Susi konnte ihn nicht leiden. Er war ein Rüpel, unhöflich und setzte ständig dieses eingebildete Lächeln auf, als wollte er damit sagen, dass er etwas Besseres wäre. Besser als sie und besser als ihr Freund. Besser als alle anderen Einwohner des Dorfes.
Susi schnaubte, wenn sie daran dachte.
Nur, weil er aus der Stadt kam und so tat, als besäße er all die Welterfahrenheit, die man sich nur vorstellen konnte. Von wegen. Susi war welterfahren genug. Sie war ausreichend herumgekommen, hatte genug gesehen und gelernt, um zu wissen, dass ein Aufenthalt in der Stadt einen weder klüger noch vernünftiger machen konnte. Und wenn Rolf sich das einbildete, dann war das sein Problem. Das Problem ihrer Freunde allerdings wurde es, wenn er mit seinem Benehmen überall aneckte. Als täte er dies mit Absicht.
Es kam ihr manchmal beinahe vor, als wollte Rolf sich in Schwierigkeiten bringen, als wäre ihm das Kleinstadtdasein allein zu langweilig, zu unausgefüllt und zu konfliktarm, als dass ein Junge wie er es ertragen konnte.
Also machte er Ärger, wo es ging. Die Schule besuchte er nur gelegentlich, ließ überall verlauten, dass man ihm hier nichts beibringen konnte, dass auf der Straße mehr zu lernen wäre, als in dumpfen Klassenräumen.
Nun, Susi konnte dies nicht beurteilen, hatte ihre Mutter sie doch schon vor geraumer Zeit in eine Privatschule am Rande des Ortes geschickt. Eine Schule, in der sie sich fraglos wohlfühlte, die ihr alle Chancen und alle Möglichkeiten bot, sich zu entfalten. Susi war klug genug, diese zu nutzen. Sie engagierte sich in Schülerzeitung und Theaterclub, spielte Geige im Orchester und trug sogar die Schuluniform mit Stolz und Freude.
Ihr Freund Hendrik dagegen besuchte ebenso die öffentliche Schule, wie der zugezogene Rolf. Nur, dass er sich einige Jahre über diesem befand, sein Abschluss bereits in gefährliche Nähe rückte. Gefährlich, weil Susi nicht darüber nachdenken wollte, dass sie ihn verlieren konnte, dass die Weichen sich verstellen und ihr vertrautes Leben eine neue Richtung nehmen sollte.
Natürlich wusste sie, dass diesen Veränderungen nicht zu entkommen war, dass sie sich früher oder später damit auseinandersetzen musste. Die Welt blieb nun mal nicht wie sie war. Und ebenso, wie Rolf unvermittelt und unerwartet in dem Städtchen aufgetaucht war, so würde Hendrik eines Tages fortziehen, und sei es nur, um auf die Universität zu gehen.
Hendrik bedeutete Beständigkeit, Sicherheit und Vertrauen. Susi verließ sich darauf, dass ihm die Verbindung zu ihr ebenso wichtig war, wie ihr die Verbindung zu Hendrik, dass sie zusammenbleiben würden.
Schließlich waren sie beide lange genug um ihre Beziehung herumgetanzt, hatten sich vor- und zurückbewegt, umkreist und abgewartet, bis keiner von ihnen mehr eine Ausrede entdecken konnte.
Hendrik war groß und stark und zielbewusst. Er war vernünftig und plante seine Zukunft im Detail. Susi wünschte sich, auch sicher sein zu können, wie er. Sie arbeitete daran. Und doch gab es hin und wieder diese Momente, in denen sie sich nichts sehnlicher wünschte, als aus dem Rahmen auszubrechen, in den das Schicksal sie gesteckt hatte. In dem sie sich befand aufgrund der Wohlhabenheit ihrer Familie, der Erwartungen, die allerorts an sie gestellt wurden und die sie gewohnt war, pflichtbewusst und buchstabengetreu zu erfüllen.
Hendrik war der Mann, an dem sie plante sich festzuhalten, der ihr die Richtung weisen sollte, wenn sie selbst ins Schwanken geriet. Wenn unklare, ungenaue Vorstellungen sie einholten, Gedanken an Ausbruch, an Alternativen, an eine Welt außerhalb der ihr vorgegebenen.
Vielleicht war es das, was sie an Rolf so aufregte. Er schien keinen Plan, keine Erwartungen, nicht einmal ein Ziel zu besitzen. Rolf ließ sich durch den Tag, durch sein Leben treiben, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, sein Bestes zu geben, die Chancen, die sich ihm boten, zu optimieren.
All das an sich wäre nicht einmal so schlimm gewesen und auf gar keinen Fall ein Grund dafür, einen weiteren Gedanken an den Jungen zu verschwenden.
Aber der Ärger, den er machte, die ständige Aufmerksamkeit, die er hervorrief, schrien geradezu danach, sich intensiver mit ihm zu befassen, und sei es auch nur, um sich der eigenen Abneigung ihm gegenüber bewusst zu werden.
