Montag, 24. August 2009

Seele

Titel: Seele
Autor: callisto24
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Seele


Die Frau zweifelte nicht zum ersten Mal an sich selbst. Der Zweifel war seit jeher ihr ständiger Begleiter. Sie erkannte ihn, sobald auch nur sein Schatten an ihr vorbeihuschte, entfernt und verstohlen, als sollte sie ihn nicht wahrnehmen, als wolle er sich vor ihr verbergen.
Die Frau begrüßte den Zweifel wie einen Freund. Er half ihr, regte sie an, entlockte ihr Geheimnisse, von denen sie nicht wusste, dass sie diese in sich trug. Denn hinter allem, was sie tat, was sie empfand, was sie dachte, standen Geheimnisse, und es blieb ihre Aufgabe diese aufzudecken und zu enthüllen, was in den finsteren Abgründen ihrer Seele schlummerte.
Wer war sie, und wichtiger noch: wollte sie dies auch wirklich wissen? Die Antwort blieb nicht selten aus, wurde fortgeschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Der Mensch war nicht gezwungen alles zu erkennen, konnte nicht in jeden Abgrund steigen, der sich vor ihm auftat.
Nichts und niemand in ihrem Leben hatte ihr je die Frage beantworten können, die eine Frage. Die Frage, auf die es ankam. Und die Chancen standen gut, dass die Antwort nicht existierte, für keinen Menschen auf dieser Welt. Sie war gezwungen, wie jeder andere zu stückeln, kleine Offenbarungen zu sammeln und zusammen zu puzzeln in der Hoffnung, dass sich der Hauch einer Erkenntnis eines Tages vor ihren Augen entfaltete. Denn winzige Erleuchtungen blitzten von Zeit zu Zeit wie Leuchtfeuer vor ihr auf, und wenn sie nach ihnen greifen konnte, bevor sie wieder verschwanden, so blieben diese wie Lichter, die in ihrem Herzen brannten.
Lichter, die sie selbst zeigten, so wie sie wirklich war. Die das Verborgene in ihr an den Tag brachten, so seltsam und so unglaublich ihr dieses im ersten Moment auch erscheinen mochte.
Sie trug all diese Persönlichkeiten in sich, all die Charakterzüge, all die widerstreitenden, sich gar widersprechenden Wesen, die ihr manchmal nicht nur unangenehm, sondern direkt zuwider waren. Es hatte lange gedauert, bis ihr klar geworden war, dass jedes dieser Wesen einen Teil von ihr selbst darstellte, einen manchmal verschütteten, doch stets wahrhaftigen Teil dessen, was andere ihre Seele nannten. Und es gab derer mehr. Unentdeckt schliefen sie ihn ihr. Aufgeweckt durch einen leisen Atemzug oder aufgeschreckt mit Hilfe einer gewaltigen Explosion zeigten sie ihr Gesicht. Manches Mal mit angeberischem Gehabe und manchmal verschämt. Manches Mal wich sie vor diesem Gesicht zurück, verleugnete seine Züge. Und manches Mal dauerte es nur, bis sie seine wahren Inhalte erkannte. Dann brauchte sie Zeit, um darüber nachzudenken, um sich dieselben Fragen wieder und wieder zu stellen, bis sie zu einem Ergebnis gelangte, mit dem es sich anzufreunden lohnte.
So war es damals gewesen, als ihr zum ersten Mal die Augen geöffnet wurden. Damals, als sie feststellte, dass die Bilder, die ihr Herz höher schlagen ließen, nur ein Spiegelbild ihrer Seele waren. Eines der unzähligen Spiegelbilder, die facettengleich eine Unbekannte formten, die sie jeden Tag von Neuem kennenlernte.
Natürlich gab es auch zuvor Gestalten und Formen in ihrem Leben, die ihr halfen, die Schmetterlinge in ihrem Bauch loszulassen, bis sie mit sanftem Kribbeln das Glück hervor kitzelten, das vielleicht nur Bruchteile von Sekunden dauerte. Doch dessen Nachwirkungen im Besten aller Fälle Jahre anhalten konnten, ihr über diese langen Jahre halfen, und ihrem Leben den Hauch an fehlender Würze verliehen, ohne den es nicht lebenswert war.
