Freitag, 7. Januar 2011

Abseitig

Titel: Abseitig
Autor: callisto24
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Abseitig


Irgendwann ist genug. Ich bin ein netter Mensch. Ehrlich, ich bin sogar ein guter Mensch, ein ziemlich guter. Meine Absichten sind durch die Bank anständig und ehrenwert. Ich nehme Rücksicht auf meine Mitmenschen, bin aufrichtig und tugendhaft. Mein Leben ist beispielhaft in jeder Hinsicht. Und ich gehe sogar noch weiter. Jawohl, ich opfere meine Freizeit, meine Energie und Lebenskraft für die gute Sache. Genauer gesagt, für die wohl edelste Sache, die existiert. Andernfalls hätte ich sie nicht ausgewählt. Mein Plus lag schon immer in meinem brillanten Verstand, beziehungsweise in meiner Fähigkeit, Ursachen und Zusammenhänge zu erkennen. Kein Wunder, dass ich bereits in jungen Jahren erkannte, dass im globalen Spiel der Kräfte, eine zahlenmäßig nicht unbedeutende Gruppe Menschen rücksichtslos untergebuttert wird und somit die Folgen der Ungerechtigkeiten gezwungen ist, auszubaden.
Was soll ich sagen? Selbstverständlich wählte ich zu einem ersten meiner Ziele, den Welthunger zu beenden, ein Unterfangen, das jedem halbwegs menschenfreundlich gesonnenen Menschen, von primärer Bedeutung sein sollte. Als Entschuldigung, dass mir gleich dieses erste aller Lebensziele misslungen ist, kann ich eigentlich nur angeben, dass es sich bei meiner Wenigkeit doch auch nur um ein Exemplar des normal Sterblichen handelt. Leider ließ ich mich gleich zu Beginn meiner Laufbahn doch allzu rasch ablenken und frönte mittelmäßigen Arten des Zeitvertreibes. Nicht nur meinen aufreibenden Beruf darf ich dafür verantwortlich machen. Nein, eine Mitschuld trägt auch die Begeisterung, mit der ich mich in die weite Welt stürzte, nachdem ich endlich die Fesseln bayrischen Kleinstädterdaseins abgelegt hatte.
Doch was soll ich sagen? Trotz allem blieb das Gute in mir bestehen, und auch wenn der jugendliche Höhenflug einem resignierten Pragmatismus weichen musste, so konnte ich doch von meinem Vorhaben nicht gänzlich lassen und entschied mich für einen gemäßigten Beitrag zur Errichtung einer faireren Weltordnung. Selbstverständlich erst, nachdem ich meinen Lebensabend eingeleitet und mich in das idyllische Städtchen zurückgezogen, in dem meine unschuldige Kindheit ihren Anfang genommen hatte. Es ergab sich demnach und nach meiner Rückkehr in das gemütliche Mammendorf, dass ich für die ortsansässige Kirche, je nach Gelegenheit, einen kleinen Stand mit fair gehandelten Waren aufbaute, und diese, so gut es eben meinen Fähigkeiten entsprach, an nichtsahnende Gottesdienstbesucher verkaufte. Leider hatte es sich nicht vermeiden lassen, dass auch in dem kleinen Ort meiner frühen Tage der Fortschritt einzog. Ich merkte es nicht nur an der S-Bahnlinie, die das Tor zur Welt bedeutete, sondern auch an dem Klientel Zugezogener, mit dem sich auch der einfache Kirchenbesucher von Zeit zu Zeit befassen musste, vor allem, wenn er im Verkaufsbereich tätig war.
Der Faire Handel in der Kirche besitzt bereits eine gewisse Tradition, die sich langsam, aber sicher auch in die kleinen Vororte einer Großstadt Münchens, wie das im tiefen Bayern gelegene Mammendorf ausgebreitet hat. Gerade gegenübergestellt dem Prunk einer dörflichen Kirche, wirken die schlicht angerichteten Produkte geradezu herzergreifend erbärmlich.
Soweit, so gut. Ich opferte also meinen Sonntagmorgen, um meinen Dienst an der weltweiten Gerechtigkeit zu verrichten. Und zumeist erntete ich auch Anerkennung und Respekt unter den wohlgesonnenen Mitarbeitern der Kirchengemeinde, sowie unter dem ein oder anderen Besucher der Messe, der sein schlechtes Gewissen durch den Kauf eines Beutels fairen Kaffees zu beruhigen suchte.
