Samstag, 15. August 2009

Prinzip Gesichtsblindheit

Prinzip Gesichtsblindheit
Autor: callisto24

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Corinna hatte nie vermutet, irgendwelche wie auch immer gearteten Probleme betreffend ihrer Wahrnehmung mit sich herumzutragen. Sie war immer in der Lage gewesen, sich auf ihrem Lebensweg zu recht zu finden. Ohne Auffälligkeiten und Probleme, sowohl was ihr Privatleben als auch ihren beruflichen Werdegang anging, gelang es ihr gerade aus durch die Welt zu marschieren.
Natürlich mussten Abstriche gemacht werden. Natürlich war sie gezwungen ihre Grenzen zu erkennen und sich auf diese einzustellen.
Doch blieb sie Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass sie sich diese Grenzen selbsttätig erschuf, dass ihre gelegentlichen Ausfälle, ihre regelmäßig auftretende Verwirrtheit doch nur an ihrer Zerstreutheit lag, an ihrer Neigung durch die Welt zu spazieren, während sie mit ihrem Kopf in den Wolken schwebte.
Eine Träumerin, das war sie immer gewesen. Und existierte überhaupt ein Zweifel daran, dass die Traumwelt jederzeit der Realität vorzuziehen sei?
Corinna glaubte nicht daran.
Die Realität trug zu viel Schwere, zu viel Trauer und zu viel Trockenheit in sich, als dass es ihr erstrebenswert erschien, sich von morgens bis abends mit dieser abzufinden. Sie wählte ihre Ausflüge in die Leichtigkeit der Phantasie freiwillig, und im besten Wissen ihrer Kosten.
Denn blieb sie abgelenkt, nur mit den Füßen locker dem Boden der Wirklichkeit verhaftet, so entgingen ihr zwangsläufig Einzelheiten, und gelegentlich gar bedeutende Einzelheiten, deren Abwesenheit in ihrem Bewusstsein zu Corinnas Verwirrung beitrugen, und so manches Mal zu durchaus bedenklichen Folgen führten.
Doch handelte es sich niemals um Folgen, die in ihrer Tragweite das kurzfristige Chaos in Corinnas Verstand auf irreparable Art manifestierten. Corinna war stets in der Lage, nach einer kurzen Phase der Verwirrung ihren Halt in der Realität erneut zu verankern, Schlüsse zu ziehen und Hinweise zu verknüpfen, bis sie ihren Anschluss an die ablaufenden Vorgänge fand und sich wieder in das Geschehen einklinkte.
Corinna war intelligent, daran hatte es nie einen Zweifel gegeben. Und somit gelang es ihr auch jedesmal von neuem, ihren unauffälligen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, unabhängig davon, für wie unnötig und sinnlos sie diese an sich hielt.
Daher war es ihr auch ein leichtes die Erwähnung des Phänomens flink beiseite zu schieben, als eine der Merkwürdigkeiten der Welt zu betrachten, die nicht das Geringste mit ihr oder mit ihrem Leben zu tun hatten.
Dazu gesellte sich die Überzeugung, die Corinna ihr Leben lang begleitete, die unumstößliche Gewissheit, dass sie es besser konnte, wenn sie es denn nur wollte. Und mit ‚es‘ meinte sie die oft unterschätzte, selten anerkannte, weil stets als selbstverständlich angenommene Fähigkeit der Differenzierung zwischen den Menschen, die ihre Welt bevölkerten.
Und wenn ihre Tante darüber klagte, dass sie die Gesichter ihrer Mitmenschen nicht voneinander unterschied, so reagierte Corinna lediglich mit einem abfälligen Schmunzeln. Wenn Tantchen darauf bestand, dass sie in Filmen und Theaterstücken regelmäßig gezwungen war, sich ihren eigenen Reim auf Namen und Ereignisse zu machen, da sie die auftretenden Personen unmöglich unterscheiden konnte, so schob Corinna dies auf die Sehschwäche, die ihre Tante zwang stets eine dicke Brille zu tragen.
Denn sie selbst, Corinna, kannte Probleme dieser Gestalt nicht. Corinna war eine aufmerksame Betrachterin jeglicher Ereignisse auf dem Bildschirm, verfolgte Personen und Handlungsabläufe entsprechend der ihr gebührenden Bedeutung.
Denn schließlich lieferten ihr Filme und vor ihr ausgebreitete Geschichten, Entwicklungen und Charakterzeichnungen die ultimative Vorlage für die Traumwelten, die sie als Ausgleich zu der Ödnis ihres Lebens benötigte. Soweit war sie in ihrer Erkenntnis der Tatsachen bereits gelangt.
Sie studierte die Gesichtszüge der Protagonisten, die sie interessierten, deren Geschichten sie für sich weiterspann, und die sich ihr unauslöschlich einprägten, ob sie nun wollte, oder nicht.
Es bestand keine Möglichkeit, dass sie diese Züge je verwechselte, jemals einen Zweifel daran hegte, zu wem sie gehörten, um welchen Charakter, um welchen Menschen es in welcher Situation ging.
Nicht in der Welt der Träume.
Und somit lag der Schluss klar auf der Hand. Auch im wirklichen Leben existierte kein Zweifel. Das einzige, was existierte, war ihr eigener Mangel an Interesse, an Aufmerksamkeit.
Gesichter, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, waren schlichtweg nicht interessant genug, als dass sie sich diese merkte.
Zudem verbot ihr die anerzogene Höflichkeit einem Menschen allzu lange und allzu gerade ins Gesicht zu starren, bis sich seine Züge ihr einprägten.
Ein Problem, auf das sie während der Betrachtung des Bildschirms keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Ganz im Gegenteil. Es gehörte in Situationen wie diesen gewissermaßen zu ihren Aufgaben, sich so gut als möglich auf die Person zu konzentrieren, deren Bemühungen doch auch nur dieses Ergebnis bezweckten. Angesehen zu werden, beobachtet, bis sich das Gesicht und im besten Falle zugleich auch der Name für immer in das Gedächtnis der Zuschauer einprägten.

