Samstag, 19. Dezember 2009

Bühne

Titel: Bühne
Autor: callisto24
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Schauspiel



Wie auch immer, Konstanze fand sich wieder auf eben dem Gelände, über das sie zuvor noch nackt gelaufen war. Und doch in einer vollkommen anderen Situation und mit einem vollkommen und erstaunlich anderen Ziel vor Augen. Schule, Universität, die Ausbildung hatten ihre Bedeutung verloren. Wenn auch nicht vollkommen. Oh nein, an dem Haken der Kultur hing sie immer noch. Oder von Neuem. Vielleicht zum buchstäblich ersten Mal, zogen Konstanze doch bislang unerkannte Bänder in die Richtung eines Schauspiels, dem zu begegnen ihr wohl ansonsten niemals eingefallen wäre.
Wie bereits vordem erwähnt, zählte Konstanze zu den pflichtbewussten Charakteren. Und demzufolge sah sie es auch nicht ein, warum sie bereits gekaufte Karten verfallen lassen, bereits gefasste Pläne in den Wind schießen sollte. Noch dazu, wo es ihr aus Gründen der Unerklärlichkeit, doch vielleicht des ersten wirklichen Glücksfalles an diesem Tag, und erstaunlicherweise gelungen war, ganz recht, genau die Pause abzupassen, um ihr Umzugsgeschäft zu erledigen. Wie sie es allerdings schaffte, auch noch die Theateraufführung, auf die sie sich vorbereitet hatte, doch derer sie keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken bedacht gewesen war, in eben jene Pause hinein zu quetschen, blieb eine beachtliche Leistung, sollte sie denn gelingen. Und Konstanze hatte ernsthaft vor, sie gelingen zu lassen.
Und so durchquerte sie das bereits beschriebene und wunderschöne Gelände, was an sich nicht einfach war, sahen doch vielerlei Gebäude, Straßen und Plätze sich einfach zu ähnlich. Doch es gelang, und nach dem Überschreiten einer breiten und wohlbefahrenen Straße, entdeckte Konstanze das kleine Straßencafé, in welchem am Vormittag und zwischen Tür und Angel, ein viel beworbenes Stück aufgeführt wurde.
Zu ihrer eigenen Schande gestand Konstanze mir, dass sie sich an das Stück als solches nicht mehr erinnerte. Verschwamm doch der Rest der Ereignisse insgesamt in einem undurchsichtigen Nebel, vermutlich ausgelöst durch die Erschöpfung als Folge der anstrengenden und nervenzerreißenden ersten Stunden des Tages, wie geschildert – die der vollkommenen Nacktheit.
Zumindest war sie nun angezogen. Warum sie hin und wieder auch hier den Platz wechselte, warum sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie die Darsteller kannte, warum sie in der Pause der Pause, beziehungsweise in der Pause zwischen den Akten, nicht die Gelegenheit ergriff wie angeboten mit den Darstellern zu kommunizieren, blieb ein Rätsel. Ebenso wie die Frage, warum sie mit einem gesichtslosen Mann stattdessen eine uninteressante Unterhaltung auf einer Parkbank führte, wohl nie geklärt werden dürfte.
Fakt war, dass sie die zweite Hälfte des Stücks mindestens ebenso genoss, wie sie die erste Hälfte genossen hatte. Fakt war, dass ihre Kleiderauswahl sich als erstaunlich gelungen entpuppte. Und das für sie, die es gewohnt war, kaputte Jeans und T-Shirts zu tragen. Doch der schwingende Rock und die gestylten Haare, taten ihrem Selbstvertrauen gut, so gut, dass sie gehobener Stimmung und angeregt durch die soeben verabreichte Dosis an Kulturgut, den Rückweg anzutreten gedachte. Nur, dass dieses Vorhaben nicht so leicht in die Tat umzusetzen war, wie Konstanze es sich vorgestellt hatte. Denn die vielen Straßen, Wege und Grünflächen, die Gebäude, Denkmäler und befahrenen Autobahnen begannen ihr unbekannt zu erscheinen, je weiter sie lief. Sie verwirrten Konstanze zusehends, bis sie erkannte, dass sie einem Irrweg zu Opfer gefallen, die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Sie war gezwungen, den Weg zurückzugehen, sich zu beeilen, zu hetzen, die gefährliche Straße diesmal in ungewohnter Hast zu überqueren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Gedanken an Risiken. Alles sah gleich aus. Alles wirkte entsprechend licht, fröhlich und geordnet. Ein elegantes, vornehmes Ambiente. Eine gute Gegend, zu gut. Denn auch dieser Weg stimmte nicht.
Konstanze steuerte an dem offen dargelegten Luxus vorbei, bis sich die Bilder der Gebäude, die errichtet worden waren, um Wissen zu erlangen und zu verbreiten, aus ihrem Kopf mit denen vermischten, die ihre Augen vor sich erkennen konnten. Erleichterte Seufzer entströmten ihren Lippen. Froh war sie, den Pfad zurück entdeckt zu haben. Nicht froh allerdings, dass es spät war, zu spät. Ihr Plan war nicht aufgegangen. Die Pause, die hätte ausreichen sollen, die sie benutzen wollte, um ohne weitere Auffälligkeiten wieder in den Trott des Systems einzufallen, erwies sich als zu kurz. Als bei weitem zu kurz.