Doch nicht heute, heute war es anders. Anmerken muss ich dazu, dass ich so frei war, mein Angebot an Waren mit liebevoll gestalteten Karten zu ergänzen, die bekannt dafür waren, einen Großteil des Erlöses an bedürftige Kinder der Ärmsten der Armen weiterzugeben, in Form von Medikamenten oder Lebensmitteln. Hin und wieder verkaufte ich eine dieser Karte und hatte nie ein schlechtes Gewissen dabei. Ebenso wie mit den Lebensmittelprodukten, ergab sich als Folge der Unternehmung, dass nicht nur Zeit, sondern ebenso meine etwas knappe Rente Einbußen erlitt. Schuld daran war der Rest von Konsumgier, der auch mir innewohnte, egal wie sehr ich zeit meines Lebens versucht hatte, diesen zu unterdrücken. Manchmal gingen eben die Pferde, oder die Gelüste mit mir durch und ich gönnte mir selbst eine Tüte Rosinen überzogen mit Schokolade oder einen aromatisierten Zimt-Tee. Auch die eine oder andere Karte hatte ich selbst erworben, sei es zum Zwecke der Weiterversendung oder als Auflockerung und Blickfang, bzw. zur Vertuschung eines vergilbten Fleckes auf meiner alten Tapete.
Wie gesagt, bis heute gab es keine Beschwerden.
Erst als diese Frau auftauchte. Diese Frau, der die Missgunst und der Lebensüberdruss bereits ins Gesicht geschrieben standen. Diese Frau, die sich erdreistete, zuerst mit ihren knochigen Fingern durch mein Sortiment, das ich wie immer penibel sorgfältig auf einem klapprigen Campingtisch aufgebaut hatte, - durch dieses Sortiment zu wühlen, die eine oder andere Kaffeesorte genauestens zu beäugen, bevor sie diese wieder zurücklegte. Diese Frau war es, die, nachdem sie meinen liebevollen Aufbau geprüft hatte, ihre Finger nach den geschmackvollen Karten ausstreckte, die den Rand meines Standes zierten. Eine nach der anderen hob sie heraus, betatschte sie gründlich, nur um sie mit einem abfälligen Herunterziehen der Mundwinkel wieder zurück zu legen. Und dann kam es.
Sie sah mich an, abwertend – ich kenne diesen Blick. Ihre winzigen Schweinsäuglein blinzelten hinter der dicken Brille, als sie den Kopf schief legte, und den Mund öffnete. „Das ist aber kein Fairer Handel“, belehrte sie mich mit einem bestätigenden Nicken. „Über 80 Prozent der Einkünfte landen in der Verwaltung.“
Nun gut. Ich war geschockt. Ich starrte sie, vermutlich mit offenem Mund und keinem sehr intelligenten Gesichtsausdruck an. Natürlich hätte mir sofort eine passende Erwiderung einfallen sollen. Etwas Kluges, etwas Schnippisches. Etwas, das ihr den Mund stopfte. Doch wie immer in diesen Momenten zeigte ich mich leider zu verdattert, als dass eine passende Entgegnung sich in meinem Gehirn hätte bilden können. Ganz im Gegenteil. Die Nervenenden lagen blank, die Synapsen kollabierten und ich konnte nur etwas Unverständliches murmeln, das– wie ich leider zugeben muss – glücklicherweise im Tumult der Menge, die die Kirche verließ und sich bewusst bemühte, meinen Verkauf des guten Willens zu ignorieren, unterging.
Nun, besagte Frau drehte sich nach ihrer erfolgreich angebrachten Spitze zufrieden wieder um und verschwand im Glanze ihrer Genialität.
Was aber tat ich? Gut, ich war angebunden an diesem Stand. So wenige Kunden es waren, die meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, die mich zwangen, mir über die niedrigen Gegebenheiten der Welt, wie über das Zusammenrechnen und Abziehen geringfügiger Beträge, den Kopf zu zerbrechen, es waren immer noch genug. Genug, um mich abzuhalten von meinem geradezu überwältigenden Bedürfnis, dieser Dame von erstaunlicher Frechheit und Selbstgerechtigkeit hinterher zu stürmen und ihr ein halbes Kilo fair gehandelten Kakao um die Ohren zu schlagen.
Wie gesagt, der Augenblick war nicht günstig. Was mich jedoch nicht daran hinderte, einige Beobachtungen zu machen und in meinen Gehirnzellen abzuspeichern, sollten sie für den späteren Gebrauch notwendig werden.
Ich bemerkte also wie diese Dame hocherhobenen Hauptes, doch wohlgemerkt, ohne ein faires Produkt, so günstig und gering es auch sein mochte, zu kaufen, sich geraden Wegs aufmachte in Richtung des Gemeindehauses. Dies konnte nichts anderes bedeuten, als dass sie vorhatte, sich an dem kostenlosen Kirchenkaffee zu laben, der im Anschluss an brave Gottesdienstbesucher ausgeschenkt wurde. Wie günstig der Umstand, dass ich im Gemeindehaus ein und aus ging, sowie Schlüssel als auch Zugang zu den entlegenen Winkeln besaß und somit jede Gelegenheit, meinem neu entflammten Rachedurst zu frönen.
