Dienstag, 25. August 2009

Klassentreffen

Titel: Klassentreffen
Autor: callisto24


Alice hatte nie vorgehabt, ihre kostbare Lebenszeit mit einem Klassentreffen zu verschwenden. Bereits während ihrer Schulzeit war ihr klar gewesen, dass ein Klassentreffen so ungefähr das Letzte war, das sie in ihrer Zukunft sah.
Natürlich hatte sie ohnehin niemals viel in ihrer Zukunft gesehen. Die Erwartungen, die ihre Klassenkameraden still oder laut äußerten, die Pläne und Vorstellungen schienen Alice stets aus einer anderen Welt zu stammen, einer Welt, in die sie nicht eingelassen wurde. Selten spürte sie ihre Andersartigkeit derartig stark wie in den Momenten, in denen andere mit einer felsenfesten Sicherheit, von der Alice nur träumen konnte, ihren Lebensentwurf festlegten. Als ließe sich das Leben, die Entwicklung der Geschehnisse tatsächlich planen. Als habe man Einfluss auf die Dinge, die in der Zukunft warteten.
Wenn Alice daran dachte, dann nur in den negativsten aller Kategorien. Sie zweifelte nicht, dass ihre Mitschüler es schaffen konnten, ihre Pläne verwirklichten, aber sie blieb sich ebenso sicher, dass ihr eigenes Leben einem Trauerspiel gliche, dass ihre Zukunft nichts beinhalte, und vor allem nichts, das sich lohnte, guten Gewissens weiterzuerzählen.
Warum Alice also auf diesem ersten aller Treffen, nach mehr als 20 Jahren Schulabschluss auftauchte, war ihr selbst nicht klar. Nur, dass sie auf einmal dort war, zu ihrer eigenen Verwunderung und zu ihrer eigenen, spontan auftretenden Freude.
Es sollte kein Zufall sein, dass ein ausgedehnter Zeitraum wie dieser verstrichen war, bevor sich die Abschlussklasse zu einem Treffen bequemte.
Sicher gab es hin und wieder Anstrengungen, Aufrufe, doch scheiterten diese meist an dem vorherrschenden Desinteresse der potentiellen Teilnehmer.
Und nun, da Nägel mit Köpfen gemacht worden waren, nun, da sogar Alice, die Unauffällige, die Stille, mit deren Auftreten wohl kaum einer gerechnet hatte, das Gebäude betrat, wirkte alles vollkommen anders, als es jeder von ihnen wohl erwartet hatte.
Sie alle standen in der Mitte ihres Lebens, hatten diese vielleicht sogar bereits überschritten. Angabe, Illusionen und Träume verloren mit jedem Lebensjahr an Bedeutung, wurden je nach Charakter ersetzt mit Resignation oder der Hingabe an eine Karriere, ein Ziel, das alles bedeuten musste, sogar wenn es nichts bedeutete.
Alice sah sich um. Ihre übliche, eher unauffällige, wenn nicht gar schlampige Kleidung hatte sie durch eine Auswahl ersetzt, die ihr nicht ähnlich sah, an die sie seit ihrer Jugend nicht mehr gedacht hatte.
Sie trug einen Rock, einen leichten, hellblauen Sommerrock, der obwohl untypisch für ihre burschikose Art, ihr doch ein lange vermisstes, kaum noch in ihrem Gedächtnis vorhandenes Gefühl von Leichtigkeit vermittelte. Auf merkwürdige Weise fühlte sie sich beschwingt, losgelöst von ihrem trüben Alltag, und zu ihrer eigenen Verwunderung auch zurückversetzt in Zeiten, die wenngleich nicht viel zu bieten gehabt hatten, doch wenigstens den Anschein der Hoffnung in sich trugen.
Und zu ihrem Schrecken spürte sie auch die Begleiterscheinung in sich aufwallen, das niedrige Bedürfnis, sich zu verstellen, ein Bild ihrer Selbst zu erzeugen, das nicht der Wahrheit entsprach.
Lange schon war sie nicht mehr auf diese Versuchung hereingefallen. Schwer genug war es ihr gefallen, die Folgen und Auswüchse dieser tiefsitzenden Tendenz zu erkennen, abzuwägen und schließlich als des Dramas nicht würdig, dass sie unweigerlich hervorriefen, einzuordnen.
Alice war einen langen Weg gegangen, einen schwierigen Weg, der sie immer wieder gezwungen hatte innezuhalten, ihre Richtung zu überdenken und zu ändern, ihre Pläne auf den Müll zu verwerfen, und ihre Entscheidungen tief zu bereuen.
