Donnerstag, 16. Juli 2009

Asche

Titel: Asche
Autor: callisto24



Die Reise fiel kürzer aus, als sie es erwartete. Von vier Tagen war die Rede gewesen, als ihre Mutter bereits nach zwei Tagen zum Aufbruch rief. Kaum hatten sie sich eingerichtet, schon hieß es wieder zusammenpacken.
Und wenn Hilda sich einrichtete, dann tat sie es gründlich.
Sie schaffte es, jede Ecke, jedes Möbelstück, jedes Fleckchen des Hotelteppichs der Suite mit ihrer eigenen Note zu versehen. Und mit der ihrer Tochter. Denn natürlich war es das Kind, dessen Anwesenheit einen Großteil der Spuren hinterließ.
Was hatte sie nicht alles mitgenommen, nur damit in der Kleinen keine Sekunde der Langeweile aufkam. Ein fruchtloses Unterfangen, wie sie sehr wohl wusste, wenn auch keineswegs daraus lernte.
Denn die Hoffnung stirbt nie, am allerwenigsten die Hoffnung auf ein zufriedengestelltes Kind.
Natürlich war es für die Katz gewesen. Natürlich hatte Samantha sich keinen Deut für die zahllosen mitgeschleiften Utensilien interessiert. Natürlich wusste das Kind von jeher sich besser zu beschäftigen, als mit bunten Plastikspielereien, die vielleicht für einen Moment das Auge ablenkten, doch keinen anderen nachhaltigen Wert besaßen, außer dem Bewusstsein, dass die Substanz, aus der sie geschaffen waren, die Jahrhunderte überdauerten, unabhängig davon wie malträtiert, wie hässlich und wie verkommen sie in einer Ecke dahinvegetierten.

Ebenso wie die Kleidung, die das Kind benötigte, die jedes Kind benötigte.
Kunstfasern, die die Macht der Elemente abhalten, das zarte Wesen vor jedem Tropfen des Regens, vor jedem Windstoß schützten, und die doch unzerstörbar schienen, im Fluss der Zeiten.

Und trotzdem trug Hilda all diese unnötigen und zugleich notwendigen Nichtigkeiten mit sich herum. Obwohl sie sich mehr als bewusst war, wie gegenstandslos ihre Bemühungen letztendlich sein sollten.

Ob sie auf Busreisen kilometerweite Umwege machte, hinter den anderen Teilnehmern mit ihrer Last hinterher hinkte, ob sie es wahrlich besser wusste –sie konnte nicht anders. Sie musste all diese Dinge mit sich tragen, ob dies nun einen Sinn ergab oder auch nicht.

Nicht für sich, niemals für sich, sondern für ihre Tochter.

Ebenso wie sie für ihre Mutter das Kommando zum Aufbruch als gegebene Tatsache annahm. Wenn diese es sagte, so ließ sich an der Endgültigkeit der Entscheidung nicht rütteln. Hilda selbst konnte sich irren, ihre Mutter nie.