Und Corinna war zufrieden damit. Ihr Leben brauchte nicht mehr. Es gab wenige Menschen auf die es ihr ankam, und diese hatte sie um sich.
Warum den Mann von Gegenüber, warum die Frau im benachbarten Büro grüßen in einer wertlosen, atemverbrauchenden Geste, die doch keinen von ihnen auf nur irgendeine Weise glücklicher zurückließ.
Gesichtsblindheit – was für ein Unsinn.

Corinna küsste ihren Mann zum Abschied. Sie stand mit ihrem Töchterchen am Hauseingang und sah zu, wie er ihnen zuwinkte, bevor er den Motor startete.
Diese Geschäftsreise sollte länger währen als es üblich war, aber Corinna hatte alles im Griff. Sie war stets gut im Organisieren. Sie handelte klug und umsichtig, beinahe vorsichtig. Und darauf war sie stolz, verminderte ihre Vorsicht doch die Risiken, denen sich weniger umsichtige Menschen nur allzu häufig gegenüber sahen.

Es war einer dieser Tage. Corinna holte ihr Kind vom Hort und gab vor, nur schweren Herzens der Bitte der Kleinen nachzugeben, die den Rest des Nachmittags bei einer ihrer kleinen Freundinnen verbringen wollte. Innerlich jubilierte sie jedoch, froh über die wenigen Stunden der Freiheit, die ihr bevorstanden, konnte sie das Kind bei einer anderen Mutter gut aufgehoben wissen.
Mit einem Seufzer schloss sie die Tür hinter sich, sperrte die schwüle Hitze aus, und genoss die ersten Atemzüge in der Kühle des Hauses.
Fast zwei Wochen war ihr Mann bereits fort, und sie musste ehrlich gestehen, dass sie ihn nicht einmal vermisste. Noch nicht, dachte sie im Stillen. Zur Gewohnheit sollte er sich diese langen Reisen jedoch nicht machen. Es war schon so schwierig, gleichzeitig Mutter und Bürokraft zu spielen. Jede ihrer freien Minuten den Launen der Kleinen zu widmen, trug nicht zu ihrem Wohlbefinden bei.

Doch nun sah sie einem Moment des Friedens entgegen, inmitten der Abgeschiedenheit ihrer vier Wände, angenehm kühler Luft und der kargen Inneneinrichtung, die es ihr erlaubte, die Gedanken schweifen zu lassen, ohne dass sie an einer unnötigen Spielerei hängen blieben.