Konstanze verharrte vor verschlossenen Türen. Sie fühlte mich wieder wie ein Kind, ein Kind, das ausgesperrt ist, das nirgends zugehörig nicht weiß, wohin oder an wen es sich wenden kann. Konstanze war dieses Kind. Und doch war sie es nicht. Denn die Jahre hatten sich nicht spurlos über sie gedrängt, Konstanze langsam aber sicher in die Knie gezwungen. Sie wusste, dass Lösungen existierten und wusste, dass sie diese nur suchen musste.
Es gab Möglichkeiten, wie jene freche, mutige Idee, die Türen zu öffnen und den Raum zu betreten. Vielleicht eine Entschuldigung auf den Lippen, vielleicht ein Lächeln. Die Reaktionen auf das Zuspätkommen zu ertragen. Auch wenn es tatsächlich spät war, viel zu spät, wie sie dann letztendlich beschloss. Zu spät, eine zu starke Präsentation peinlicher Vorfälle, als dass sie diesen ins Gesicht sehen könnte. Konstanze war nicht in der Lage zu erklären, zu deuten, zu entschuldigen und vielleicht auch nicht in der Lage, die Meinung, das Urteil anderer zu ertragen. Der anderen, die sich in höheren Positionen befanden, als sie selbst. In weitaus Höheren.
Konstanze tat, was sie immer tat. Sie zog sich zurück. Die Lösung, die übrig blieb, erschien ebenso logisch, wie fragwürdig. Und doch, mit etwas Glück konnte sie klappen. Und mit größerem Glück merkte niemand welche Ausrutscher sie sich geleistet hatte. Vielleicht erkannten sie Konstanze nicht. Vielleicht waren sie ausreichend von sich selbst eingenommen, genug mit ihrem eigenen, erbärmlichen oder wahlweise hellauf strahlenden Leben beschäftigt, als dass sie ihr Beachtung schenkten. Einer traurigen, nutzlosen Figur wie ihr, die letztendlich nicht sicher war, was sie in einer Welt wie dieser zu suchen hatte. Und doch befand sie sich in dieser. Und es handelte sich nicht um die Schlechteste aller Welten.
Vielleicht war es möglich, die unangenehmen Folgen, den Beigeschmack der stetig von neuem begangenen Fehler herunterzuschlucken, und sich auf das zu konzentrieren, was hinter dem oberflächlichen Eindruck einer schmucken Hülle steckte. Vielleicht konnte man über den Verdacht hinwegsehen, dass jene Hülle doch nur eine künstliche Schale darstellte, die nichts bedeutete, keinen Einfluss ausübte, weder Schutz noch Wirkung bot, sondern lediglich die Leere überdeckte, die ihr innewohnte. Vielleicht gab es doch mehr. Und vielleicht war dieses Mehr es wert, sich darum zu bemühen. Vielleicht führten viele Wege zum Ziel, verspätet oder pünktlich. Vielleicht mussten peinliche Augenblicke durchlebt und erlitten werden. Vielleicht verlieh es uns Kraft, der eigenen Unzulänglichkeit ins Auge zu sehen, den Perfektionsanspruch fahren zu lassen, und nach der Wahrheit hinter all dem Schein zu suchen. Wie auch immer diese Wahrheit aussehen mochte.
Möglich, dass es sich lohnte, dass sie einfach versuchen sollte, sich während der Zwischenstunde, der kleinen Lücke zwischen den Zeiten, einen Weg zu bahnen. Sie konnte hineinschlüpfen, sich in das Innere drängen, vorgeben, sie wäre niemals fort gewesen. Und auf ihr Glück hoffen, auf die Dummheit der Menschen vertrauen. Auf deren Desinteresse bauen, dass es ihr vielleicht ermöglichte, einen Weg weiterzugehen, der ihr eigentlich bereits verbaut war. Ein Risiko? Ja.
Und bis zu einem gewissen Grade sogar unehrlich, verschlagen, nicht von der Reinheit und Ehrlichkeit geprägt, die zu erlangen, sie sich stets erhofft hatte.
Doch war das Leben nicht auch so? Eine unehrliche, schmutzige Angelegenheit? Eine Zeitspanne, während derer man strebte, versuchte, sich Blößen gab, blamierte und nicht zuletzt in Grund und Boden schämte. Eine Zeitspanne, die Momente beinhaltete, während derer man das Mauseloch suchte, in dem es sich für immer verstecken ließ, die Decke unter der zu verschwinden sich so verlockend anbot.
Doch diesmal fiele sie nicht darauf hinein. Sie sah den Konsequenzen ins Auge, die sich aus ihrem Verhalten ergaben. Selbst wenn es ein erträumtes Verhalten, eine wirre Aneinanderreihung unwahrer Zustände und ein weit von der Realität entfernter Irrsinn war, in dem sie steckte, gefangen und verschluckt. Doch nicht ohne die Gelegenheit, sich zu befreien. Nicht ohne die Kraft, sich frei zu strampeln. Und genau das tat sie.
Sie strampelte sich frei.
Und ich achtete sie dafür.

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