Da war diese Schlägerei gewesen, in die sich sogar der sonst so vernünftige Hendrik verwickeln ließ. Und wenn sie ihm Glauben schenkte, dann handelte es sich dabei nur um eine von Vielen.
Rolf zog das Unglück an, zumindest hatte Hendrik es so ausgedrückt, als er sich den Eisbeutel gegen die Stirn presste. Und er hatte mehrfach versichert, dass er ihn nicht leiden konnte, ja, dass er ihn direkt hasste, um keinen Preis der Welt etwas mit ihm zu tun haben wollte.
Susi nahm ihre Thermosflasche aus der Tasche und schenkte sich einen halben Becher dampfenden Tees ein. Es war eindeutig noch zu kalt, um draußen zu sitzen, aber Susi konnte nicht wiederstehen.
Jedes Jahr zog es sie an den ersten Tagen, in denen der Frühling seine Ankunft meldete, ein Stück aus dem Ort hinaus, an den kleinen Bach mit der Brücke und der hölzernen Bank, von der aus sich der schönste Blick auf eine kleine Idylle entfaltete.
Diesmal hatte sie sich entschieden nach dem Unterricht nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern war sofort in die Richtung aufgebrochen, in die es sie lockte. Der Himmel war blau und die Farben frischer und heller, als sie ihr in den letzten Monaten erschienen waren. Noch stieß keine Blüte, kein frisches Grün aus der Erde, doch Susi spürte, dass es sich nur um eine Frage von Tagen handelte, bis die Welt ein neues Kleid trüge.
Sie lehnte sich zurück, nahm einen Schluck aus der Plastiktasse und genoss die Wärme, die ihre Kehle hinunter strömte. Wenn sie wollte, konnte sie den ganzen Nachmittag hier verbringen, in Seelenruhe und allein.
Ihre Mutter war beschäftigt und ansonsten vermisste sie niemand.
Es schien, als habe jeder Mensch, einschließlich Hendrik, zu viel zu tun, als dass es auffiele, wenn sie sich für einen Tag ausklinke.
Eigentlich war dies nicht Susis Art, doch an diesem Tag konnte sie nicht anders.
Wer hätte auch erwartet, dass ihr an diesem einsam gelegenen Platz, zu einer unmöglichen Uhrzeit, ausgerechnet der Junge entgegenkäme, über den sie sich so angestrengt bemühte, nicht nachzudenken.
Sie erkannte ihn sofort, erkannte die zu weite, zu grelle Jacke, das dunkle, in die Stirn fallende Haar und den krummbeinigen Gang, den auch die schlabbernden Hosen nicht verstecken konnten.
Offenbar ahnungslos schlenderte er auf sie zu, blieb erst im Abstand von vielleicht zehn Metern vor ihr stehen, runzelte die Stirn.
Auffordernd sah sie ihn an, ein wenig zu streng vielleicht, eine unausgesprochene Warnung davor, dass er es nur nicht wagen sollte, sich ihr gegenüber etwas herauszunehmen.
Rolf zögerte, wich ihrem Blick für einen kurzen Moment aus, was ihm den Anschein von Unsicherheit verlieh. Susi fühlte sich irritiert, als hätte sich ein unvorhergesehener Aspekt seiner Persönlichkeit offenbart, die so gar nicht in ihr Bild passte.
Doch nur einen Augenblick später hatte er sich gefangen und trug wieder den vertraut hochnäsigen Ausdruck, der durch seine bleiche Haut und die halb geschlossenen Augenlider unterstrichen wurde.
Susi fiel auf, dass er weder Rucksack noch Schultasche bei sich trug und da sie vermutete, dass sein Schultag nicht kürzer sein durfte, als der ihre, schürzte sie verächtlich die Lippen. Kein Wunder, dass er schwänzte. Sicher fühlte sogar ein Kotzbrocken wie er, dass er unwillkommen war, dass ihn niemand hier haben wollte.
Susi senkte den Kopf, plötzlich beschämt. Seit wann war sie so elitär geworden, im Grunde lag eine Denkweise wie diese nicht in ihrer Art. Und doch brachte Rolf stets das Schlimmste in ihr zum Vorschein, die schlimmsten Vorurteile, die größten Abneigungen.
‚Er hat sich mit Hendrik geschlagen‘, sagte sie sich im Stillen. So war es denn kein Wunder, dass sie auf ihn nicht gut zu sprechen war. Ja, sie besaß jedes Recht, ihn nicht leiden zu können.
Sie sah auf.
Rolf stand immer noch vor ihr. Der Abstand zwischen ihnen hatte sich nicht verringert. Doch nun sah er sie an, unverwandt und mit einer Ernsthaftigkeit, die Susi einen kurzen, unerwarteten Schauer über den Rücken jagte.