Sie hatte sie kennengelernt, die nostalgischen Spiegel, die einen Verlust ausglichen, an den sie sich niemals gewöhnen konnte. Die zukunftsweisenden Blitze, die von dem sprachen, was sie sich erhoffte, oder nicht bewusst wagte zu erhoffen.
Und die vagen Bilder einer schwebenden Vorstellung, die weder zu greifen, noch zu deuten war. Damals noch nicht.
Es hatte lange gedauert, doch nun wusste sie es, kannte den Auslöser, der ihre Wahl bestimmte. Oder die Auslöser, die sich abwechselten, die manchmal rasch auf rasch folgten, unbeständig und wenig dauerhaft wie die Schmetterlinge, die sie anzurühren vermochten.
Ein hübsch geschnittenes Gesicht reichte aus, eine glänzende Haarsträhne, die keck in die Stirn fiel. Eine Träne im Augenwinkel oder ein dunkles Geheimnis, das zu ertragen, die Figur, um die es ging, nicht mehr in der Lage war.
Die Frau liebte das Leid. Das Leid, das ihr Schönheit bescherte, das ihre Gedanken in Gang setzte, ihre Phantasie entzündete, bis sie sich von den Zwängen und Bändern der irdischen Existenz lösten, Neues erschufen. Mit viel Glück Neues, das für die kurzen, kribbelnden Momente sorgte, um die es ging.
Doch als sie sich veränderte, wuchs die Irritation. Irritation aufgrund der zufälligen, wenngleich nicht völlig zufälligen Auswahl des Gegenstandes ihrer Konzentration.
Zum ersten Mal sah sie nicht mehr sich im Spiegel. Sie sah nichts, das sie an ihr eigenes Wesen, so wie sie es einschätzte erinnerte. Und nichts, das sie bereit war zu sehen. Keine Erinnerungen, keine Hoffnungen. Weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern grobe, schlichte Wahrheit. Unfreundliche Wahrheit. Nichts, das sie sehen wollte. Denn ihre Gedanken wurden gefesselt von den Äußerlichkeiten, die sie stets verabscheut hatte. Von Gewalt, Wahnsinn und Brutalität. Von Rücksichtslosigkeit und fragwürdiger Moral. Überaus fragwürdiger Moral.
Dieser ins Auge zu sehen, gelang ihr nicht, wollte nicht gelingen, so sehr sie es auch versuchte. Bis sie erkannte und akzeptierte, dass auch was sie ablehnte, zu ihr gehörte, ein Teil ihres Inneren war, ein Teil des Wesens, das sie ausmachte. Und dass es ein Zeichen war, ein Hinweis auf lange Begrabenes, das sie unbewusst verfolgte, beeinflusste, in falsche Richtungen trieb. Bis sie es an der Zeit fand auch diesen Teil ihrer Selbst zu umarmen. Bis sie erkannte, was tief in ihr steckte, und was danach schrie ins Freie zu gelangen.
Es gelangte ins Freie, er gelangte ins Freie, der Teil von ihr, der seine Ungeduld nicht zügeln konnte, der in der Wut die Lösung erkannte, in der Aggressivität eine Tugend, einen Auslöser, Dinge zu bewegen. Ein Leben lang ausgebremste Energie brannte darauf ans Licht zu gelangen. Falsche Ziele, erzwungene Geduld, quälendes Büßertum gehörten der Vergangenheit an. Der Vulkan war entfesselt, zumindest in der Theorie. Vielleicht befand er sich auch nur im Prozess des Ausbruchs, aber es half, befreite, wies einen Weg.
Bis es zu Ende war. Bis die Flatterhaftigkeit ihrer Vorlieben die Konzentration schrumpfen ließ, und weiter schrumpfte, bis sie verschwand. Und sie glaubte ernsthaft, dass sie ihn nicht mehr brauchte, diesen Spiegel, sobald sein Bild freigesetzt war, seine Bedeutung erkannt, nicht mehr vonnöten war.
Und so wanderte sie zum nächsten Spiegel. Und zum nächsten. Kurze Flammen, die rasch wieder erloschen, und die sie verwirrter zurückließen, als sie je zuvor gewesen war.
Da flackerte der Gedanke des Fliegens in ihr auf, der Wunsch nach Befreiung oder nach einer starken Hand, der es gelang, sie von Zwängen zu erlösen, in die Lüfte zu erheben.