Nicht dass dieses unerwartet kam. Alice wusste immer, dass sie schwach war, wusste immer, dass der Zweifel als ihr ständiger Begleiter Hindernisse in den Weg warf, denen andere Menschen ohne sie überhaupt wahrzunehmen, geradezu spielerisch, auswichen.
Doch vielleicht und nur vielleicht behielten die Stimmen recht, die ihr erzählten, dass sie auch gewänne. Dass jede Schwierigkeit, die sie überbrücken konnte, Alice einen Schritt weiterbrachte in der Ausbildung ihrer Persönlichkeit.
Und warum sollte diese so falsch sein?
Alice hatte gehört von Klassentreffen. Sie kannte die Geschichten derer, die unglücklich zurückgekehrt waren, die ihr Leben von einer anderen Warte betrachteten, nachdem es den Vergleich mit dem Leben jener aushalten musste, die einen Ausgangspunkt für sich beanspruchten, der nicht allzu weit von ihrem entfernt war.
Und von diesem Vergleich enttäuscht zu sein, fiel nicht schwer. Selbst unter der Voraussetzung, dass jeder bestrebt war, sich das eigene Leben so perfekt als möglich zu reden.
Es war nicht schwer die Defizite zu erkennen, wenn sie wieder und wieder unter die Nase gerieben wurden. Glückliche Familien, zahlreiche gesunde Kinder, große Häuser, Erfolg im Beruf und im Privatleben beanspruchte jeder einzelne für sich. Vielleicht wurden Scheidungen verschwiegen, vielleicht Reisen aufgebauscht, Karrieren zu ballonartiger Größe gedehnt, doch für jemanden, dessen Leben dem Durchschnitt näherkam, als er es je erwünscht hatte, bedeutete die Betrachtung der Lebenswege einstiger Gleichgestellter, nur den Beginn einer andauernden Depression. Ging es doch von diesem Abend an nur noch bergab, zurück in ein Leben, das weder Erwartungen, noch hochfliegende Träume erfüllte. In ein Leben, das sich von Alltagsdrama zu Alltagsdrama hinzog, gespickt mit all den kleinen, unauffälligen und doch so zeit- und nervenraubenden Ärgernissen, die damit einher gingen.
Alice seufzte auf. Vielleicht lag genau darin ihr Vorteil. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie diese Träume nie gehegt hatte, die es ihr unmöglich machten, selbst im Angesicht eines Vergleiches enttäuscht zu sein.
Jede Karriere, jede noch so schöne Villa, jedes perfekte Kind, passte nicht zu ihr, hatte nie zu ihr gepasst und würde niemals zu ihr passen. Sie war nicht der Mensch, der sein Leben mit Zielen anfüllte. Ebenso wenig wie sie der Mensch war, der jemals erwarten konnte, auch nur eines dieser Ziele zu erreichen. Sie blendete dergleichen aus, die Vorstellung, den Traum, den bloßen Gedanken daran.
Und es funktionierte, wusste sie doch, dass jede Realität sich anders gestaltete, als das Bild von ihr.
Sie wusste, dass sie in einer Villa nicht glücklich werden konnte, wusste, dass eine Karriere, die nichts bedeutete, sie erschöpft und leer zurückließe. Und sie wusste, dass das perfekte Kind durchaus in der Lage war, sie in den Wahnsinn zu treiben.
Das war nicht ihre Welt, nie gewesen. Und so war auch die Schule nie ihre Welt gewesen, die Zukunft nicht für sie, das Leben ein Leben, das sie nicht führte.


Alice blickte sich in dem engen, dunklen Gang um, der weder einladend wirkte, noch darauf schließen ließ, dass er zu einem Ort führte, der auch nur annähernd als das passende Umfeld einer Festivität wie der geplanten durchging.
Als Alice in den Raum trat, lüftete sich das Geheimnis, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Denn zu ihrem Erstaunen erkannte Alice, dass der ebenso dunkle, als auch enge Raum, in den sie gelangte, definitiv nicht zu weitläufig bemessen war für die geringe Anzahl an Besuchern, die sich in den provisorisch aufgebauten Sitzgelegenheiten lümmelten.
Alice fühlte sich einmal mehr zurückversetzt in ihre Jugendzeit, als sie die Polster und Matratzen erkannte, die ähnlich einer lockeren Party-Ausstattung locker an die Wände stießen.
„Alice!“ Die Angesprochene drehte sich um und erkannte Birgit, die ihr eifrig zuwinkte. Sie nickte pflichtschuldig, fragte sich einmal mehr, warum dieses Mädchen… diese Frau… korrigierte sie sich, einen derartigen Narren an ihr gefressen hatte. Seit zwanzig Jahren waren sie sich nicht mehr begegnet, und doch erschien ihr die Frau um keinen Tag gealtert, zudem enthusiastischer denn je zuvor.