Sie erwiderte den Blick. „Was?“, schnappte sie dann plötzlich, unfähig, die Stille noch weiter zu ertragen.
Rolf zuckte mit den Schultern. „Nichts“, antwortete er dann doch und ein schmales Lächeln kräuselte um seine Lippen. „Ich habe mich nur gefragt, was ein so braves Mädchen wie du allein hier draußen tut.“
Susi rümpfte die Nase. „Ich bin nicht brav“, verkündete sie, hauptsächlich um ihm zu widersprechen.
„Ach.“ Rolf zog seine Augenbrauen hoch und musterte sie dann von oben bis unten, mit Betonung auf ihre glattgestrichene Schuluniform.
Susi wand sich unbehaglich unter seinem Blick. „Und was tust du hier?“, fragte sie dann und bemühte sich, ihrem Ton die größtmögliche Schärfe zu verleihen.
Wieder zuckte Rolf mit den Schultern, verlieh der Achtlosigkeit in seiner Stimme Ausdruck. „Alles ist besser, als in dem Kaff herumzusitzen.“
„Du sprichst von meiner Heimatstadt“, erwiderte Susi und überlegte einen Moment. „Und jetzt auch von deiner“, fügte sie hinzu. „Sieht doch so aus, als habe dein Onkel dich für längere Zeit am Hals.“
Rolf grinste schief. „Der arme Kerl kann einem schon leid tun.“
„Das hast du gesagt“, gab Susi zurück und konnte es doch nicht verhindern, dass ihr ebenfalls ein Lächeln entschlüpfte.
„Also?“ Rolf legte den Kopf schief.
„Also was?“, fragte sie nun doch belustigt.
Rolf deutete mit dem Kinn zur Bank, auf den Platz neben ihr.
„Kann ich mich dazu setzen?“
Susi erstarrte nur kurz. „Hast du nichts Besseres zu tun?“, brummte sie dann.
Rolf durchquerte den Abstand zwischen ihnen in wenigen Schritten und setzte sich dann geschwind neben sie.
„Nein“, antwortete er und wand sich zu ihr, lehnte sich mit einem Arm gegen die hölzerne Lehne. „Um ehrlich zu sein, bin ich nur dafür hierhergekommen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so… so…“ Susi gingen die Worte aus und sie verstummte verlegen.
Rolf grinste. „Dass ich so romantisch bin?“, ergänzte er. „Du weißt vieles nicht von mir.
Susi entschlüpfte ein Kichern noch bevor sie es vermeiden konnte. „‘Romantisch‘ war nicht das Wort, dass mir in den Sinn kam.“
„Aha.“ Rolf lehnte sich zufrieden zurück. „Du meinst ein Herumtreiber und Schulschwänzer kann sich nicht an den Schönheiten der Natur erfreuen.“ Spöttisch zog er einen Mundwinkel hoch.
„Wie kommst du darauf?“ Doch trotz ihres Protestes errötete Susi.
„Na, ich liege doch richtig“, sagte Rolf und blickte auf den murmelnden Bach. „Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, wie diese Stadt über mich denkt.“
Susi wusste erst nichts zu erwidern. Doch dann fühlte sie sich doch bemüßigt, etwas zur Verteidigung ihres Wohnortes beizutragen.
„Vielleicht hast du ja angefangen“, bemerkte sie ein wenig zu direkt, doch mit voller Absicht.
Als keine Antwort kam, wand sie den Kopf und traf auf Rolfs Blick, der sie amüsiert ansah. „Das habe ich sogar ganz sicher“, sagte er und musterte sie, als erwarte er jederzeit eine deftige Retourkutsche von ihr.
Doch diese blieb aus, als Susi den Blick senkte.
„Na, dann darfst du dich auch nicht wundern“, fügte sie schließlich zu dem Gespräch hinzu und zögerte.
Rolf rutschte auf der Bank ein wenig hin und her. „Wer sagt denn, dass ich mich wundere“, murmelte er dann.
Susi sah ihn von der Seite an. „Ich denke, ich verstehe“, äußerte sie ruhig.
Rolf wandte sein Gesicht dem Ihren zu und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie satt kastanienbraun seine Augen in dem blassen Gesicht wirkten. Umrahmt von schwarzen Wimpern, die für ein Jungengesicht fast ein wenig zu lang wirkten und ihm doch den Anstrich einer Sensibilität gaben, die er hinter seinem angeberischen Äußeren nur allzu gut verstecken konnte.
Sie nickte. „Oh ja, jetzt verstehe ich“, murmelte sie und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. Ein Lächeln, das diesmal echt war, klar und ohne Vorbehalte. Ihr würde er nichts mehr vormachen. Ihr nicht. Vielleicht dem Rest der Stadt, vielleicht Hendrik, vielleicht der Schule, doch sie hatte einen Blick hinter die Fassade geworfen. Ihr Lächeln vertiefte sich. Und das Schönste daran war, dass Rolf selbst es vermutlich nicht einmal merkte.
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