Freitag, 28. August 2009

Gefängnis

Titel: Gefängnis
Autor: callisto24
* * *

Carmens Magen knurrte. Und das war gut so. Er sollte knurren. Er sollte schmerzen, sollte sich zusammenziehen, kleiner werden als eine vertrocknete Pflaume, klein genug, um den Ort, an dem er saß, in eine pervers nach innen gerichtete Wölbung zu verwandeln.
Carmen wusste, dass der Magen schrumpfen konnte. Und sie wusste auch, dass mit dem Schrumpfen der Hunger verschwand. Zu dumm nur, dass der ihrem Willen nicht gehorchte, nicht so gehorchte wie sie es sich erträumte. Denn der Hunger verschwand nicht. Die ekelhafte Gier nach Essen verblieb in ihrem Körper, verharrte in ihren Gedanken, so sehr sie sich auch bemühte, diese mit anderen, mit vernünftigen Wünschen zu ersetzen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Hände sich um ihre Taille schlossen. Sie wusste, dass es möglich war. Andere aus der Gruppe hatten es ihr gezeigt. So wie sie ihr auch weitere Tricks gezeigt hatten. Wie man Essen in der Serviette verschwinden ließ, oder in der Hosentasche. Wie man nach der unentschuldbaren Sünde des nachgegebenen Heißhungers, die unerwünschte Nahrung wieder aus dem Körper bekam. Oder wie die eigene, hagere Gestalt versteckt werden konnte, verborgen unter weiter und warmer Kleidung. Denn weit musste sie sein, um den lästigen Fragen der gelegentlich auftauchenden Bekannten zu entgehen, die sich noch daran erinnern konnten, wie unförmig, wie schwabbelig sie einst gewesen war.
Warm musste sie sein, weil Mädchen wie sie ständig froren. Aber auch das war gut so. Frieren lieferte den Beweis, dass der Körper unnötige Fette verbrannte, dass er das Wenige, wohl Durchdachte an Nahrung, das sie sich gönnte, wieder loswurde. Nur eines konnte ihr die Gruppe nicht beibringen. Eine Lösung fand auch sie nicht. Eine Lösung für das, womit Carmen sich am meisten quälte. Der Gedanke daran. An das Essen. Die ständige zwanghafte Fixierung auf Nahrung, auf Speisen, roh oder zubereitet. Auf verbotene Speisen, auf Eiscreme und Schokolade. Auf Kuchen und Pommes, auf Frittiertes und mit Sahne Bestrichenes. Es waren Gedanken wie diese, die Carmen in den Wahnsinn trieben.
Sie konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr daran denken, sich nicht pausenlos, in jeder Minute, in jeder Sekunde den Geschmack auf der Zunge schmelzender Schokolade ausmalen. Das Gefühl der Zähne, die sich durch ein knackendes Gebäckstück bissen, die genüsslich kauten. Die nicht winzige Stückchen abbrachen, um die Zeit der Nahrungsaufnahme auszudehnen. Die nicht öfter kauten, als notwendig war, nur damit der Speichel floss, damit mehr Bestandteile der Speisen bereits im Mund zersetzt wurden, und damit die irrationale Hoffnung vermittelten, dass sie nicht in der verhassten Wölbung des Bauches landeten. Des Leibes, der, sobald er sich nach vorne wölbte zu einem Gegenstand des Schreckens wurde, zu einem widerlichen Anblick unter dem Carmen Höllenqualen litt. Und um den zu vermeiden, sie sich der selbstauferlegten Tortur der Essensverweigerung aussetzte, darauf verzichtete auch nur das Notwendigste, das Geringste, sogar das Kalorienärmste aller Lebensmittel zu sich zu nehmen.
Selbst ein solches wäre zu viel, blähte ihren Bauch unnötig auf, verwandelte sie in eine wandelnde Tonne, einen Schandfleck im Angesicht der Erde. Denn nicht nur der Bauch sprang jedermann wie eine Beleidigung ins Auge. Auch ihr Gesicht quoll an mit jeder Speise, die sie durch ihren Schlund rutschen ließ.
Als teigiges Mondgesicht quoll es ihr aus dem Spiegel entgegen, füllte zugleich ihre Arme und Beine mit unerwünschten Rundungen, ersetzte jedes mühsam verlorene Kilo mit hässlicher Widerwärtigkeit. Es half auch nicht, den Blick in den Spiegel zu vermeiden. Es half ihr auch nicht, den Versuch zu wagen, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Nein, so fett und ekelhaft sie sich auch fühlte, nach dem verabscheuungswürdigen Gefühl der Fülle stellte sich nur allzu rasch die Sucht nach mehr, nach viel mehr Essen ein. Sie wollte essen, essen, und das Gefühl des Hungers war willkommen, solange ihr der Anblick der Kugel vor ihrem Leib erspart blieb.
Von wegen Magersucht. Die Sucht nach Essen war es, unter der sie litt, immer leiden werde, denn mittlerweile glaubte Carmen nicht mehr daran, dass die sie ständig heimsuchenden Gedanken jemals ein anderes Thema finden könnten. Sie schwankten lediglich zwischen den Extremen, zwischen dem nagenden Hunger, und den peinlichen Selbstvorwürfen, dem Selbsthass, der mit einem schwachen Willen einher ging. Wäre sie weniger schwach, wäre sie stärker, so bliebe ihr Bauch flach, so zöge er sich nach innen, gäbe den Blick frei auf Rippen und Knochen, die noch erlaubt waren, vorzustehen. Der flache Bauch war den Hunger wert, die Besessenheit, die Besetzung der Gedanken. Er war es wert, für immer eingesperrt zu bleiben inmitten der Wände, die sie um sich selbst gebaut hatte, und die sie schützten vor den Einblicken anderer, schützten vor der Notwendigkeit sich selbst zu verlassen, über sich hinauszuwachsen. Wände, die sie sorgfältig in ihren Gedanken eingeschlossen hielten, die wie ein Gefängnis waren, kein Entkommen gewährten, keine Flucht, nicht einmal die vage Vorstellung einer Flucht zuließen. Und deshalb war es gut so. Deshalb war Carmen froh zu sein, wie sie war. Denn schließlich blieb dies die einzige Art für sie zu existieren. Zu mehr war sie nicht imstande. Mehr war sie nicht wert. Mehr hatte sie nicht verdient.
Sie wünschte nur, dass die Gedanken eines Tages ein Ende hätten.

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