So einfach und geistlos würde ich natürlich trotzdem nicht vorgehen. Schließlich konnte ich nicht wissen, wann oder wie mir diese doch gemeinnützige Einrichtung noch eines Tages zu Nutzen sein würde.
Meine Pläne entwickelten sich, so wie sie das immer tun, unterbewusst und während ich noch meine Geschäfte abschloss.
Das Kirchenschiff lichtete sich, die Massen entflohen dankbar. Die meisten, indem sie einen großen Bogen um das Angebot fair gehandelter Waren machten. Und wer würde es Ihnen verdenken? Die 60 Cent, die das fair gehandelte Produkt teurer waren, als die Discount-Alternative, ließen sich wertvoll und gewinnbringender in etwas Sinnvolleres investieren. Z.B. in den Schoppen Wein beim Italiener am Abend, auch ein Beitrag zur Weltoffenheit.
Aber das war nicht mein Problem. Die Strafe würde sie früher oder später alle ereilen, alle wie sie so hochnäsig durch die Gegend spazierten. Das Fegefeuer war ihnen sicher.
Mir vielleicht auch, das möchte ich hier offen gestehen. Und doch rechne ich mir noch eine geringe Chance aus, dem Unausweichlichen zu entkommen. Nicht, dass ich an die Gnade eines unsichtbaren Gottes glaubte, mit Sicherheit nicht. Doch eine gewisse universelle Gerechtigkeit liegt zumindest im Rahmen des Möglichen und bleibt es wert, ihre Existenz zumindest in Erwägung zu ziehen.
Und meine bescheidenen Beiträge, meine kleinen Anstrengungen hier und da, die Welt ein klein wenig besser zu machen, sollten meiner Ansicht nach, nicht umsonst gewesen sein.
Doch nun weiter mit der Geschichte. Nachdem sich allgemein angenehme Stille ausgebreitet hatte, kam ich dazu, meine Waren zu ordnen und sorgsam in die Kisten zu verstauen, die zur Aufbewahrung derselben vorgesehen waren. Danach galt es nur noch den Klapptisch zusammenzufalten und in die Abstellkammer zu befördern, sowie, beladen mit Waren und Kasse, den Rückweg in die niederen Gefilde des Gemeindehauses anzutreten, wo beides seinen wohlverdienten Platz fand, zumindest so lange, bis ich mich bereit erklärte für den nächsten Verkauf. Was wohl nicht so bald sein würde, bedachte ich mein aufgewühltes Gemüt nach diesem Erlebnis.
Andererseits wusste ich zu diesem Zeitpunkt bereits genau, wie es mir gelingen sollte, meinen Seelenfrieden wieder herzustellen.
Ich zögerte also nicht, meinen Plan in die Tat umzusetzen, schlich mich über die hinteren Treppen zur weitläufigen Garderobe, die, gerade in diesen kalten Tagen des Novembers, überladen war, mit Mänteln, Jacken und Hüten jeder Machart. Dank meines fotographischen Gedächtnisses erkannte ich den gesuchten Mantel auf Anhieb. Dank meiner genialen Bastelfähigkeiten auf die ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen werde, die jedoch in diesem Augenblick nichts zur Sache tun, gelang es mir mit unnachahmlichen Geschick einen meiner kleinen, selbst im Keller meines schäbigen Apartments, zusammengebastelten und mit einer Reichweite von 300 Metern ausgestatteten Sendern, im zufällig leicht aufgerissenen Saumes ihres Kleidungsstückes zu verbergen. Solche Leute haben immer einen aufgerissenen Saum, irgendwo.
Der Sender saß, der Empfänger befand sich in der Innentasche meiner Jacke und gab ein vertrautes Summen von sich. Ich liebte dieses Summen. Es erinnerte mich an frühere, bessere Zeiten, an Zeiten im Dienst. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, vielleicht vibrierte das elektronische Schätzchen nur in meiner Phantasie. Doch auch diese Befürchtung trübte meine freudige Erwartung nicht. Spürte ich doch endlich wieder den angenehmen Rausch, das süße Gefühl von Adrenalin, das wild durch meine Adern tobte. Lange vermisst und doch nicht tot. Ganz anders, als es diese Frau bald sein würde, die es geschafft hatte, mein bereits lange erkaltetes Blut wieder in Wallung zu bringen. Nicht mit den Wogen der Leidenschaft, sondern mit der viel stärkeren, viel mächtigeren Kraft des Ärgers, eines heiligen Zornes, den sie sich mehr verdient hatte, als sie es sich wohl hätte träumen lassen.