Oder der Charakter des Zwielichts, der Unsicherheit, die darauf hoffen ließ, dass die richtige Seite gewählt, den Gefühlen nachgegeben, Emotionen ausreichend Bedeutung eingeräumt wurden. Eine Gradwanderung, die doch trotz des unsicheren Balanceaktes auf der Kante der moralischen Integrität, hin und her gerissen wurde zwischen schmeichlerischer Versuchung, attraktiver Schale, verlockender Süßigkeiten und der Liebe, die zur Integrität wies oder zur bedingungslosen Hingabe an das Gute.
Sie mochte es nicht. So wollte sie nicht sein. Sie suchte den Abgrund, das moralisch Verwerfliche, den Zweifel, der sie über Jahre umgetrieben hatte. Doch die Verlockung, die ihr Spiegelbild in seinen Bann riss, zog auch sie an. Gefangen von Äußerlichkeiten, von Schönheit und offen gezeigter Zuneigung, verlor sie sich in der Vorstellung einer Perfektion, die keine war. Denn trotz aller Illusionen erkannte sie das Dilemma, auf das sie zusteuerte. Es war die zweite Hälfte des Bildes, das noch kein Ganzes ergab, und sich doch von Sekunde zu Sekunde emanzipierte. Und sie verstand nicht warum. Sie verstand nicht, was es war.
Die Optik half, die kleinen Schwächen halfen. Die Freundschaft half. Doch im Weg standen Jugend, standen Scham und eine Einschätzung, die kindliches Verhalten und Naivität als Entschuldigung für vage Sorgen wertete. Womit sie einst gekämpft hatte, mit dem moralischen Dilemma, kämpfte sie nun wieder. Doch diesmal hatte es seinen Weg aus der fiktiven in die reale Welt gefunden, wodurch es schwerer wog, schwerer als sie mit ihren neu erworbenen Erkenntnissen für möglich gehalten hatte. Denn immer noch hing sie, klammerte sie sich an die Ideale, die ihr in die Wege gelegt, die ihr vorgebetet worden waren, und die sie verinnerlicht hatte bis zur Grenze der Selbstzerstörung.
Was hatte es zu bedeuten, wenn sie jetzt an diesen Idealen rüttelte, die sie niemals ins Schwanken bringen wollte? Was hatte es zu bedeuten, dass sie unbewusst nach Akzeptanz in sich selbst suchte. Nach Akzeptanz einer nicht zu akzeptierenden Facette der ohnehin bereits auf schwachen Füßen stehenden Leidenschaft. Jedesmal, wenn sie mit der Nase darauf stieß, erzitterte die Frau innerlich. Übelkeit stieg in ihr auf, tötete die Schmetterlinge, die kaum noch wagten, an die Oberfläche zu gelangen.
Doch es steckte noch mehr dahinter. Was sie zuvor verstanden und für bare Münze gewähnt hatte, entzog sich ihrem Griff in mehr als einer Hinsicht. Die Anziehungskraft erreichte eine neue Ebene, eine andere, eine, die sie nicht verstand und sich nicht erklären konnte.
Und diese wurde genau in dem Moment erreicht, in dem sich zu dem Bild noch eine weitere Facette gesellte, eine sündhafte, geheime Komponente, die sie zwang, Stillschweigen über diese zu bewahren.
Obwohl die Sünde, die sie selbst fürchtete, nicht existierte. Sie war nicht notwendig, und sie fehlte nicht. Alles war anders in dieser Welt des Fiktiven, alles leichter und liebevoller. Keine Gewalt, keine Brutalität, keine Zwänge denen es zu entfliehen galt. Stattdessen nur die frei tänzelnden Phantasien, die sich miteinander verwoben, in zarte Gebilde verwandelten, deren Helligkeit über allem anderen schwebte.
Kleine, schwache und doch so raffinierte Anstöße hielten das Gebilde in Bewegung, hielten sie in Schwung und die Schmetterlinge am Tanzen. Ein vollkommen unerwarteter Effekt, flatterten die unzähligen Flügel in ihrem Inneren doch über ungewohnte Ländereien. Ländereien, die nicht Spielball des animalischen Urtriebes waren, den sie bislang verantwortlich gezeichnet hatte. Eine Spielwiese, die sich loslöste und neue Pfade ging. Auf der sie sich rollte und Purzelbäume schlug, in vager, ungewisser Unschuld. Denn dass dort etwas lauerte, bezweifelte sie nie.