Die kleine Brille mit den runden Gläsern wippte auf ihre Nasenspitze, als sie zu Alice hinüberlief. Nicht einmal ihre Kleidung hatte sich geändert, doch mit einem kurzen Blick auf ihren Rock entschied Alice sich in Erwägung zu ziehen, dass auch bei der anderen nostalgische Gründe den Ausschlag gegeben haben konnten.
„Ist ja toll, dass du gekommen bist“, platzte Birgit heraus. „Das waren noch Zeiten damals, nicht wahr. Wir haben uns ja…“ Sie runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, räusperte sich dann. „Wir haben uns wohl nur einmal gesehen seit damals.“
Alice senkte den Blick und versuchte ein Erröten zu vermeiden. Es war keiner ihrer besten Momente gewesen, in dem Birgit ihr damals über den Weg gelaufen war, sie mit der ihr eigenen Direktheit und der positiven Erwartungshaltung, die sie jedem gegenüber stets zur Schau trug, nach ihrem Werdegang befragt hatte.
Alice war ehrlich gewesen, wenngleich vielleicht sogar negativer, als sie sich selbst gefühlt hatte. Andererseits, ausgestattet mit dem ausreichenden Pegel Alkohols im Blut kam einem die eigene Lage nie so übel vor, wie sie anderen gegenüber vielleicht erschien.
Birgits Augen hatten sich geweitet, und doch bemerkte Alice den inneren Schritt, den diese zurückwich, auch wenn ihr Körper diesen nicht in die Tat umsetzte.
„Wie tief kann frau sinken?“, hatte Alice mehr im Spaß gemurmelt, und doch von Birgit nichts als den Versuch einer Ermunterung erhalten.
Umso erstaunlicher, dass die andere ihr so freimütig gegenübertrat, und ohne zu zögern einen Kontakt wieder aufnahm, den Alice für endgültig abgebrochen gehalten hatte, ebenso wie alle anderen Kontakte aus dieser Zeit, an die sie sich noch erinnerte.
„Schön, dich zu sehen“, wiederholte Birgit erneut und strahlte über ihr freundliches Gesicht.
„Ist auch schön, dich zu sehen“, erwiderte Alice wärmer als sie sich verpflichtet fühlen wollte, konnte jedoch nicht umhin ihre Aufmerksamkeit von der anderen weg und auf die übrigen Gäste zu richten.
Und wie Alice zu ihrem Schrecken, ebenso wie zu ihrer Erleichterung erkennen konnte, blieben ihr die Gestalten, die sich auf den unüblichen und definitiv kaum altersgemäßen Sitzgelegenheiten tummelten, fremd. Weitestgehend fremd. Hin und wieder sprang sie eine Erinnerung an, jedoch verschwommen genug und ohne Bezug zu einem Wort, geschweige denn einem Namen, als dass Alice diese ernst nehmen konnte.
Bis sie ihn sah, Helmut. Ihr Sitznachbar über lange Jahre hinweg, ihr Freund. Und ebenso wie Birgit hatte auch er sich kaum verändert. Selbst wenn es unter dem dämmrigen Licht schwer auszumachen war, so konnte Alice doch weder graue Strähnen noch schwindenden Haarwuchs ausfindig machen.
Selbst der Drei-Tage-Bart, den er während seiner Schulzeit gewohnt gewesen war zu tragen, war geblieben. Ebenso wie seine Lässigkeit. Die langen Glieder beiläufig ausgestreckt, lehnte er gegen die Wand, vertieft in genau der Art von Scherzen aus einer anderen Zeit, an die Alice sich weigerte zu denken. Die Frauen neben ihm lachten, und Alice wand sich ab. Jedoch nur für einen Moment. Unsichtbare Fäden zogen sie zurück zu ihm, zu der Betrachtung seines Verhaltens, seiner Bewegungen, seinem Wesen, das sich in zwanzig Jahren nicht um einen Deut geändert hatte.
Und dann erblickte er sie, erkannte sie, lächelte. Alice starrte zurück, als Helmut ihr winkte, und mit wenigen, für Alice unverständlichen Bemerkungen zu seinen Sitznachbarn einen Platz für sie freischaufelte.
„Hallo.“ Ihre Stimme klang belegt und sie verfluchte sich für das Zittern in ihren Knien, über das sie sich seit Jahrzehnten erhaben geglaubt hatte.
