Sonntag, 3. Mai 2009

Engel

Der Schutzengel



Heiß und stickig drückte die Luft. Wie es in der Hochphase eines jeden Sommers der Fall ist, der Fall sein muss. Und wie in jedem Jahr konnte sie den Sommer besonders schwer ertragen, fiel es ihr weitaus schwerer, den Tag zu einem Ende zu bringen, je länger und schwüler er sich ausdehnte.
Natalie bräuchte sich eigentlich nicht einmal für ihre Figur zu schämen, nun da die Badesaison in vollem Gange war, und auch sie nicht umhin konnte, sich hier und da am See blicken zu lassen. Und doch vermied sie es tunlichst, ihren Körper in größerem Maße zur Schau zu stellen, als unbedingt erforderlich.
Während sich die anderen Mütter in mehr oder weniger geschmackvolle Badeanzüge gepresst hatten, und ihre Haut der Sonne, dem Wind und dem Wasser aussetzten, blieb sie, soweit es ihr zugestanden wurde, im Schatten, gehüllt in Jeans und T-Shirt. Auf Schuhe zu verzichten lag ihr ebenfalls fern, denn das wuchernde Ungeziefer in der summenden Wiese bot ihr ausreichend Gründe, eine schützende Sohle zwischen sich und dem Grund zu behalten.
Und dann genierte sie sich für ihre Füße beinahe noch mehr, als für ihren Körper.
Gut, sie hatte Gewicht verloren. Gut, sie war schon mit weitaus mehr Umfang schwimmen gegangen, aber das letzte Jahr, die letzten Jahre zerrten nicht nur an ihrem Körper, sondern auch an ihrem seelischen Gleichgewicht.
Essstörung, Magersucht hin oder her – die Qualität der galoppierenden Angstattacken hatten die schleichenden Qualen ihrer bislang erfahrenen Neurosen noch nicht erreicht.
Panik hielt sie meist im Hause - Panik, Faulheit, Bequemlichkeit und Phlegma. Konnte Natalie doch davon ausgehen, dass ein Schritt hinaus ins Leben gleichzeitig eine Konfrontation mit einem neuen Angstauslöser bedeutete, der ihr kalte Schauer über den Rücken jagen, ihr Blut zum Gefrieren, und ihre Erschöpfung steigern würde.
Doch diesmal war ihr keine Ausrede eingefallen, und so musste sie tun, was getan werden musste. Nicht zuletzt, um ihrem Kind zu beweisen, dass es auch ihr hin und wieder gelang, den schützenden vier Wänden zu entkommen, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, ihnen gegenüberzutreten, und für einige Stunden eine gute Miene zu dem ebenso langweiligen wie gefährlichen Spiel aufzusetzen.
Gefährlich, weil jeder ihr entgegenkommende Körper eine Quelle ungeahnter Gefahren sein konnte.
Gefährlich, weil jeder Papierkorb, jeder unangenehme Geruch, jedes Niesen und jedes herumliegende Taschentuch in Natalies Augen einen Infektionsherd darstellte, ein tödliches Risiko für sich und für ihr Kind.
Natürlich wusste sie sehr wohl, dass sich diese Risiken lediglich in ihrer überschäumenden Phantasie befanden, dass der Ursprung der irrationalen Ängste in den Tiefen ihres Unterbewusstseins lag, in denen er ihrer Ansicht nach auch ruhig verbleiben durfte.

So schlimm war es zu ihrem Erstaunen doch nicht. Sie beobachtete die spielenden Kindern, führte belanglose Konversation, während sie auf der Decke ihre Beine streckte. Kinder und Mütter, Sonne und Sommer – andere Menschen genossen dies doch auch, warum also nicht sie?
Ihr Kind winkte, und Natalie nickte, begleitete den Haufen aufgekratzter sonnenanbetender Kleinen zum Wasser und beaufsichtigte die tobende Gruppe.
Andere Mütter lösten sie ab, indem sie sich zu der plantschenden Schar gesellten, sich mutig ebenfalls in das erfrischende Nass hineinwarfen.

Das aufgesetzte Lächeln, das Natalie gewohnt war in Anwesenheit anderer Menschen zur Schau zu stellen, erschlaffte für die Momente, in denen sie sich unbeobachtet glaubte.
So nah am Wasser konnte sie keinen Schatten entdecken, und ließ es seufzend zu, dass die Sonne ihre blasse Haut verbrannte, ihr rötliches Haar in einen glühenden Helm verwandelte. Und doch harrte sie aus, beruhigt durch das Wissen, dass auch diese Zeit begrenzt war, dass auch dieses Erlebnis ein Ende fände, früher oder später, auf die eine oder andere Weise.
Es galt durchzuhalten, und sich nichts anmerken zu lassen, den Anschein von Normalität zu wahren, die Fassade am Bröckeln zu hindern.