Corinna sank in die Polster ihrer Couch, und seufzte genüsslich auf. Vor sich hielt sie ein Glas sprudelnden Proseccos, der beinahe ein wenig zu warm war, um perfekt zu sein, doch den kühl zu stellen, ihr die Geduld fehlte.

Sie nippte leicht daran, legte den Kopf zurück und beschloss ihr Strohwitwendasein so angenehm als möglich zu gestalten.
Corinna merkte nicht, wie sie einschlief. Eigentlich döste sie nur, und doch fühlte sie sich im Moment des Erwachens leicht desorientiert.
Sie schrak hoch, verschüttete unbemerkt den Prosecco, der locker auf der Lehne des Sofas ruhte, fing im letzten Augenblick das Glas auf und stellte es zurück auf den hellen Tisch.
Corinna rieb sich die Augen, blinzelte dann, und blickte zur Uhr.
Viel Zeit war nicht vergangen. Was konnte es also sein, das sie geweckt hatte? Keines der Geräusche, die von draußen, aus der Straße, den Gärten oder den sich zusammenballenden Wolken in die scheinbare Sicherheit ihres Hauses drangen, hielten normalerweise die Macht, Corinna aufzuschrecken.
Sie setzte sich auf, und blickte um sich. Nichts hatte sich verändert. Nichts wirkte anderes, als sie es gewohnt war. Und doch stimmte etwas nicht, befand sich etwas in diesem Haus, das ihr Schauer über den Rücken jagte. Etwas Unbekanntes und Bedrohliches, das sie von Sekunde zu Sekunde stärker aufrüttelte.
Und dann hörte sie es, hörte ihn.
Denn es musste sich um einen Mann handeln. Die schweren Schritte, die unter ihr auf dem harten Zement des Kellerbodens klangen, ließen keinen Zweifel.
‚Ein Einbrecher‘, dachte sie und der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Schlimmer noch, ein Mörder, der ihr Haus beobachtet hatte, die Möglichkeit erkannt.
Eine Frau alleine, ohne Schutz in einem großen Haus, verpflichtet alles zu tun, um ihr kleines Mädchen zu beschützen.
Welch ein leichteres Opfer konnte es geben. Ob es sich nun um einen Wahnsinnigen, getrieben von seinem Durst nach Blut handelte, um einen Vergewaltiger, Kinderschänder oder Verbrecher einer Spezies, an deren Existenz Corinna sich zu denken weigerte – für sie lief es auf dasselbe Ergebnis hinaus.