Ich schloss die Keller ab. Ich beseitigte jede Spur meiner Verkaufsaktivitäten. Höflich und mit ausgesuchter Freundlichkeit verabschiedete ich mich von den fleißigen Mitarbeitern. Ich habe stets ein Lächeln für jeden übrig, so unbedeutend er auch erscheinen mag. Man kann nie wissen, wann eine Sympathiekundgebung von entscheidender Bedeutung sein wird, wann die vielleicht nicht einmal wahrgenommene Hilfe des Geringsten unter allen Menschen zum Rettungsanker, zum Alibi, zum erlösenden Schein wird.
Solcherlei Gedanken plagten mich, während ich meinen langsamen Weg aus dem Gebäude nahm. Schritt für Schritt, gedankenverloren und ruhig, wie es sich für einen Mann meiner Jahre gebührt, ging ich unbeachtet einem Ziel entgegen, dass mit Sicherheit niemand in dieser trauten Gemeinschaft für möglich gehalten hätte.
Gut gelaunte Sonntagsmenschen, befreit von der Last des Alltags, befreit von der wöchentlichen Seelenqual, beschenkt mit dem Segen des Allmächtigen, ließen sich das heiße Gebräu schmecken, dass ihnen in weißen Jugendherbergstassen serviert wurde.
Keiner von ihnen ahnte das Hochgefühl oder konnte es auch nur annähernd nachempfinden, das mich packte, als ich die für den Laien kaum wahrnehmbaren Anzeichen identifizierte, die mir unmissverständlich mitteilten, dass das Ziel meiner Beobachtungen sich von dem besetzten Platz in nicht allzu langer Zeit lösen und hinaus schreiten würde. Hinaus in die feindliche Welt, einem unbekannten und nicht gerade rosigen Schicksal entgegen.
Ich folgte diesem Schicksal, meinem Schicksal, und dem der Frau, die sich zu viel herausgenommen hatte, als dass es gut für sie wäre. In sicherem Abstand, geleitet von unmissverständlichen Signalen folgte ich ihr bis zu dem Haus, welches genau dem entsprach, was einer Frau dieser Art gemäß sein musste. Der geradezu beleidigend langweilige Vorgarten mit den in blitzgerade ausgerichteten Blumentöpfen, die bereits allen Vorbereitungen für den nahenden Winter unterzogen worden waren, gähnte vor einer weißgeschrubbten Fassade, deren blanke Fenster geblümte Gardinen mit Schleifen schmückten.
Ich sah sie vor mir, wie sie in Plastikschuhen greller Art, mit Gartenhandschuhen bewaffnet, die Brille vorgerutscht auf die schmale Nasenspitze, im Schweiße ihres Angesichts, jeden kleinsten Halm störenden Unkrautes aus der kargen Erde rupfte und denselben mit glänzenden Kugeln oder noch schlimmer – mit kitschigen Gartenzwergen ersetzte. Ein Stadtmensch, vielleicht sogar direkt aus München zugezogen, unerlaubt eingebrochen in eine Welt, die ihm von rechts wegen hätte verschlossen bleiben sollen.
Nein, es wäre kein Fehler, dieser tragischen Existenz ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil. Es war meine Pflicht. Die Pflicht eines Menschen, der sich in dem Metier auskannte. Skrupel waren für die wichtigen Dinge reserviert, nicht für eine Belanglosigkeit wie diese.
Ich schob meine Hände in die Jackentaschen und sah ihr zu, wie sie hinter der blank gestrichenen Haustür verschwand. Bald würde von ihr nichts mehr übrig sein. Genauso wenig wie von dem abstoßenden Gebäude. Statt dessen ein schwelendes Loch, eine gähnende Lücke umrahmt von entsetzten Nachbarn, die sich wohl fragten warum der gefürchtete Terrorismus sich in ihre behagliche Gemeinde begeben hatte. Ich lachte in mich hinein. Wie schön, wenn die Medien Tag für Tag einem den Sündenbock in den schillerndsten Farben vorführten. In diesem Augenblick beschloss ich den Plastiksprengstoff in Form einer Amateur-Bombe, deren simple Machart jeder Experte auf Anhieb erkennen konnte, hinter den Kellerfenstern zu platzieren. Jede Wette, dass dieses Ereignis das langweilige Vorstadtleben auf das Erfreulichste beleben würde.
Auch ein Rentner sollte sich ab und zu mal etwas gönnen. Schließlich tut es sonst keiner.

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