Samstag, 19. Dezember 2009

Chronisch

Titel: Chronisch
Autor: callisto24
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Schuld daran war definitiv die rechte Gehirnhälfte, genauer gesagt, die Auswucherungen derselben. Nicht unbedingt in physischer Hinsicht – oh nein. Rein anatomisch betrachtet fiele wohl auch dem genauesten Diagnosegerät keine Anomalität derselben auf. Und doch existierte diese.
Ob es die Nervenverbindungen waren, die an Überspannungen ihrer Kontakte litten oder die ausufernde Elektrizität, die sich in diesem Teil des Gehirns konzentriert, konnte lediglich ein Neurologe feststellen. Toni blieb die Spekulation und damit gab sie sich zufrieden. Sie war lediglich froh darüber, einen, wenn auch wenig greifbaren Grund für ihren Zustand, für ihre Zustände, gefunden zu haben.
Die Überaktivität einer Gehirnhälfte bot genau diesen, galt es doch mittlerweile als erwiesen, dass mit der besagten, wuchernden, galoppierend explodierenden Hälfte des Organs nicht nur die Wurzel für Kreativität und die Fähigkeit zum Überblick gewährt wurde, sondern auch die Anlage zur Depression sich verstärkte. Wobei Toni sich manchmal fragte, ob nicht vielleicht ein Zusammenhang zwischen beiden Aspekten bestand. Denn wer – der sich die Mühe machte, einen Blick auf die Welt im Allgemeinen zu werfen, sich einen umfassenden Überblick verschaffte, sollte nicht umgehend von einem Hang zur Schwermut erfasst werden. Nur wer in seinem kleinen Rahmen blieb besaß die Chance, sich auch innerhalb dieser Grenzen eine zufriedene, wenn nicht gar glückliche Existenz aufzubauen.
Toni war dazu nie in der Lage gewesen. Und sie hatte es gewusst. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte, so wie es wohl jeder versuchte, der sich zumindest einen Hauch von Hoffnung bewahrte. Aber jeder einzelne Versuch war gescheitert. Nicht unbedingt zu ihrem Erstaunen. Schon gar nicht zu ihrer Freude, aber es ließ sich nicht leugnen, dass langsam aber sicher ein Schema hervortrat.
Aus verschiedenen Gründen kam ihr die Überzeugung auch überhaupt nicht ungelegen. Konnte sie die Schuld abstrakten Fehlschaltungen in den undurchsichtigen Windungen ihres Verstandes zuschieben, so existierte zumindest kein Grund mehr, sich mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu quälen. Dann war es eine höhere Macht, eine biologische Unpässlichkeit, die für ihr Unglück verantwortlich zeigte und Toni fühlte sich eher in der Lage mit einer Situation wie dieser umzugehen, als mit der ständigen Überzeugung, dass sie und nur sie allein und ihr eigenes Unvermögen, ihre Fehlbarkeit für die Dramen verantwortlich waren aus denen ihr Leben bestand.
Auf jeden Fall bot ihr die freimütig akzeptierte, wenn auch nur im Ansatz begriffene Erklärung eine visuelle Vorstellung der innerkörperlichen Vorgänge, eine Tatsache für die alleine sie sich bereits dankbar fühlte. Ebenso wie für die Konsequenzen der wissenschaftlichen Diagnose, die ihr so wissenschaftlich auch wieder nicht vorkam. Doch der Effekt sprach für sich. Und Toni konnte keineswegs leugnen, dass die verschriebenen Tabletten in ihrer Wirkung wie gewünscht einschlugen. Nicht dass sie es geglaubt hatte – in einem Alter wie dem ihren und nach all den Experimenten, die sie durchgeführt hatte, nur um ihr Leben ein klein wenig zu verbessern.
Umso erstaunter registrierte sie die körperlichen Reaktionen ihres Körpers auf ein an sich doch harmloses Medikament.
Nun hätte sie sich nicht dazu bereit erklärt, wenn die Lage nicht schier aussichtslos gewesen wäre. Wenn sie nicht mit absoluter Sicherheit jeden Eid beschworen hätte, dass sie sich an einem Endpunkt befand. Nichts und niemand konnte sie aus dem Sumpf, in dem sie versank, befreien. Der letzte Strohhalm, an den sie sich klammerte, er musste den notwendigen Halt bieten. Andernfalls wäre ihr Leben gelebt, die Wahl nur noch zwischen den Gleisen der S-Bahn oder dem Sturz aus dem Fenster möglich.
Sie schluckte die bitteren Pillen nach Anweisung und wartete. Nichts geschah. Es wurde nicht besser, im Gegenteil – schlimmer. Die enttäuschte Erwartung verstärkte die Verzweiflung, der Abgrund schloss sich um sie.
Bis – an diesem einen Tag, nach nur drei Wochen, etwas Merkwürdiges geschah. Eine Offenbarung, eine Erkenntnis, das winzige Gespür, die Ahnung davon, wie das Leben sein könnte, aus den Augen eines anderen Menschen gesehen.
Toni fühlte sich nicht besser, sie war nicht glücklicher, nicht beruhigter, nicht entspannter. Sie spürte nur, dass sie mit einem Mal fähig war, nur dazusitzen, letztendlich nur zu sein.
Und dass sie lächelte. Sie lächelte ohne Grund. Einfach so. Einfach vor sich hin. Das Leben war vielleicht doch nicht gar so schlecht. Das Leben konnte vielleicht gelebt werden, wie es jeder andere Mensch auch lebte. Ohne die Schmerzen, verursacht von den unzähligen Narben, die ihre Seele trug. Ohne die Ängste, die Qualen, mit denen sie sich täglich, stündlich herumschlug. Eine Pause von all diesem Leid. Ferien von der Selbstzerfleischung, der Existenzangst, der Todesfurcht.
Oder auch nicht Ferien. Vielleicht der Weg, auf dem sie weiterlaufen konnte. Vielleicht die Lösung, die Hoffnung, eine Chance darauf, noch für eine Weile den unverfälschten Geschmack des Lebens kosten zu können.

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