Er nickte und reichte ihr seine Hand um sie neben sich zu ziehen. Und Alice fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als eine Berührung ihr Herz zum Flattern gebracht hatte.
Unsicher tappte sie vorwärts, ließ sich dankbar auf die Kissen sinken, zog ihre Beine an, wurde sich des ungewohnten Gefühls bewusst, dass sie einen Rock trug, dass sie ihre Beine schließen und nicht jeden Blick erlauben sollte.
„Wie geht es?“, fragte er kurz, und lächelte bereits jemanden an, der hinter ihrer Schulter auftauchte.
Alice nickte, wusste, dass Worte nicht notwendig waren, dass diese vermutlich nicht einmal wahrgenommen wurden, so wie ihre Worte selten wahrgenommen worden waren. Nicht, wenn es darauf ankam. Nicht von ihm.
Neben ihm, leise und unbeweglich, stumm lächelnd fühlte Alice sich einmal mehr zurückversetzt, zurückversetzt in ihren Albtraum, in die Zeit, das Leben, das sie überwunden, hinter sich gelassen hatte.
Sie wollte nicht, konnte nicht noch einmal dorthin. Und gleichzeitig stiegen Blasen der Albernheit in ihr auf, tanzten durch ihr Blut, erreichten ihren Kopf und erweckten in ihr das Bedürfnis zu kichern, nein, zu lachen, sich lustig zu machen über alles dies. Über die lächerliche Ansammlung mittelalterlicher Gestalten, die versuchten ihre Jugend zurückzuholen, oder – und bei weitem schlimmer – die versuchten, sich selbst und ihr Leben zu erhöhen, indem sie darauf warteten, dass andere sie bewunderten, mit leeren und bedeutungslosen Floskeln die Anstrengungen anerkannten, mit denen sie die vergangenen Jahre verbracht hatten.
Nicht notwendig. Dies war nicht notwendig. Alice brauchte das nicht, brauchte sie nicht. Sie wusste genug über sich, über ihr Leben, über die Wahrheit, um zu sehen, dass sie weiter war, als all diese Menschen, mit denen sie einst ein Klassenzimmer geteilt hatte, die Angst vor den Prüfungen, die Unsicherheit im Hinblick auf das was geschehen würde.
Kinder einer Zeit, die noch die unmittelbaren Folgen des Atomkrieges gefürchtet, die noch geglaubt hatten, dass sich die Ungerechtigkeit und der Hunger in der Weld bekämpfen ließ. Kinder für die Aids ein unbekannte Größe und der Klimawandel noch kein Begriff war.
Alice schüttelte den Kopf. Es war nicht leichter gewesen, aber vielleicht auch nicht schwerer.
Sie fand sich wieder mit den Fotos in der Hand, die sie bei sich trug. Zur Vorsicht, falls ihr die Gesprächsthemen ausgingen, falls sie selbst eine Erinnerung daran benötigte, dass es noch eine Welt außerhalb eines Klassentreffens gab, außerhalb von Erinnerung und Selbstdarstellung.
Und sie sah, dass er sie bemerkte, dass Helmuts Blicke wie von ungefähr über die Fotos wanderten, über die Savannen Afrikas, über das Elend in den Dörfern und über ihren Sohn, dessen dunkles Gesicht leuchtete in der strahlenden Sonne des Nachmittags. So viele Gesichter, so wenig zu sehen. So viel zu erklären, so wenig Gelegenheit. So wenig Interesse. Interesse ihrerseits.
Alice schüttelte den Kopf, suchte ihre Bilder zusammen. Und in diesem Moment zog Helmut sie hoch, beiläufig, und im Bestreben die Plätze zu wechseln, dem Wink der Clique nachzukommen, die sich in der gegenüberliegenden Ecke verschanzt hatte.
Und Alice hielt sich fest, hielt mit einer Hand Helmuts, mit der anderen ihre Fotos. Vielleicht ein wenig zu fest. Vielleicht ein wenig zu bestrebt, dem Mann zu folgen. Beinahe fühlte sie, wie sich Helmuts Muskeln anspannten. Glaubte zu spüren, wie dieser mit dem Gedanken rang, die unliebsame Gesellschaft, die ihm bereitwillig zu folgen schien, abzuschütteln.
Und wieder lächelte sie, folgte ihm, schmiegte sie an ihn, ein wenig zu nahe, ein wenig zu aufdringlich, bevor sie sich an ihm vorbeidrängte.
Alice nickte Birgit ein letztes Mal zu, die irritiert zu ihr aufsah, und lief beinahe leichtfüßig in Richtung Ausgang. Das hier brauchte sie nicht. Es war vorbei und vergessen. Und so war es gut. Richtig gut.

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