder verginge und dem Chaos von neuem Platz einräumte.
Obwohl der Junge wusste, dass die Nacht ihr Ende fände, wusste er doch mit eben solcher Sicherheit auch, dass der Schrecken ihrem Beispiel nicht folgen werde.
Die Angst blieb, die Vorahnung gehörte zu seinem Leben, zu der Dunkelheit, die ihn umschloss. Und auch wenn er vermutete, dass ihn das Unwetter, der Hagel, der doch Auslöser seiner Furcht sein sollte, ihn vor dem anderen, dem wahren Schrecken bewahrte, so war er sich nicht sicher, ob er der einen oder der anderen Alternative den Vorzug geben sollte.
In einer Nacht wie dieser, in der das Haus in der Gewalt der Natur zitterte, hatte er – der Mann – alle Hände voll zu tun. Dass er zu dem Jungen käme, schien unlogisch. Er hatte eine Frau und der Junge hörte sie manchmal weinen. Sie war eine zarte, schwache Frau. Sie weinte viel. Und wenn sie sich fürchtete, dann war der Mann gezwungen, bei ihr zu bleiben. Er musste sie halten und trösten, denn letztlich war es das, was er einst vor Kirche und Welt geschworen hatte.
Der Junge konnte sich beinahe sicher sein, dass die großen Hände des Mannes in einer solchen Nacht beschäftigt waren. Und er wollte nicht darüber nachdenken, womit sie sich beschäftigten, über wessen Haut sie glitten, wessen Beine sie gewaltsam spreizten und wessen Körper sie beschmutzten, bis keine Seife mehr die Schande abwaschen konnte.
Der Junge wusste, dass die Frau wusste. Und er wusste, dass sie insgeheim froh darüber war, wenn ihr die Schande erspart blieb, wenn der Mann sich in einen anderen Raum des Hauses aufmachte, um zu finden, was er suchte.
Und ein Teil von ihm konnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Ein Teil von ihm verstand, warum sie wegsah, warum sie stillschweigend akzeptierte. Auch wenn ein anderer Teil von ihm sich gegen das Verstehen aufbäumte, ihr stumm, mit Blicken nur, die Vorwürfe entgegen schleuderte, die er nie wagte, dem Mann gegenüber zu äußern.
Der Junge kauerte sich zusammen. Er fürchtete sich vor dem Hagel. Und er fürchtete sich vor den Schritten, die den ohrenbetäubenden Lärm in seinem Kopf übertönten.
Vielleicht gelang es dem Mann doch. Vielleicht brachte er seine Frau dazu einzuschlafen und stahl sich fort. Wie er es in so vielen Nächten tat. Vielleicht betäubte er sie, vielleicht schlug er sie nieder. Es gab nichts, was der Junge dem Mann nicht zutraute. Er ließ sich nicht aufhalten, gebärdete sich selbst als eine Naturgewalt, der sich niemand zu widersetzten wagte. Es half nicht, sich unter einem Dach zu verstecken. Das Dach erhielt im Laufe der Zeit Risse und Schrammen. Es brach auf und ließ es zu, von innen zerstört zu werden.
Es halb nicht, sich unter einer Decke zu verstecken. Der Mann riss sie einfach fort, warf sie zu Boden, zeigte dem Jungen, dass es keinen Schutz gab. Dass nichts und niemand ihn schützen konnten. Und dass es keinen anderen Weg gab, als den, stumm zu erdulden.
Auf Hoffnung, auf Rettung zu warten, bedeutete die sinnlose Verschwendung kostbarer, letzter Reserven. Bänder, an denen er sich festzuhalten suchte, wenn alles unter ihm zusammenfiel und er nur zusehen konnte, wie er tiefer und tiefer stürzte, auf den Aufprall wartete und zugleich wusste, dass er ihn nie erlebte. Sein Leben war nur ein endloser Fall, der keinen Anfang und kein Ende kannte. Manchmal fiel er schneller, manchmal sank er unerträglich langsam. Und immer wartete er, immer wartete er auf etwas Schlimmeres. Etwas, das er sich nicht auszumalen wagte.
Diese Furcht erstickte ihn, wenn er darauf lauschte, wie die Tür langsam aufgeschoben wurde, wie das Holz über den Boden schabte und wie große Füße sich vergeblich darum bemühten, leise zu bleiben. Es gelang ihnen nie. Ebenso wenig wie es dem Mann gelang, die Geräusche zu unterdrücken, die sich aus seiner Kehle empor quälten. Und ebenso wenig wie es dem Jungen gelang den Schmerz beiseite zu schieben und sich das Wimmern zu verbeißen, das trotz der Hand auf seinem Mund den Weg in die Welt suchte.
Der Junge saß im Bett und bebte und lauschte. Der Hagel hörte nicht auf damit, seine Stärke zu beweisen, seine Ausdauer und seine Kraft. Und der Junge fürchtete sich, obgleich er sich in dieser Nacht nicht fürchten wollte. Doch seine Furcht trug zu viele Gesichter. Er konnte ihr nicht Herr werden, konnte nie über sie triumphieren. Er war schwach und klein. Und schuldig. Der Junge weinte.

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