Flucht aus der Realität – so lautete das Schlüsselwort, und Natalie holte tief Luft, legte ihre Hand über die Stirn, um die Sonnenstrahlen ein wenig am Blenden zu hindern. Ihre Tagträume halfen immer, und gerade in diesen Tagen waren neue Leidenschaften in ihr erwacht. Denn der Held ihrer Geschichten bot Anlass zu unendlichen Möglichkeiten, offerierte ihr geradezu auf dem Silbertablett die Handlungsstränge, an die sie ihre Gedanken knüpfen, sie aus der Wirklichkeit entfernen konnte.
Selbst in einer Umgebung wie dieser – selbst an einem See, inmitten gleißenden Sonnenlichtes und brütender Hitze, strahlte sein Zauber in Natalies Herz hinein und schenkte ihr ein wenig Ablenkung, eine kurze Hoffnung, ein Aufflackern der Emotionen, die seine Geschichten in ihr aufwühlten, und die ihr doch immer wieder über den Tag halfen, immer geholfen hatten. Besser als jede Therapie, besser als jede Tablette, besser als alles andere.
In verschiedenen Gestalten hatte er sie durch ihr Leben begleitet, sich gewandelt vom idealisierten Helden der Kindheit, über komplexere, selbstzerstörerische Figuren, die Natalies Seelenleben perfekter wiederspiegelten, als sie es in Worte zu fassen vermochte – wäre sie sich dessen bewusst –
in das Wesen, das ihre Sinne dieser Tage in Anspruch nahm.
Näher den Bildern der Kindheit, heroischer als jene, die sie zuvor begleiteten, war dieser Held nichts anderes als ein Kämpfer, ein Krieger, der nicht aufgab, der seine Schlacht weiterführte, ohne die Ängste zu zeigen, die ihn tief innerlich ebenso beutelten wie jeden anderen Menschen.

Und im Kampf bestand auch Natalies Ziel. Nicht in den Kämpfen, die phantastische Gedankenspielereien ihr vorgaukelten, sondern in dem Kampf gegen die Schwächen, die Dämonen, die Furcht, die sie beherrschte, und den sie wieder und wieder verlor.
Den sie immer verlor, wenn die Wellen der Panik über ihr zusammenschlugen, wenn die Verzweiflung sie übermannte, der Schrecken ihr jeden klaren Gedanken stahl.
Einen Kampf, den zu kämpfen sie sich zu schwach fühlte, den sie nicht aufnehmen konnte oder wollte, nicht freiwillig, nicht allein, nicht ohne Hilfe.

Keine Hilfe, kein Schutz, kein Engel, der ihr beistand. Kein Gott, der sie an sich zog und ihr Trost spendete. Keine übernatürliche Macht, die ihr Vertrauen und Geborgenheit schenkte. Nichts davon hatte sie je erfahren. Und je mehr Natalie sich danach sehnte, desto klarer wurde es, dass keine Hilfe für sie existierte.
Auch das hatte sie versucht, wie so vieles andere. Natalie sammelte Bilder und Figuren, visualisierte das Bild des schützenden Engels für sich, nur um zu lernen, dass sie weniger daran glauben konnte, als jemals zuvor.

Und doch half ihr das Bild ihres Helden über die Momente des Tages, half ihr in diesem Augenblick, in welchem ihre Stirn glühte, und sie fühlte, wie ihre Haut sich rötete. Half ihr das Wissen, dass all dies ein Ende haben, dass sie sich in nicht allzu ferner Zukunft zurückziehen konnte, den See, den Sommer, die Hitze vergessen, und in ihre Traumwelt flüchten werde.

Die Kinder schwammen, die Sonne brannte, und ein Arm legte sich um ihre Schulter.
Nicht wirklich, niemand stand neben ihr, Natalie wusste dies. Und doch fühlte sie ihn, fühlte seine Präsenz, spürte, dass er bei ihr war, dass er sie hielt, dass er ihr von seiner Kraft schenkte.
Sie ahnte das Lächeln in seinem Gesicht, ahnte die Waffen, die er bei sich trug, die Schutzweste, die sich gegen ihr Shirt riebe, wäre er tatsächlich existent und nicht nur eine Ausgeburt ihrer Phantasie.
Und dann wusste sie es, wusste, dass sie auch ihn in sich trug, dass sie den Kampf aufnehmen konnte, dass sie verstand, was er ihr vermittelte.

Denn er existierte, ebenso wie ihre furchtbaren Ängste die Realität für Natalie darstellen konnten, so akzeptierte sie, dass auch er wirklich sein konnte, ein wirklicher Engel – ihr Schutzengel.
Er kam zu ihr, um Natalie zu versichern, dass sie nicht allein war in ihrem Kampf, dass eine Macht existierte, die größer war, als die Verzweiflung, dass auch Hoffnung existierte.
Hoffnung – ein von Gott gesandter Engel – eine Stütze, die ihr in keiner ihrer dunklen Stunden erschien – jedoch im gleißenden Licht eines Sommertages spürbar wurde.
Natalies Schutzengel – er war Wirklichkeit – ihre Wirklichkeit – und sie würde sich weigern, jemals eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

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