Corinna kämpfte ihren Schrecken nieder. Sie rutschte vorsichtig bis an den Rand der Sitzfläche, bemühte sich kein Geräusch zu verursachen, als sie sich erhob, als sie in wenigen Schritten den Raum durchquerte.
Wie gut, dass Vorsicht stets ihre oberste Priorität gewesen war. Wie gut, dass sie für alle Eventualitäten vorgesorgt hatte.
Die Geräusche unter ihr waren verstummt, und Corinna stellte sich vor, wie der Mann ein Versteck aufsuchte, sich auf die Lauer legte, sich darauf einrichtete, geduldig abzuwarten, bis seine Zeit gekommen war. Bis die Nacht sich über das Haus gesenkt hatte, und seine Bewohner in tiefem Schlafe lagen, so dass er aus der Tiefe emporsteigen konnte, und sein schmutziges, blutiges Werk beginnen.
Corinna erschauerte. Vorsichtig, langsam und mit zusammengepressten Lippen, sorgsam darauf bedacht, keinen einzigen Laut zu erzeugen, öffnete sie die glücklicherweise perfekt geölte Schranktür.
Sie erhob sich auf ihre Zehenspitzen und griff in die Höhe. In der obersten rechten Ecke, gut versteckt, sicher vor den Händen von Kindern oder unbefugter Personen, dort hatte ihr Mann sie verstaut. Die Waffe, von der Corinna niemals angenommen hatte, dass er sie außerhalb des Schützenvereines gebrauchen konnte, geschweige denn, dass sie selbst jemals das Verlangen verspüren sollte, diese in ihren Händen zu halten.
Nur zur Vorsicht hatte er ihr beigebracht, wie man die Waffe hielt, und wie man sie bediente, und Corinna hatte gelacht, und ihn mit seiner Vorliebe für Wild-West-Geschichten aufgezogen.
Doch jetzt sah alles anders aus. Jetzt war sie die Einzige, der es oblag ihren eigenen Grund und Boden zu verteidigen. Und den Besitz ihres Gatten, sowie das Leben und die Sicherheit des Kindes. In einem Augenblick wie diesem durfte nicht gezweifelt werden. Entscheidungen mussten getroffen, Konsequenzen akzeptiert werden.
Corinna entsicherte die Waffe, und hielt sie im Anschlag. Immer noch hörte sie nichts. Immer noch regte sich niemand unter ihr.
Und doch hatte sie sich nicht getäuscht. Einen Streich wie diesen konnte ihre Phantasie ihr nicht gespielt haben.
So bewegte sie sich langsam, aber entschlossen vorwärts, lautlos, denn das Überraschungsmoment wollte sie auf ihrer Seite wissen.
Corinna näherte sich der Kellertreppe, spähte aufmerksam hinunter, bevor sie aus ihren Schuhen schlüpfte, um barfuß den Weg in die Tiefe anzutreten.
Gerade gewöhnte sie sich an das Gefühl der rauen Stufen unter ihren empfindlichen Sohlen, gerade erwog sie doch heimlich die Möglichkeit einer Überreaktion ihrerseits, die Möglichkeit, dass die Gefahr, die sie fühlte doch nur in ihrem Kopf existierte, und sie es aufgeben sollte, sich den Auswüchsen ihrer eigenen Phantasie zu unterwerfen, da flammte das kalte Licht der Glühbirne auf.
Corinna zuckte zusammen, stieß ein Keuchen aus und hob unwillkürlich die Waffe, bevor sie in die ungewohnte Grelle blinzelte.
Und da stand er, genau vor ihr. Ein hässliches Grinsen auf dem Gesicht, die Hände erhoben in einer drohenden Gebärde.
Selbst auf der Straße hätte sie ihn als einen Mann erkannt, der nichts als Böses im Sinn trug. Sein Haar stand ungebärdig vom Kopf ab, unter den Augen lagen tiefe Schatten und ein ungepflegter Drei-Tage-Bart ließ keinen Zweifel an seinen finsteren Absichten.
Die Augen des Mannes blitzten und er öffnete seine Lippen, um etwas zu sagen, als Corinna schoss.
Der Rückstoß nahm ihr den Atem, doch mehr noch tat es der verblüffte Ausdruck im Gesicht des Fremden, der langsam rückwärts wankte, zitternde Hände zu der Wunde hob, aus der das Blut hellrot sprudelte.
In seiner Kehle gurgelte etwas, und dann stürzte er mit einem Krach zu Boden.
Corinna keuchte, als sie ein weiteres Geräusch vernahm. Sie wirbelte herum und schoss, schoss sich ihren Weg frei.
Sie erklomm die Treppe mit letzter Kraft, trat in die Lache Blutes, das aus dem Leib der Komplizin des Einbrechers austrat. Mit einem großen Schritt stieg sie über das Kind, das an der Seite der Frau gewesen war und nun leblos auf dem Boden lag.
Dann rannte Corinna hinaus, hetzte vorwärts, in das pralle Sonnenlicht. Die Waffe entglitt ihren Händen als grelle Sirenen ihr Trommelfell durchschnitten. Sie presste ihre Hände gegen die Ohren, presste immer noch, als Uniformierte aus den Autos stürzten, sie zu Boden warfen und schließlich gewaltsam ihre Arme auf dem Rücken fesselten.
„Mörder“, keuchte sie. „Einbrecher – dort drinnen.“

Sie wurde in die Höhe gerissen und auf den Rücksitz eines Wagens geworfen, als ein Mann im Anzug mit blassem Gesicht auf sie zukam.
„Sie haben ihren Mann erschossen“, sagte dieser leise und trotz des Lärms und der Aufregung, die sie umgab, vernahm sie seine Worte. „Ihren Mann, der für sie aus dem Keller einen Hobbyraum machen wollte.“ Er schüttelte den Kopf. „Und ihr Kind. Können Sie mir sagen, wieso Sie geschossen haben? Was hat er ihnen angetan? Was hat das Kind ihnen angetan, oder die Frau?“

Corinna rang nach Luft. „Es war nicht mein Mann“, stieß sie schließlich hervor. „Ich hätte ihn erkannt. Ich bin nicht gesichtsblind.“

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