Etwas Drohendes, Dunkles, das in sich zu akzeptieren sie nicht bereit war. Nicht mit dem Bild, das sie von sich selbst malte, nicht nach allem, was sie vor sich selbst zugegeben und gestanden hatte.
Es konnte nicht der Wunsch nach Kindheit sein, oder die Sehnsucht nach einer Jugend, die über der glatten Oberfläche des tiefschwarzen Sees glitzerte. Sie wusste, was sie nicht wollte. Und sie war sich sicher, dass sie dies nicht wollte, nicht wollen durfte.
Denn vielleicht war es zu schmerzhaft die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht wünschte sie sich zurück in eine Zeit, in die eine Geschichte wie diese gepasst hatte. Vielleicht spielte die unbewusst und doch unabänderlich ablaufende Parallele ihres Lebens eine Rolle, die sich nicht mehr leugnen ließ. Vielleicht sah sie diesmal nicht sich, sondern jemand anderen. Vielleicht verlief die Identifikation mit einem gänzlichen unerwarteten Charakter. Vielleicht wünschte sie sich bedingungslose Liebe, die zurückzuweisen ihr offen stand.
Vielleicht brach auch nur ihr Herz im Angesicht der dunklen Stunden, die sie vor ihrem inneren Auge sah, die sie nicht wagte zu erforschen, und die doch ständig präsent waren.
Sie wusste, was sie nicht wollte. Doch was sie wollte, wusste sie nicht.
Wollte sie ihn? Dass er sie umarmte, an sich zog und liebkoste? Wollte sie Seelenverwandtschaft, Unfertiges und die Rückkehr in eine Welt, die sie nie gekannt hatte?
Oder wollte sie nur ihn, nur den Körper, nur das Haar, nur die Augen. Wollte sie getragen und gehoben werden, von ihm? Von einem Jungen, der so gar nicht zu ihr passte, der so anders, so vollkommen anders, so unmöglich zu erreichen war?
Wollte sie ihn, gerade wegen der Frage der Moral. Gerade weil sie an ihm zweifelte und an seinen Motiven? Wollte sie ihn, weil er den Gegenpol darstellte, eine vollkommen andere Auffassung, eine Kindlichkeit, der sie entwachsen war und die sie ablehnte, wenngleich Kindlichkeit doch zu ihrem Wesen gehörte?
Wollte sie ihn, obwohl sie ihm widersprach? Obwohl dieser Streitpunkt existierte, diese naive Aggressivität, die ihr widersprach. Diese Dummheit. Vielleicht wünschte sie von dieser Dummheit zu kosten, von diesem puren, gedankenlosen Idealismus. Sich diesem hinzugeben, die Zweifel beiseite zu werfen, und frei von Schuld ihm die Liebe zu geben, die sie niemandem gab. Nicht wirklich. Die sie aufsparte, die sie nie erwartete, weiterzugeben. Die sie nie erwartet hatte, in die Realität umzusetzen.
So unvorstellbar, so unverständlich es sein mochte, vielleicht lag dort der Haken. Sie fürchtete ihn nicht. Er war zu jung, um ihn zu fürchten. Zu bedürftig, als dass sie ihm anderes bieten konnte als Schutz und Trost. So klein, und doch so dunkel, so schwermütig und traurig. Sich selbst sehnend nach der Liebe. Doch nicht nach ihrer, das wusste sie.
Verboten – und doch existent. Vielleicht erkannte sie es, wenn die Schmetterlinge sie verließen, den Käfig verließen, in dem sie ihre flatterhaften Gefühle bewahrte.
Und es funktionierte wirklich. Sie wollte ihn, mit all seinen Unzulänglichkeiten, Fehlern. Trotz und entgegen aller Widerstände, die sich vor ihr auftürmten, wollte sie ihn. Wollte ihn für sich. Seine Arme, seine Lippen, seine Haut auf ihrer. Wollte ihn ganz und gar. Und indem sie es zugab, flog ihre Seele in den Himmel.

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