Und so kniete sie auf dem Boden der Suite und suchte verzweifelt die bunten Plastiksteine zusammen, beförderte diese wahllos und hastig in Taschen und Tüten. Sie krabbelte weiter zu den Schränken, deren Inhalt ihr bedrohlich entgegen gähnte, sobald sie deren Türen öffnete. Wann hatte sie all diese Kleider hineingehängt? Wann hatte sie sich die Zeit genommen, in jedes Regal feinsäuberlich Spielzeuge, Bücher und Hörspiele verschiedener Farben, Formen und Größen einzuordnen?
Es spielte keine Rollen mehr, jetzt, wo sie dabei war, die Regale in Eile zu leeren. Sie benutzte beide Hände als Schaufeln und grub im Inneren der Möbelstücke, grub das Innerste hervor, beförderte die ärgerlichen Eingeweide ans Licht.
Welch eine Verschwendung von Raum. Welch eine Verschwendung von Muskelkraft!
Hilda schleifte Plastiksäcke gefüllt mit Sinnlosigkeit durch die Flure und Gänge des Hotels. Schwer und voll glitten sie über die Teppichböden, blieben an Ecken, Schwellen und Kanten hängen. Sie rissen auf, erlaubte schüchterne Blicke auf ihr buntes Innenleben, vergrößerten Hildas Sorge. Denn sie litt wider ihres besseren Wissens unter der nagenden Furcht, einen wichtigen Teil, auch nur einen winzigen jedoch unglaublich bedeutenden Aspekt ihrer Last zu verlieren. Diesen zu vergessen inmitten der lächerlich luxuriösen Einrichtung der Suite oder davor, dass ihr dieser auf der Flucht aus dieser Luxusfalle entglitt.
Nichts half, nichts machte es besser. Berge und abermals Berge von Gegenständen türmten sich auf, kletterten zur Decke empor, belagerten die Bushaltestelle, an der zu warten sie gezwungen waren. Unter glühender Sonne, ausgesetzt der Strahlung und ohne Schutz und Schatten.
Und in diesem Augenblick erkannte ihre Mutter die Wahrheit. In diesem Augenblick gab sie die Wahrheit bekannt, betreten, schockiert und doch mit diesem kleinen Lachen, das ihnen allen zeigen sollte, wie unwichtig, wie nichtig geringe Irrtümer wie dieser im Großen und Ganzen des Universums wirkten.

Es waren doch vier Tage gewesen. Hilda hatte sich nicht geirrt. Ihre unfehlbare Mutter war es, die irrte.
Samantha weinte. Und Hilda erkannte, dass ihr Mädchen nicht aufgrund des Irrtums weinte, nicht aufgrund der Enttäuschung einer ausstehenden Reise. Doch das Mädchen lachte auch nicht, freute sich nicht über den plötzlich geschenkten Zuwachs an Urlaubstagen.
Es spürte, dass in Hilde eine Wut aufstieg, die sie in ihrer Mutter niemals zuvor wahrgenommen hatte. Das Kind fühlte besser als Hildas Mutter, besser als sie selbst es tat, das mit einer Ankunft ein Abschied in Reichweite stand.
Endlich war in Hilde etwas angekommen, eine Erkenntnis, ein Durchblick, ein Zeichen für die Veränderung zum Besseren.
Hilde warf ihren Kopf in den Nacken und lachte schrill. Nie wieder. Nie wieder würde sie diese Berge mit sich schleppen, Gewichte von A nach B tragen unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte, unter Bloßlegung ihrer empfindlichen Nervenstränge.
Hilde kreischte auf, riss ihre Arme in die Luft.
Die Mutter wich zurück, schob das Kind vor sich her und floh, als Hilde die Entscheidung traf.
Sie würde es zerstören, alles Unnötige irreparabel vernichten. Nichts mehr sollte davon übrig bleiben. Nichts, dass ihre Gedanken, ihre Gefühle oder ihre Sinne belastete, ihr Pflichten auferlegte, die sie verabscheute, die niemandem weiterhalfen.
Zu Asche brennen würde sie alles, was vorgab unerlässlich zu sein. Alles was ihr erzählen wollte, dass die Anhäufung von Müll unumgänglich sein, dass ein Kind, eine Familie benötigte, was ein Mensch alleine nicht annähernd zu benötigen glaubte.
Die Raffgier, der Wahn Gegenstände zu horten und mit sich zu führen, die nicht vergänglich waren, die weder ihren Rückweg in den Kreislauf der Natur fänden, noch notwendig zeigten für das pure, einfache Überleben, sollte in einer wilden Stichflamme zum Himmel schreien.

Ein Ende der Macht des Konsums, der Anhäufung und dem Mitschleppen von Nichtigkeiten sollte gefeiert werden in einer mächtigen Explosion.
Plastik schmolz, Gegenstände schossen in die Höhe, sandten Stichflammen aus, die in weiten Kreisen um die Anwesenden rasten, Mahnung spielten für jeden Fehl, der die Welt heimsuchte.
Hilda lachte irre.
Asche, nichts als Asche sollte übrig bleiben von allem, was ihr so unerlässlich schien. Asche, nichts als Asche sollte übrig bleiben von der Unsinnigkeit ihrer eigenen Existenz.

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